Montag, 4. November 2024
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21. Oktober: Fünfundsiebzig Jahre „Optionsabkommen“

Für Tirol ist von den historischen Erinnerungsdaten dieses Jahres – neben dem Beginn des Ersten Weltkriegs vor einem Jahrhundert, an dessen Ende die waffenstillstandswidrige Annexion des südlichen Landesteils durch Italien 1918 und dessen friedensvertragliche Übereignung an den Stiefelstaat im Jahr darauf stand – besonders unterm Brenner ein zweiter, ebenso schmerzlicher Jahrestag zu „bewältigen“: der 21. Oktober.

[[image1]]An diesem Tag vor einem Dreivierteljahrhundert gab der nationalsozialistische deutsche „Führer“ Adolf Hitler seinem faschistischen italienischen Pendant, dem „Duce“ Benito Mussolini, Südtirol preis. Mit dem damals zwischen Berlin und Rom in Kraft getretenen „Optionsabkommen“ sollte gewährleistet werden, was nach der faschistischen Machtübernahme in Italien 1922 zwischen Brenner und Salurner Klause sowie zwischen Reschen-Pass und Dolomitenstock trotz brutaler Entnationalisierungspolitik nicht erreicht worden war, nämlich die „ewige Italianità“ dieses Landstrichs. Für dessen Erwerb hatten chauvinistische Irredentisten gemäß der seit Mitte des 19. Jahrhunderts propagierten „Wasserscheiden-Theorie“ unablässig gefochten, und für dessen Einverleibung wechselte Italien 1915 die Seite und trat – gemäß dem Motto „Sacro egoismo“ – gegen den aus Deutschem Reich und Österreich-Ungarn bestehenden Zweibund, mit dem es ehedem im „Dreibund“ verbündet war,  in den Krieg ein.

Schon in einer seiner weniger bekannten Schriften aus der „Kampfzeit“ – „Die Südtiroler Frage und das Deutsche Bündnisproblem“ (erschienen 1926 in München im NSDAP-Parteiverlag F. Eher) – hatte der „böhmische Gefreite“ Hitler zu erkennen gegeben, dass er die Südtiroler als ein Hindernis auf dem Weg zur Annäherung an den späteren Achsenpartner betrachtete.  Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938, womit die Wehrmacht am Brenner stand, zerstreute Hitler anlässlich seines Staatsbesuchs  italienische Befürchtungen, nunmehr könnte eine Rückgliederung Südtirols bevorstehen, indem er am 7. Mai 1938 in Rom erklärte: „Es ist mein unerschütterlicher Wille und mein Vermächtnis an das deutsche Volk, dass es die von der Natur uns beiden aufgerichtete Alpengrenze immer als eine unantastbare ansieht.“ Diese Erklärung fand in dem am 22. Mai 1939  in Berlin im Beisein Hitlers von den Außenministern Joachim von Ribbentrop und Galeazzo Graf Ciano (Schwiegersohn Mussolinis) unterzeichneten „Stahlpakt“ ihre Bekräftigung.  Denn in der Präambel dieses politisch-militärischen Bündnisses zwischen dem Deutschen Reich und Italien hieß, dass mit den „für immer festgeschriebenen gemeinsamen Grenzen die sichere Grundlage für gegenseitige Hilfe und Unterstützung gegeben“ sei. Und um die in diesem Abkommen genannte „ewige Grenze“ auch „volkstumspolitisch“ zu untermauern, handelten besagter Graf Ciano und Reichsführer-SS Heinrich Himmler unter strikter Geheimhaltung das Optionsabkommen aus.

Verpflichtung zur Aussiedlung

Es sah vor, dass sich Deutschsüdtiroler und Ladiner in der Provinz Alto Adige („Hochetsch“) sowie jene des zur Provinz Trient gehörenden Südtiroler Unterlandes, aber auch die Bewohner des bis 1918 zu Kärnten gehörenden Kanaltals – es erstreckt sich vom heutigen Grenzübergang Thörl-Maglern/Arnoldstein über Tarvis/Tarvisio bis Pontafel/Pontebba – sowie des Fersentals und Luserns (deutsche Sprachinseln im Trentino) für Italien oder für das Deutsche Reich zu entscheiden hatten. „Optierten“ sie bis zum 31. Dezember 1939 für die deutsche Staatsbürgerschaft, so war damit die Verpflichtung zur Aussiedlung verbunden. Entschieden sie sich für die Beibehaltung der italienischen, somit den Verbleib in der angestammten Heimat, so taten sie dies freilich in der Gewissheit, keinen Schutz mehr für ihre Volksgruppe in Anspruch nehmen zu können.

Schon im Juni 1939 war der Inhalt des schändlichen Abkommens in Südtirol bekannt geworden. Daraufhin traten Vertreter des (der Kirche nahestehenden) „Deutschen Verbandes“ (DV) wie Repräsentanten des (NS-nahen) „Völkischen Kampfrings Südtirols“(VKS), die sich im Bozner Marien-Internat bei Kanonikus Michael Gamper zu einer Beratung getroffen hatten, einhellig dafür ein,  geschlossen für den Verbleib in der Heimat zu stimmen. Am 1. August 1939 wurde im Verlautbarungsblatt der Staatsbahnen angekündigt, dass „in nächster Zeit Transporte von Personen und Gütern aus Südtirol in südliche Provinzen abgehen“ sollten. Der römische Statthalter, Präfekt Giuseppe Mastromattei, verkündete in der Zeitschrift „Atesia Augusta“, dass, wer „immer Treue zu Italien und zu den Einrichtungen des Regimes bewiesen“ habe,  bleiben dürften. Dies bedeutete jedoch, dass die meisten der keineswegs faschistisch eingestellten Südtiroler von Deportation in die südlichen Provinzen bedroht waren. Dazu kam, dass laut Arbeitsvermittlungsgesetz nur Italiener als Ersatz für entlassene Deutschsüdtiroler eingestellt werden durften. Den italienischen Privatbetrieben wurde die Einstellung von Südtirolern verboten und auch die Obstgenossenschaften durften keine deutschtiroler Saisonarbeiter mehr beschäftigen. Höchste Repräsentanten des faschistischen Staates  gaben in öffentlichen Äußerungen zu verstehen, dass die für Italien optierenden Südtiroler nach Sizilien umgesiedelt werden könnten, wo das Regime gerade eine Landreform in Gang gesetzt hatte, wodurch 20 000 neue Bauernstellen geschaffen werden sollten. Späteren Erklärungen der italienischen Behörden, wonach Italien-Optanten in Südtirol verbleiben könnten, wurde nicht mehr geglaubt, vor allem auch, weil eine von Bischof Geisler geführte Delegation, die diesbezüglich bei Mussolini vorsprechen wollte, nicht empfangen worden war. Man sah sich auf Gedeih und Verderb der römischen Willkür ausgeliefert.

In ihrer Verzweiflung hatten sich Vertreter des VKS  direkt an Himmler gewandt. Dieser erklärte einer VKS-Abordnung anlässlich einer Begegnung am Tegernsee unverblümt, dass das Deutsche Reich die „Dableiber“, also die Optanten für Italien,  ihrem Schicksal, mithin dem unabwendbaren nationalen Untergang, überlassen werde. Der VKS schwenkte nun um und begann, mit reichsdeutscher Unterstützung, für eine möglichst geschlossene Option für das Reich zu werben. Kanonikus Michael Gamper und sein Freundeskreis vom DV und dem Andreas Hofer-Bund (AHB) hingegen waren überzeugt, dass man im Lande bleiben und auf eine Änderung der Verhältnisse hoffen müsse. Die emotionalen Auseinandersetzungen führten zu einer tiefgreifenden Spaltung der Bevölkerung, die durch die Dörfer und teilweise auch durch die Familien ging. Es kam zu gegenseitigen Vorwürfen des „Verrats“, wobei die Deutschland-Optanten als „Heimatverräter“ und die „Dableiber“ als„Volksverräter“ beschimpft wurden.

Rückkehr nach Kriegsende

Von den 246 036 dazu Berechtigten optierten 211 799 für die deutsche Staatsbürgerschaft und Aussiedeln, 34 237 votierten für die Beibehaltung der italienischen und Bleiben. Wer ging, ließ alle unbewegliche Habe zurück. Von den Optanten wurden schließlich etwa 76 000 ausgesiedelt. In ihre Häuser und Höfe, über deren Wert hastig Kommissionen befanden, zogen zumeist Süditaliener ein – der ganze Landstrich sollte ja seinen „deutschen Charakter“ verlieren. Der Zweite Weltkrieg, an dessen Beginn vor 75 Jahren auch in diesem Zusammenhang zu erinnern ist, verhinderte die vollständige Ausführung der Umsiedlung, die bereits 1941 zum Erliegen kam, ins Deutsche Reich oder ihm angeschlossene respektive von ihm unterworfene Gebiete.
Die Entscheidung für Gehen oder Bleiben war schließlich schon mit der „Operationszone Alpenvorland“ gänzlich obsolet geworden, zu der Südtirol mit der Besetzung Norditaliens gehörte, nachdem Mussolini 1943 vom Faschistischen Großrat abgesetzt worden war und in der „Republik von Salò“ als Satrap Hitlers „regierte“. Berlin fragte fortan nicht mehr nach „Optanten“ oder „Dableibern“; Gestellungsbefehle an die Front erreichten Angehörige beider Lager.

Die Rückkehr der Deutschland-Optanten in ihre Heimat nach Kriegsende stieß auf enorme Schwierigkeiten. Es bedurfte trotz des zwischen dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperi und dem österreichischen Außenminister Karl Gruber am 5. September 1946 zu Paris geschlossenen Abkommens („Parier Vertrag“) über die (dann bis 1972 von Rom torpedierte) Autonomie Südtirols, welches auch die „Revision der Option“ zum Gegenstand hatte, zäher Verhandlungen, den zunächst Staatenlosen, überdies als Nazis Gebrandmarkten, die italienische Staatsbürgerschaft wieder zuzuerkennen. Die damals geschlagenen, tiefen seelischen Wunden sind auf beiden Seiten erst nach vielen Jahren wieder vernarbt.  Selbst der von Angehörigen beider Lager gegründeten Südtiroler Volkspartei (SVP), an deren Spitze nachmals für gut drei Jahrzehnte Silvius Magnago stand, ein Optant, fiel es nicht leicht, die Kluft allmählich zu überwinden. Kanonikus Gamper gebührt das Verdienst, durch sein leuchtendes Beispiel der Nächstenliebe und Toleranz die Südtiroler nach Kriegsende wieder zu einer handlungsfähigen Volksgruppe zusammengeführt zu haben.

Alliierte Mächte

Anfangs hatte der im Mai 1945 von den Alliierten in Bozen eingesetzte italienische Präfekt Bruno De Angelis sogar danach getrachtet, die Aussiedlung der verbliebenen Optanten in die amerikanischen, englischen und französischen Besatzungszonen in Österreich und Deutschland zu erreichen. Dies war an den alliierten Mächten gescheitert. Rom versuchte sodann, mit Kniffen und Tricks die Rückkehr der ausgesiedelten Optanten zu behindern. Welche Methoden dabei angewandt wurden, zeigte etwa die Beschlagnahme des Vermögens jener Deutschland-Optanten, denen Italien 1949 die Wiedererteilung seiner Staatsbürgerschaft unter der durch nichts zu rechtfertigenden Beschuldigung verweigerte, es handele sich durchweg um Nazis. Damit hoffte man, weitere Rückkehrwillige abzuschrecken. Bis 1952 hatten nur deren 25 000 wieder in die Heimat zurückkehren können. Das war nur rund ein Drittel der Ausgesiedelten. Erst dem „Dableiber“, Gamper-Vertrauten, ehemaligen KZ-Häftling, nunmehrigen Journalisten und SVP-Abgeordneten im italienischen Parlament Friedl Volgger gelang es mithilfe einer von ihm organisierten alliierten Unterstützung, die römische Regierung dazu zu bewegen, die Vermögensbeschlagnahme wieder aufzuheben.

Für lange Zeit auch stellte sich im deutsch-italienischen Nachkriegsverhältnis die vermögens- und versicherungsrechtliche sowie die technische Abgeltung von Leistungen für Optanten wie ein Sperrriegel in den Weg.  Die Optanten hatten sämtliche Guthaben verloren. Die Ablösesummen für ihre zwischen 1939 und 1941 in Südtirol verlassenen Besitztümer waren auf Sperrkonten ohne Verfügungsberechtigung überwiesen worden. In Österreich, das 1938 dem Reich „angeschlossen“ worden war und wohin viele Südtiroler ausgesiedelt wurden,  raffte die Geldentwertung die „freien Einlagen“ dahin. Und in Ansiedlungsgebieten wie Böhmen und dem Elsass waren von Optanten erworbene Liegenschaften als „deutsches Eigentum“ entschädigungslos konfisziert worden.

In Südtirol bemühten sich Josef Zingerle, diözesaner Caritasdirektor von Brixen, Rudolf Freiherr Unterrichter von Rechtenthal, Johannes Schauff von der in Genf ansässigen „Internationalen Katholischen Wanderungskommission“, sowie die SVP-Senatoren Karl Tinzl und Karl Mitterdorfer um Rücksiedlungshilfen für heimkehrwillige Optanten aus der Bundesrepublik. Erst Anfang der sechziger Jahre konnten ihre Bemühungen mit finanzieller Hilfe Bonns in geordnete Bahnen gelenkt werden, indem Finanzministerium und Bundesausgleichsamt eine „humanitäre Regelung“ entwickelten, in die später das Arbeits- und Sozialministerium eingebunden war. Grundlage dafür war das 14. Lastenausgleichsgesetz, welches 1963 auf „Umsiedlungsgeschädigte und Optanten“ angewandt wurde. In Bozen wurde ein „Beratungsausschuss für Umsiedlungsgeschädigte“ eingerichtet, über den man das Verfahren zur individuellen Entschädigung nach dem deutschen Reparationsschädengesetz abwickelte, welches in einem 1969 in Kraft getretenen „Abkommen zur Regelung von Kriegsschäden italienischer Staatsangehöriger in der Bundesrepublik Deutschland und deutscher Staatsangehöriger in der Republik Italien“ seine Anwendung fand. Letztendlich  mündete es in das deutsch-italienische Rentenabkommen von 1976, in welchem eine über die Abgeltung von Vermögensschäden hinausreichende Zubilligung von Ausfallzeiten sowie Rentenleistungen geboten war und nach Beseitigung mancher Schwierigkeiten in Verhandlungsrunden 1983, 1986 und 1991 bis zur endgültigen Befriedung 1998 zum Tragen kommen konnte.

Amtlich anerkannte Bescheinigungen

Zu Mitgliedern des Bozner Beratungsausschusses waren Vertreter der Optanten, der Sozialverbände, der Kirche und des öffentlichen Lebens berufen worden. Grundsätzlich wurden Leistungen nach dem Einzelantragsprinzip gewährt. Zahlungen zur Abgeltung von Vermögensansprüchen wurden an Geschädigte oder antragsberechtigte Erben geleistet, Rentenansprüche und -zahlungen im Zusammenwirken mit dem italienischen Rentenversicherungsträger NISF/INPS geregelt; der Beratungsausschuss stellte hierfür die amtlich anerkannten Bescheinigungen aus. Nach dem Bonner Lastenausgleichsgesetz sind insgesamt 121,3 Millionen Mark bewilligt worden, die deutschen Aufwendungen im Rahmen des Rentenabkommens beliefen sich auf 262 Millionen Mark. Dreißigtausend Akten hatte der Beratungsausschuss angelegt, mehr als fünfzehntausend Anträge bearbeitet; nahezu zehntausend Begünstigte kamen in den Genuss von Zahlungen. In einer separaten Regelung für Optanten aus dem Fersental und aus Lusern ermöglichte der Beratungsausschuss die Rückübertragung von 27 000 Grundparzellen im Trentino und 1971 den Umtausch von Vermögenswerten auf DM-Basis, die einst in Reichsmark festgesetzt worden waren.

1999, 35 Jahre nach seiner Gründung und 60 Jahre nach dem unseligen Optionsabkommen, hatte der Beratungsausschuss seine gänzlich ehrenamtliche Tätigkeit beendet. Damit schloss sich ein beklemmendes Kapitel der jüngeren deutsch-italienischen Geschichte, damit war zugleich eine über Jahrzehnte belastende Hypothek auf den Beziehungen zwischen Bonn/Berlin und Rom sowie der beiden Hauptstädte zu Südtirol auf langwierige, aber humanitäre und pekuniäre Weise geräuschlos abgetragen worden. Ein Beteiligter sah sich hingegen gegenüber den Ansprüchen von Optanten nicht in der Pflicht, wie der damalige Abschlussbericht des Ausschussvorsitzenden festhielt: „Die Verhandlungen um eine Entschädigung seitens der Republik Österreich für die Einbehaltung von cirka 11 000 Wohnungen, die mit Geldern der Südtiroler Umsiedler, gestützt auf Reichsbürgschaften, noch während des Zweiten Weltkrieges für diese errichtet wurden, führten zu keinem Erfolg.“ Weiter hieß es darin: „Es wäre sicherlich opportun, wenn die CA-Bank Innsbruck noch alle Konten der Optanten nach dem Vorbild der Schweizer Banken offenlegen würde.“ Mit in Jahrhunderten gefestigten Banden historisch legitimiert und mit der Jurisdiktion zweier UN-Deklarationen im Rücken gibt sich Wien zwar stets zu Recht als „Schutzmacht“ der Südtiroler aus. Wo es ihr als „Schutzmacht“ aber gut angestanden hätte, zusammen mit Deutschland Rückgrat zu zeigen, da zog sich die Republik Österreich in bewährter Weise auf den von ihr vertretenen Standpunkt von der „Nichtexistenz als Völkerrechtssubjekt zwischen 1938 und 1945″ zurück – er kostet(e) nichts.

 

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