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Obdachlosigkeit in Kalifornien nimmt dramatische Ausmaße an

Bild © CC0 Creative Commons, Pixabay (Ausschnitt)

Eindrücklich beschreibt Handelsblatt Reporter Axel Postinett das Leben jenseits von Hollywood und Silicon Valley. Eine Chronik des Versagens der amerikanischen Politik und ihres Präsidenten.

(Handelsblatt 07.08.2019) US-Präsident Trump redet den demokratischen Vorzeigestaat als „Schande für die USA“ schlecht. Nirgendwo sonst gebe es so viele Obdachlose wie Kalifornien. Eine Spurensuche.

Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom lade „die ganze Welt“ ein, auch illegale Einwanderer, auf Kaliforniens Kosten zu leben. War es in der Woche zuvor noch Baltimore im demokratischen Maryland, dem Trump menschenunwürdige Zustände vorwarf („Rattenverseucht, da will doch niemand leben“) oder Chicago, die Heimatstadt der Clintons, ist es nun San Francisco – mal wieder.

Tore hindern Obachlose daran, im Eingangsbereich zu schlafen

Trump will den demokratischen Vorzeigestaat Amerikas schlechtreden. Bei der Wahl in 2016 gaben in Kalifornien 66 Prozent der Wähler ihre Stimme an die demokratische Konkurrentin Hillary Clinton, im Silicon Valley waren es mehr als 90 Prozent.

Auf der einen Seite ist Kalifornien die Heimat des Silicon Valleys, beherbergt die Filmmetropole Hollywood und große Teile der Rüstungs- und Elektronikindustrie. Auf der anderen Seite herrscht dort die größte Kinderarmut der USA. Die Obdachlosigkeit steigt wegen rasch steigender Mieten und Immobilienpreise stetig an.

Die Straße holt mich wieder ein, wenn ich das Haus durch das gusseiserne Frontgitter verlasse, das irgendwann vor der Haustüre installiert worden ist. Es hindert Obdachlose daran, nachts im Eingangsbereich ihre Schlafsäcke auszurollen, ihre Notdurft zu verrichten oder durch die videoüberwachte Lobby ins Haus zu gelangen.

Jedes Haus hier hat solche Gitter installiert. Hier, das ist die Grenze zum Tenderloin. Dieser Stadtteil war in den 20er- und 30er-Jahren das kulturelle Herz der San Francisco. In einem Rechteck von sieben mal sieben Straßenblöcken zwischen Market und Geary-Street, und Mason und Van Ness-Street schätzt die Stadtverwaltung die Zahl der Obdachlosen auf knapp 4000.

Mein Weg zum Moscone-Veranstaltungszentrum führt mich auch an der imposanten Glide-Kirche an der Kreuzung Ellis- und Taylor Street vorbei. Die Glide Memorial United Methodist Church wurde 1931 eröffnet, ist heute eine der liberalsten Kirchen der USA und Ankerpunkt für die Verlorenen aus Tenderloin. Wenn die Essensausgabe ansteht, ist die Schlange oft mehrere hundert Meter lang, sie reicht um den ganzen Block und manchmal sogar darüber hinaus.

Jeden Abend werden hier und in den umliegenden Straßen auf den Bürgersteigen die Zeltstädte aufgebaut. Zerlumpte und vom täglichen Auf- und Abbau gezeichnete Nachtbehausungen drängen sich an Hausfassaden und bieten ihren Bewohnern einen letzten Rest von trügerischem Schutz, den sie mitunter aus einem früheren Leben noch kennen.

Es können immerhin irgendetwas hinter sich schließen – und sei es auch nur ein defekter Reißverschluss.

Im größten Warenhaus der Innenstadt, bei Target, sind seit 2017 die Campingzelte in großen Gitterboxen eingeschlossen. Wer eines kaufen will, muss einen Verkäufer ansprechen. Die Diebstahlsrate war ohne diese Sicherheitsmaßnahme zu hoch, heißt es. Weggeschlossen sind auch Zahnpasta, Hygieneartikel für Frauen und Rasierbedarf.

Völlig verstörte Touristenfamilien bahnen sich entsetzt ihren Weg durch die teilweise halb- oder gar nicht bekleidet Menschen, die mit oder ohne Schlafsack apathisch auf den Bürgersteigen liegen. Entsetzte Kinder krallen sich an die Hände der Mütter und Väter, die noch die Koffer hinter sich herziehen, auf dem Weg ins Hotel. Es riecht penetrant nach Urin.

Die Hotels dieser Touristen sind zentral gelegen und ein Schnäppchen bei Preisen von üblicherweise verlangten 200 bis 500 Dollar pro Nacht. Aber es wird schnell klar, dass es im Tenderloin einen Grund für den günstigen Tarif gibt.

Ein-Zimmer-Appartment für 3000 bis 4500 Dollar

Das reiche und schöne San Francisco liegt woanders, auf dem Berg beispielsweise. Da, wo die Larry Ellisons oder Mark Zuckerbergs dieser Welt ihre gut bewachten und mondänen Stadthäuser haben. In Nob Hill, Telegraf Hill, Russian Hill oder auf der anderen Seite der Stadt, in Potrero Hill, Sunset, dem superreichen Yacht-Viertel Marina, weit ab vom Schuss. Dort lässt sich gut leben, wenn man genug Geld hat.

Ein typisches „One-Bed-Room“-Appartement, Wohnküche, Schlafzimmer, Bad, um die 40 Quadratmeter, kostet oft zwischen 3000 bis 4500 Dollar pro Monat. Eine etwas anspruchsvollere Vierzimmerwohnung auf dem Berg mit Blick auf die Golden Gate Bridge geht nicht unter 15.000 Dollar im Monat weg.

Null-Toleranz-Politik für Obdachlose

Ich wohne in einem solchen One-Bed-Room und bin einer der wenigen in dem Haus mit 60 kleinen Einheiten, der allein lebt. Typischerweise leben zwei Mieter in einer Einheit, im Februar sind sogar drei Studentinnen gemeinsam in eine Einheit gezogen. Anders sind die Mieten nicht mehr zu bezahlen, selbst wenn durch die Nähe zum Tenderloin die Mieten im Schnitt einen Tausender niedriger liegen als in den schönen Gebieten.

Ab und zu fahre ich nach Los Angeles. Beruflich und privat, oft mit dem Bus. Hin- und Rückfahrt kosten zwischen 30 und 70 Dollar. Ein Flug für diese Strecke ist selbst unter günstigsten Bedingungen selten unter 240 Dollar zu bekommen.

Der Nachtbus fährt bis ins Herzen von Los Angeles. An der Union Station, dem wahrscheinlich schönsten Bahnhof der Westküste, befindet sich die Haltestelle. Morgens um sieben rufen ein Kaffee bei Starbucks und eine warme Brezel, aber vorher noch kurz Zähneputzen.

Die einzige Toilettenanlage für Männer ist um diese Uhrzeit mit 30 bis 40 nur teilweise bekleideten Menschen restlos überfüllt. Sie waschen sich so gut es geht an den viel zu kleinen Waschbecken, vor den Händetrocknern hängen nasse Socken, in den Toilettenkabinen wird die Unterwäsche gewechselt.

Die Bahnhofsgestellschaft Union Station fährt eine Null-Toleranz-Politik gegen Obdachlose. Die weitläufigen Sitzanlagen für Fahrgäste, die Bahnsteige und die Außenanlagen werden von schwer bewaffneten Polizisten bewacht. Wer keinen Fahrschein hat und sich irgendwo niederlässt, wird unmissverständlich und nur einmal freundlich zum sofortigen Verlassen des Bahnhofs aufgefordert.

Nur morgens in den Toilettenanlagen machen die Kontrolleure aus Menschlichkeit eine Ausnahme. Es gibt kaum öffentliche Toilettenanlagen für Obdachlose, um die dringendsten Bedürfnisse zu erfüllen. Das zeigt sich auch am Beispiel der Uber-Fahrer in San Francisco: Viele urnieren im Auto in Plastikflaschen, und stellen sie später dezent am Straßenrand ab.

Um mich nicht in der Union Station anstellen zu müssen, habe ich mir einmal eine Flasche Wasser gekauft und wollte mir am Straßenrand die Zähne putzen. Das hätte mir beinahe eine Verhaftung eingebracht.

Fotos machen ist lebensgefährlich

Nur wenige Straßenblöcke weiter hat Los Angeles schon aufgegeben. Regelrechte Zeltstädte sind auf Industriebrachen entstanden. Auf der „Skid Row“ in Downtown leben nach offiziellen Schätzungen allein um die 4000 Menschen permanent in Zelten und Schlafsäcken.

Dorthin sollte sich selbst tagsüber kein Tourist verirren. Fotos machen ist lebensgefährlich. In der Obdachlosenmetropole der USA herrscht, inmitten einer ansonsten boomenden Innenstadt, das Elend.

Insgesamt hat die Obdachlosigkeit dramatische Züge angenommen. Die jüngste offizielle Statistik von Juni weist für den Großraum Los Angeles, L.A. County, gut 59.000 Obdachlose aus, das sind zwölf Prozent mehr als Mitte 2018. Die eigentliche Stadt Los Angeles beherbergt davon alleine 44.000, 17 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Ein Hauptgrund liegt in den Mietpreisen in Los Angeles: Das Magazin Forbes listet L.A. als die „schlimmste Stadt in den USA, um zu mieten“.

Um sich dort eine Wohnung zum Medianpreis leisten zu können, muss man 47 Dollar die Stunde verdienen. Der Mindestlohn liegt bei 14,25 Dollar pro Stunde. Damit würden selbst drei Mindestlohn-Vollzeitjobs, also 24 Stunden ununterbrochenes Arbeiten, Verkäufern, Fast Food-Mitarbeitern oder Pizzaboten nicht einmal genug einbringen, um auch nur die Miete zu bezahlen.

Mit den Zeltstädten ohne Wasser, Kanalisation und Müllabfuhr kommen Ratten, Krankheiten und Dreck. Eine Polizeistation in Downtown musste geschlossen werden, weil zwei Offiziere an hochgefährlichem Typhus erkrankt waren und Ratten offen die Station durchstreift hatten.

Los Angeles hat jüngst den Notstand ausgerufen und zugesagt, das Problem bis 2028 zu lösen. Dann kommen die olympischen Spiele in die Stadt. Der Bürgermeister verspricht die „sichtbare Obdachlosigkeit“ bis dahin eliminiert zu haben. Bürgerrechtsaktivisten fragen sich jetzt besorgt, was damit gemeint sein wird. 1984 zur Olympiade wurden die Straßen von LA einfach nur gnadenlos gesäubert und die Menschen deportiert, bis die Spiele vorbei waren. Das soll sich nicht wiederholen.

Zurück in San Francisco geht es mit der Regionalbahn Bay Area Rapid Trans („BART“) nach Oakland. Immer wieder ist bei der Region von San Franciscos hässlicher Schwester die Rede, doch es wird nur noch schlimmer. In Alameda County, zu dem auch Oakland gehört, stieg die Obdachlosigkeit in nur einem Jahr um 43 Prozent.

Obdachlose mit Auto gelten als Oberschicht der Elenden

An der erhöhten Bahntrasse entlang Richtung Fruitvale Station in Oakland öffnet sich der Blick auf weitläufige Zeltstädte, gezimmert aus Restholz, Pappmache, Müllsäcken und losen Brettern. An der East 12th Street ist der Beton der Autobahnauffahrt zur Interstate 880 über 50 Meter rußgeschwärzt. Ein ganzes Zeltlager ist hier abgebrannt, zum Glück ohne Opfer. Aber die Auffahrt musste über Tage gesperrt bleiben, bis klar war, dass sie nicht beschädigt sei.

An der East 12th Street selbst stehen in langen Reihen abgehalfterte Wohnmobile, die Fenster mit Müllsäcken blickdicht abgehängt, Campingstühle und kleine Tische vor der Tür. Obdachlose mit einem Auto gelten als die Oberschicht der Elenden. Aber immer mehr Gemeinden in Kalifornien führen Gesetze ein, die das Parken von Wohnmobilen über Nacht und das Wohnen in Limousinen am Straßenrand verbieten sollen.

Das gilt auch für das superreiche Silicon Valley. In Mountain View, der Heimatstadt von Google, zählte die Polizei im Dezember rund 300 Wohnmobile, die als Erstwohnsitze genutzt werden, viele davon in der direkten Umgebung der mondänen Google-Zentrale mit ihren Luxusrestaurants für Mitarbeiter und weitläufigen Grün- und Sportanlagen.

Die Stadt erwägt nun ebenfalls das Parken von Campingmobilen über Nacht unter Strafe zu stellen. Eine Lösung, wo die Menschen hinsollen, hat sie nicht. Die hat niemand. Donald Trump eingeschlossen.

Quelle:

4 Kommentare

  1. Die dritte Welt kehrt zurück, mitten in das arrogante Herz der ersten.
    Trump benennt die Probleme wenigstens, die Demokraten sind vorwiegend mit sinnlosen Diskussionen und Empörungsausbrüchen beschäftigt.

    • Zumindest könnte man an solchen Orten öffentliche Sanitäranlagen errichten um wenigstens eines der grundlegendsten Bedürfnisse für Obdachlose zu ermöglichen! Auf so etwas kommt kein Staat dort, oder sonst ein Reicher aus dem Silikon Valley!

  2. Wie in USA versuchen auch in Österreich Politiker und Medien mit aller Macht ihre Ideologie und Meinung durchzusetzen. Ausgerechnet von jenen, die anders Denkenden gerne „Hass“ vorwerfen, wird Gift und Galle gegen den politischen Gegner verspritzt. Warum wohl sind Trump (und in Österreich die FPÖ) wochenlang ja sogar jahrelang tonangebend im negativen Sinn in den Schlagzeilen? Weil Redakteure es als ihre unbedingte Aufgabe sehen, die Gegner ihrer Ideologie niederzumachen. Ich fände es besser, wenn die Medien ihre eigentliche Aufgabe wahrnehmen würden – nämlich möglichst objektiv, vor allem unparteiisch zu berichten und kritisch die aktuelle Politik zu begleiten. Armut gehört in USA seit jeher zum täglichen Leben und ist eine Folge des Krieges reich gegen arm, den die Reichen gewinnen werden. (nach Warren Buffet). Nach Aussage eines US- Konzernchefs haben sich die Wirtschafts- Zahlen während der kurzen Trump Ära überall ins Positive gedreht. Und das hat Trump erkannt, dass nur eine florierende Wirtschaft die Armut reduzieren kann. Nur das liest man nicht!!

  3. Trotz der weltweiten medialen Hetze gegen Trump, den Rassismus-Vorwürfen und den bereits gewohnten Twitter-Tiraden gegen politische Mitbewerber scheint es für US-Präsident Trump derzeit sehr gut zu laufen. Neben der sehr guten konjunkturellen Lage mit einer geringen Arbeitslosigkeit kann er nun auch ein zentrales Wahlversprechen, den Bau einer Grenzmauer zu Mexiko, in Angriff nehmen, nachdem der Supreme Court den Weg dafür freigemacht hat. Tausende Arbeitsplätze werden entlang der Mauer entstehen und helfen, die Armut zu senken. Hinzu kommt, dass die aktuellen Zustimmungs- Werte für Trump noch nie so hoch waren. Wer bisher dachte, dass seine Präsidentschaft ein bedauerlicher historischer Ausrutscher sein mag, könnte sich gewaltig getäuscht haben. Die Chancen für eine erfolgreiche Wiederwahl sind, obwohl die Präsidentschaftswahl erst im November 2020 stattfindet und der Herausforderer aufseiten der Demokraten noch nicht feststeht, für Trump durchaus intakt. Er ist ein „Macher“ und kein politischer Träumer und das schätzen die Amerikaner, ganz besonders die von den Eliten abgehängten.

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