Vor 30 Jahren begann die Wiedervereinigung Deutschlands. Tatsächlich gibt es aber zwischen dem Westen und Osten noch immer eine erhebliche Kluft.
Wer mit dem Auto und offenen Augen durch Deutschland fährt, merkt den Unterschied. Zwar nicht unbedingt am Zustand der Autobahnen (diese sind im Osten meist besser ausgebaut als im Westen), aber wenn man auf Nebenstraßen durch die Lande fährt, merkt man mitunter, dass die Zeit stehen geblieben ist.. So passiert man serienweise Ortschaften, die untertags wie ausgestorben wirken. Keine Tankstelle, keine Tante-Emma-Laden, nicht einmal ein Curry-Wurst-Stand. Auch die Bausubstanz der Häuser ist sehr unterschiedlich. Viele Gebäude erinnern an die alte DDR-Zeit. Herabgefallener Putz, eine graue Fassade, die letzte Renovierung liegt schon Jahrzehnte zurück. Dafür finden sich noch immer Plattenbausiedlungen, die wie Mahnmale an eine vergangene Zeit in der Gegend herumstehen. Dazwischen finden sich aber auch hin und wieder Häuser aus der Jahrhundertwende, überraschend gut erhalten oder bereits renoviert – interessante Investitionen, die vor allem von Westbürgern getätigt wurden.
Die Mauer ist weg, aber spürbar
Auch in der Hauptstadt Berlin gibt es einen Niveau-Unterschied. Dort wo einst die Berliner Mauer stand, verläuft heute ein im Boden eingelassenes steinernes Band, das an die einstige Todesgrenze erinnern soll. Wenngleich der Ku‘Damm und das Kaufhaus des Westens nicht mehr die Attraktivität von einst haben, so ist doch im Westberlin noch immer das eigentliche, pulsierende Leben daheim. Dabei kann Ostberlin durchaus punkten, vor allem mit Sehenswürdigkeiten, wie die Allee Unter den Lindern, der Gendarmenmarkt, das Nikolaiviertel und die Museumsinsel. Abseits der touristischen Zentren sieht es freilich nicht so hipp aus. Die Spuren der Vergangenheit werden sichtbar. Und das merkt man auch an den Menschen, die hier schon vor dem Mauerfall gewohnt haben. Viele denken nostalgisch an alte Zeiten zurück, als man sich um einen Arbeitsplatz keine Sorgen machen, sich nicht dem täglichen Arbeitsstress unterwerfen musste, weil der Staat für alles wenn auch mangelhaft sorgte. Und sie bemäkeln auch, dass die West- auf die Ostbürger der einst geteilten Stadt noch immer hochnäsig herunterschauen.
Die Angst vor der AfD
Dieses Bild ist mehr als ein subjektiver Eindruck, es wird durch die Statistik bestätigt. Das so genannte Westdeutschland steht wirtschaftlich noch immer besser da als Ostdeutschland und das trotz der Milliardeninvestitionen, die nach der Wiedervereinigung in die Landstriche der ehemaligen DDR gepumpt wurden. Und das drückt auch in der allgemeinen Stimmungslage, dem öffentlichen Meinungsbild aus. Denn nicht nur wirtschaftlich sondern auch politisch gehen die Uhren anders. Das hat jetzt unmittelbar vor den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Emnid ergeben und die Alarmglocken zum Läuten gebracht. Demnach würden in den Ost-Bundesländern mehr Leute ein Kreuz am Stimmzettel bei der AfD (nämlich 23 Prozent) als bei der CDI (22 Prozent) machen. Am dritten Platz landet die Linke mit 18 Prozent, die die SPD, die hier auf 14 Prozent kommt, deutlich abgehängt hat. Die Grünen erhalten 12 Prozent und die FDP gerade einmal noch 5 Prozent. Der Erfolg der AfD hat viele Gründe, sie ist letztlich auch eine Protestpartei, die den Bürgern das Gefühl vermittelt, sich gegen die Öffnung der Gesellschaft zu wehren und Sorgen anzusprechen, die den Durchschnittsbürger bewegen.
Das deutsche West-Ost-Gefälle
Verantwortlich für diese politische Stimmung machen Experten vor allem die unterschiedliche Entwicklung in den westlichen beziehungsweise östlichen Landesteilen. Dabei haben es Politik, Wirtschaft und Kultur durchaus vernachlässigt, dass auch Bürger aus dem Osten – sieht man von Angela Merkel und Helene Fischer ab – Karriere auf der gesamten Bundesebene machen., Sieht man von Berlin ab, das derzeit einen Boom erlebt wie noch vor der Wende München, so leiden viele Regionen trotz gestiegener Einkommen unter wirtschaftlichen und strukturellen Defiziten. Nicht umsonst klafft die Arbeitslosigkeit mit 4.7 zu 6,6 Prozent erheblich auseinander. Dazu kommt, dass die demografische Entwicklung, das Altern und Schrumpfen der Bevölkerung die Kluft zwischen dynamischen Orten und abgehängten Landstrichen weiter vertieft. Erkennbar machen dies statistische Daten. Tatsächlich haben in den letzten 30 Jahren über 4 Millionen „Ossis“ ihre ursprüngliche Heimat verlassen, während nur 2 Millionen in umgekehrter Richtung übersiedelten. Leben im Westen 269 Einwohner auf einem Quadratkilometer so sind es im Osten gerade einmal 149. Beträgt der durchschnittliche Monatsverdienst auf dem Gebiet der ehemaligen BRD 3330 Euro so sind es auf der anderen Seite nur 2690 Euro. Dementsprechend besteht auch eine Kluft beim Brutto-Inlandsprodukt, nämlich von 40.301 zu 29.477 Euro.
Die Spuren von 40 Jahren Indoktrination
Es gibt aber noch weitere aufschlussreiche Kennziffern. Einerseits solche die zeigen, dass ein mehr als 40-jähriges Leben unter einer kommunistischen Diktatur mit der damit in Verbindung stehenden Indoktrination Spuren hinterlassen hat. Der Umstieg im Denken, im Handeln benötigt nicht ein paar Jahre sondern Generationen. Eine Erfahrung, die man auch von der Migrationsbewegung her kennt. Das betrifft zum Beispiel die Einstellung zur Politik. Während sich im Westen 45,6 Prozent mit einer Partei identifizieren sind es im Osten nur 36,1 Prozent. Allzu lange war „die Partei“ ein dominierender Bestandteil des Alltags. Damit hat man abgeschlossen. Dazu kommt, dass noch immer ein gewisser Trend herrscht, sich auf Leistungen des Staates zu verlassen, anstelle Eigeninitiativen zu ergreifen. Was sich gerade im Bereich der kleineren Kommunen zeigt. Andererseits ist aber auch nicht zu übersehen, dass Westdeutschland eine zu dominante Rolle spielt, den Osten die Überlegenheit spüren lässt. Von den 500 größten deutschen Unternehmen haben gerade einmal 37 ihren Sitz im Nordosten und in Mitteldeutschland. Von den 81 Uni-Rektoren ist überhaupt kein einziger ostdeutscher Herkunft.
Top-Forderung nach besserer Bildung
In mehreren Studien wird nun – reichlich spät – versucht, ein Szenario zu zeichnen, was möglichst rasch getan werden könnte, damit es für die betroffenen Regionen zu einer nachhaltigen Trendwende kommt. Kurzum, dass die Wiedervereinigung zu einer Aplanierung der Gesellschaft führt, Niveauunterschiede beseitigt. Damit wird man freilich so knapp vor den Wahlen kaum jemanden beeindrucken. An der Spitze steht jedenfalls die Forderung nach einer „besseren Bildung“. Tatsächlich klafft bei der Schulbildung in den ostdeutschen Bundesländern eine gewaltige Lücke. Dazu kommt, dass in Ostdeutschlands die Quote der Schulabbrecher überdurchschnittlich hoch ist, wodurch junge Menschen gerade in den strukturschwachen Gebieten erheblich benachteiligt sind. In diesem Zusammenhang wird auch die Forderung nach einem flächendeckenden, schnellen Internet erhoben. Vor allem in abgelegenen ländlichen Gegenden surfen immer noch viele Haushalte und Schulen im Schneckentempo und haben keinen Zugang zum schnellen mobilen Internet.
Belebung der kleinen Gemeinden und Städte
Ganz entscheidend wird es freilich werden, das Augenmerk auf den Ausbau der die Infrastruktur und die Stärkung der Innovationskraft zu setzen. Dabei geht es weniger um den Ausbau des Schienen- und Straßennetzes als vor allem um die Belebung der kleineren Gemeinden und Städte. Das reicht von Angeboten auf dem Einkaufs- und Konsumsektor bis hin zum Freizeitsektor. In der alten DDR-Zeit hat es zwar kaum Kneipen, dafür aber Volkshäuser gegeben, heute gibt es keine Volkshäuser mehr, aber Kneipen auch nicht, lautet eine oft gehörte Klage. Dabei besteht durchaus Bereitschaft zum Konsum: So beläuft sich der jährliche Bierkonsum im Westen auf 111 Liter und im Osten auf 122,6 Liter. Der wirkliche Impuls wird freilich auf dem Gebiet von Wirtschaft und Wissenschaft erfolgen müssen. Ostdeutschland hat zwar eine leistungsfähige Industrie, tatsächlich ist aber in der westdeutschen Industrie die Wertschöpfung noch immer höher. Das hat auch mit unterschiedlich ausgeprägter Innovationskraft zu tun. Sowie damit, dass die Universitäten und Hochschulen neue Impulse benötigen. Dabei besaßen in der alten DDR-Zeit gerade Techniker und Wissenschaftler einen guten Ruf.
Kraftaufschwung und Mentalitätswandel
Das alles zusammen wird, so die Experten, einen beachtlichen Kraftaufschwung erforderlich machen. Und zwar nicht nur durch Hilfe von außen, sondern auch durch einem entsprechenden Beitrag der Bevölkerung – beidseits der mentalen Trennlinie, die sich von der Ostsee bis zum Riesengebirge durch Deutschland zieht. Und es wird auch die Politik selbst gefordert sein, um die Teilung wirklich, vor allem auch mental zu überwinden. Die demografischen Probleme Ostdeutschlands – und hier liegt ein erhebliches Problem – kann der Staat nicht beseitigen, aber Einwanderung kann die dadurch entstehenden Defizite abmildern – vom Fachkräftemangel bis zum Pflegenotstand. Notwendig sei allerdings auch ein Mentalitätswandel. Dieser betrifft nicht nur die grundsätzliche Einstellung zu Beruf, Wirtschaft und Politik: „Ostdeutschland braucht in ganz vielen Regionen Zuwanderung statt Abwanderung. Die Menschen werden allerdings nur kommen und bleiben, wenn die Löhne ausreichend hoch sind, das infrastrukturelle Angebot attraktiv sowie die Bevölkerung integrationsbereit und -fähig ist“.