Sonntag, 24. November 2024
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Die Vergessenen des Regierungsprogramms – eine starke Zielgruppe für die FPÖ?

FPÖ-Parteitag wählt Norbert Hofer zum neuen Vorsitzenden, 14.09.2019 / Bild: Bayerischer Rundfunk

Die neue Regierung deckt das politische Spektrum von links bis rechts ab. Und doch gibt es Vergessene des Regierungsprogramms.

Noch nie hat eine Regierung versucht, ihre Politik so breit aufzustellen, wie das die aktuelle Türkis-grüne Koalition mit ihrem Regierungsprogramm versucht. Und das geht weit über die 37,5 Prozent der ÖVP und die rund 14 Prozent der Grünen hinaus, die beide Parteien bei den Nationalratswahlen erzielt haben. Die Volkspartei besetzt nicht nur die Mitte, sondern auch (dank übergewandeter freiheitlicher Wähler) den rechten Flügel – wie dies allein die Fortsetzung der mit den Blauen konzipierten Migrationspolitik zeigt. Die Grünen wiederum wollen sich als eine Mitte-Linkspartei mit Ökö-Orientierung präsentieren und grasen nicht unerheblich im sozialdemokratischen Wählerpotential. Genau genommen eine Koalition, in der beide Partner eine Art Komplementärfunktion erfüllen.

Diese clevere Strategie der Türkisen schafft es, die Wahlversprechen der ÖVP einzulösen, die „Leih-Wählerschaft“ aus der FPÖ vorerst zu behalten und trotzdem das taktische Kunststück vorzuweisen, die Grünen ins Regierungsboot geholt zu haben.

Mitte-Rechts hat stabile Mehrheit

Unter Türkis-blau war die FPÖ zuständig für die Abdeckung des politisch rechten Wählerspektrums. Jetzt unter Türkis-grün gehört das zusätzlich zur Agenda der Volkspartei, die sowohl christlich-soziale als auch einstmals als populistisch artikulierte Positionen vertritt. Und wo ist der Platz für die FPÖ? Eine Frage, die bereits die Politikwissenschaftler und Meinungsforscher intensiv beschäftigt. Und vor allem die FPÖ beschäftigen sollte, weil von deren Beantwortung die zukünftige Entwicklung abhängt. An sich hat sich am Faktum, dass Volkspartei und Freiheitliche gut 55 Prozent der so genannten „bürgerlichen“ Wählerschaft abdecken, also für Mitte-Rechts-Politik stehen, nichts geändert. Innerhalb dieser Bandbreite gibt es ein Wählerspektrum, das vom Regierungsprogramm nicht erfasst wird und darauf wartet politisch angesprochen zu werden.

Die SPÖ im Abwehrkampf gegen Grün

Die türkis-grüne Koalition hat die an sich krisengeschüttelte SPÖ in ein echtes Dilemma schlittern lassen, wobei – sollten die Grünen Kurs halten und der Volkspartei trotz aller unterschiedlichen Meinungen die Treue halten – dies auch zu einem Verschieben der Machtstruktur im Mitte-Links-Lager führen könnte. Die SPÖ läuft Gefahr ihre Wählerschaft wie bei einem kommunizierenden Gefäß mit den Grünen teilen zu müssen. Nicht unähnlich übrigens der Entwicklung in Deutschland. Für die SPÖ besteht zudem das Problem, dass sie sich eine Rückholaktion, der in den letzten Jahrzehnten zur FPÖ abgewanderten sozialdemokratischen Wähler abschminken kann. Sie ist von einer proletarischen zu einer linken, profillosen Mittelstandspartei mutiert.

Die allein gelassenen Wohlstandsbenachteiligten

Es ist allerdings zu einfach davon zu sprechen, dass die FPÖ in den letzten Jahren zu einer Arbeiterpartei geworden ist, wenngleich der Arbeiteranteil bei der FPÖ mittlerweile über jenem der SPÖ liegt. Man spricht vielmehr von so genannten Wohlstandsbenachteiligten. Und diese werden vom türkis-grünen Regierungsprogramm nicht angesprochen. Da helfen auch Versprechen, dass man niedrige Einkommensbezieher stärker steuerlich entlasten, Familien mehr fördern will, wenig. Es geht vielmehr um die Unzufriedenheit mit der gesamt-gesellschaftlichen Situation.

Gesellschaftliches Ungleichgewicht

Diese Wohlstandsbenachteiligten sind Bürger, die im Arbeitsprozess stehen, hier seit Generatiionen verwurzelt sind, beachtliche Leistungen für die Gesellschaft erbringen, deren Verdienst es aber gerade ermöglicht, einen bescheidenen Lebensstandard zu halten – und nicht mehr. Sie sind mit einer Gesellschaft konfrontiert, in der viele Verhältnismäßigkeiten ins Ungleichgewicht geraten sind. Das beginnt bereits mit dem Schulwesen. Der offene Zugang kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den öffentlichen Schulen bedingt durch den hohen Anteil von Kindern, deren Eltern aus einem fremden Kulturkreis gerade erst zugewandert sind, das notwendige Ausbildungsniveau nicht geboten werden kann. Dass viele 15-jährige nicht richtig lesen, schreiben, rechnen können, ist eine Folge davon. Will man den Kindern aber die bestmöglichen Einstiegsmöglichkeiten bieten, so muss man auf Privatschulen ausweichen, was das Familieneinkommen belastet, den Lebensstandard schmälert.

Frust schafft politischen Druck

Gleichzeitig werden diese Wohlstandsbenachteiligten Zeugen einer Parallelgesellschaft, in der es eine erhebliche Schar von Menschen gibt, die erst zugewandert sind, es aber verstanden haben, sich scheinbar in der sozialen Hängematte bequem zu machen. Sie meiden nicht selten die Eingliederung in die Leistungsgesellschaft und sind Nutznießer von einem Sozialsystem, zu dem sie – im Gegensatz zu den Wohlstandsbenachteiligten – wenig beitragen, aber davon voll profitieren. Mehr noch, es auch hin und wieder ausnützen.

Mehr Gerechtigkeit für „die Fleißigen und Tüchtigen“, dieser Uralt-Slogan der FPÖ, gewinnt immer mehr an Zuspruch. Wobei unter „fleißig und tüchtig“ auch die RaumpflegerIn und die Supermarkt KassiererIn gemeint sind, nicht nur der Manager oder der kleine oder mittlere Unternehmer. Auch Immigranten, welche sich oft täglich und sehr erfolgreich zum Beispiel mit Nahversorgung oder Botendiensten abrackern, zählen zu dieser neuen, alten Zielgruppe der FPÖ, welche ebenso kritisch die scheinbare Benachteiligung fürchten.

Fast täglich stellen sich tausende die Frage, wie sich Migranten und einstige Asylwerber leisten können, ein dickes Auto zu fahren, ohne dabei einer sichtbar geregelten Arbeit nachgehen zu müssen. Diese Situation schafft Frust. Diese Menschen suchen nach einem politischen Sprachrohr, das so formuliert wie sie fühlen. Ohne Zweifel ein Klientel, das bei der FPÖ einen schutzbringenden Hafen finden könnte.

Die „neue Rechte“

Nicht nur in der Spannweite der beiden Koalitions-Flügel liegt allerdings das große Risiko für die Bestandsfähigkeit des türkis-grünen Bündnisses. Umso mehr als beide Partner bewusst nicht bloß den gemeinsamen Nenner gesucht haben, sondern jeder für sich auch zusätzlich Anliegen des eigenen Wählerklientels verfolgen und befriedigen wollen. Dabei wird es zwangsläufig dazu kommen müssen, das Nervenkostüm des jeweils anderen zu strapazieren. Die entscheidende Frage wird dabei auch sein, wie weit dieses Ausreizen gehen kann, um einen einstimmigen Ministerratsbeschluss doch noch möglich zu machen.

Nicht zu vergessen, ob und wie sich das Lager der Wohlstandsbenachteiligten entsprechend politisch präsentieren und politisch organisieren wird. Das ist nämlich die „neue Rechte“.

Der verloren gegangene blaue liberale Kreis

Wenngleich die ÖVP seit 2017 ohne Zweifel nach rechts gerückt ist, so ist sie noch etwas von einer CSU unter Franz Josef Strauß entfernt, bei der am rechten Rand kein Platz, nicht einmal für ein Stück Papier, war. Die FPÖ wird daher, so die Erwartungslage, auch weiterhin mit ihrer Politik den rechten Flügel und das bis an den Rand bedienen. Daher einen vermeintlichen Linksruck anprangern, mit starken Sprüchen, dem Werben für „echte“ Heimattreue und dem Eintreten gegen jede Form der Ausländer-Infiltration versuchen, den erstaunlich stabilen Stammwählerkern, der bei 14 bis 18 Prozent liegt, um sich zu scharen. Und nicht zuletzt wird man sich der in den letzten Jahren so angegriffenen Burschenschafter annehmen. Sie sind unverändert das intellektuelle Rückgrat der Freiheitlichen. Genau genommen haben diese den so genannten liberalen Kreis abgelöst, der eine Zeit lang eine Art Aushängeschild erfüllte, den es aber mittlerweile de facto in der FPÖ nicht mehr gibt.

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