Was wollen eigentlich die Briten wirklich? Auf diese Frage lässt sich der ganze Abstimmungszirkus über den Brexit im britischen Parlament reduzieren-
Dass es diese Woche gelingt, den zwischen London und Brüssel ausgehandelten Brexit-Vertrag zu verabschieden, darf mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit ausgeschlossen werden. Ob dies bis zum 12. April, der nun zuletzt von der EU festgelegten Dead-Line, möglich ist, wird von vielen Seiten bezweifelt. Grundproblem ist, dass es im Parlament weder für den Brexit, noch für eine neuerliche Volksabstimmung, aber auch nicht für das No-Deal-Szenario eine Mehrheit gibt. Großbritannien – und das ist das Kardinalproblem – ist in sich völlig unschlüssig über sein Verhältnis zu Europa. Und das nicht erst seit jetzt.
Die Fiktion Commonwealth
Der britische Historiker Sir Jan Kershaw hat es wohl auf den Punkt gebracht: „Der Brexit hat Großbritanniens Identitätskrise offengelegt“. Das Vereinigte Königreich lebt noch immer von der Vergangenheit, hat bis heute es nicht verkraftet, dass das „British Empire“ Geschichte ist. Und das 1931 gegründete „Commonwealth of Nations” war eine Reaktion auf die Autonomiebestrebungen seiner Dominions (Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland) und sollte diese dadurch an das Empire binden. Übrig geblieben davon sind Destinations für Besuche von Mitgliedern des britischen Königshauses, die einen Widerhall in der so genannten „Yellow Press“ finden. Politisch spiel das Commonwealth keine Rolle mehr.
Anglo-amerikanische Vorlieben
Geologisch gehört Großbritannien zum europäischen Kontinent. Es ist aber nicht nur die größte Insel Europas sondern auch die neunt größte der Welt. Mit der mentalen Zugehörigkeit hapert es freilich. Dazu kommt, dass sprachlich bedingt, sich die Briten schon immer auch zu den Vereinigten Staaten hingezogen fühlten. Und sich in vielen politischen Fragen auch immer wieder mit Washington absprachen. Was auch zu einer Art angloamerikanischen Achsenbildung nicht nur innerhalb der NATO führte. England war sicher der engste Verbündete der USA im Zweiten Weltkrieg. Und auch noch eine Zeit lang nachher.
Churchills erteilt Europa Ratschlag
Typisch dafür war Winston Churchill, der am 19. September 1946 bei einem Vortrag in Zürich für ein Zusammenrücken Europas plädierte: „Es gibt ein Heilmittel, das … innerhalb weniger Jahre ganz Europa … frei und glücklich machen könnte. Dieses Mittel besteht in der Erneuerung der europäischen Familie, oder doch eines möglichst großen Teils davon. Wir müssen eine Art Vereinigter Staaten von Europa errichten.“ Allerdings mit einer Einschränkung. Nämlich ohne Großbritannien. Daher wurde ja auch 1952 die so genannte Montanunion, also der Vorläufer der heutigen EU, nur von Frankreich, Italien, Deutschland und den Benelux-Staaten gegründet.
Der Traum einer Verteidigungs-Union zerbricht
Zehn Jahre später, 1956, kommt es in Ägypten, das zu diesem Zeitpunkt in enger Verbindung zu Moskau steht, zu einem schweren Konflikt. Der unter französischer-britischer Kontrolle stehende Suezkanal wird blockiert. London und Paris suchen eine militärische Lösung und wollen dabei die Unterstützung Washingtons. Die USA haben aber kein Interesse an einer Konfrontation mit Moskau, pfeifen die britische Regierung richtiggehend zurück, die fortan eng an Washington gebunden ist. Damit verbunden ist auch der Plan, ein europäisches militärisches Sicherheitsbündnis nämlich die Europäische Verteidigungsunion zu schaffen, gestorben.
Frankreich zeigt London kalte Schulter
Weil sich Frankreich von den Briten verlassen fühlt, sucht Paris nach einem neuen Verbündeten und findet diesen im deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer. Er erkennt die Gunst der Stunde, reist nach Paris und es kommt zum Schulterschluss von Frankreich mit Deutschland. Die Montanunion wird um die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) erweitert. Am 25. März 1957 werden die „Römischen Verträge“ unterzeichnet. Und damit ist der Grundstock für die heutige Europäische Union gelegt. Damals allerdings ohne Großbritannien.
Zuflucht in der EFTA
Ganz alleine wollte freilich London nun auch nicht dastehen. Und so ist man mit dabei als am 4. Jänner 1960 in Stockholm die EFTA gegründet wird. Übrigens zusammen mit Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, und die Schweiz. Diese EFTA ist kein politisches Bündnis sondern nur eine Freihandelszone. Außer Norwegen und der Schweiz sind heute alle Gründungsmitglieder längst bei der EU. Die EFTA existiert zwar noch, ist aber unbedeutend. Heute gehören ihr nur noch Norwegen, Schweiz, Island und Liechtenstein an.
Als GB noch für Europa stimmte
Der wachsende Einfluss der EWG macht aber London Appetit, zu wechseln. Nun ist es der französische Präsident Charles de Gaulle, der die Briten nicht hereinlassen will. Erst als er von der politischen Bühne abtritt, beginnen Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, das dann auch am 1. Jänner 1973 Mitglied der EWG wird. Allerdings bereits zwei Jahre später in einer Volksabstimmung entscheidet, ob man dabeibleiben oder doch wieder ausscheiden soll. Anders als bei der Brexit-Abstimmung votierten 67,2 Prozent der Abstimmenden für einen Verbleib in der Wirtschaftsgemeinschaft.
Die Extratouren der Briten in der EU
Großbritannien war über 46 Jahre ein Vollmitglied der Union – und gerade in militärischen Belangen auch ein Eckpfeiler. Großbritannien hatte sich aber auch eine Reihe von Extras herausgeschlagen. Weil das britische Inselreich weniger Agrarsubventionen kassierte als andere EU-Staaten und sich benachteiligt sah, musste es weniger bezahlen als dies seiner Wirtschaftskraft eigentlich angemessen gewesen wäre. London weigerte sich auch bekanntlich, in den Schengenraum einzusteigen und beharrte auf dem Pfund als eigener Landeswährung. Im Irrglauben diesen als Weltwährung erhalten zu können. Nicht zuletzt haperte es auch mit so mancher politischen Solidarität. So hatte man wenig Verständnis für den Zerfall von Ex-Jugoslawien und bis dato gehört man zu jenen, die verhindern, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beendet werden.
Sollte London den Brexit doch noch abbiegen, dann wird man in so manchen EU-Sonderregelungen Abstriche machen müssen, heißt es schon heute innerhalb der Kommission. Was wiederum Wasser auf die Mühler der Europa-Gegner wäre …