Donnerstag, 21. November 2024
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Kurz: „Erweiterungsprozess am Westbalkan ist in unserem ureigensten Interesse“

Kein österreichischer Außenminister war in den letzten Jahren international so präsent wie Sebastian Kurz. Im Interview mit der EU-Infothek nimmt die Zukunftshoffnung der ÖVP zum Konflikt in der Ukraine und den bevorstehenden EU-Wahlen Stellung.

[[image1]]Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass der Konflikt in der Ukraine am Verhandlungstisch beigelegt werden kann?

Wir müssen weiterhin alles dafür tun, um eine Deeskalation zu bewirken und das kann nur über einen inklusiven Dialog sowie freie und ordentliche Wahlen am 25. Mai gehen. Das Genfer Abkommen ist vollständig umzusetzen. Ich unterstütze daher die intensiven Bemühungen der OSZE für eine Konfliktlösung voll und ganz.

Was erwarten Sie sich von Präsidentschaftswahlen in der Ukraine? Kann dies eine Stabilität in dem krisengeschüttelten Land bringen?

Freie und ordentliche Präsidentschaftswahlen am 25. Mai sind ein wichtiger Schritt hin zur Deeskalation. Das war auch der Grundtenor beim EU-Außenministerrat am 12. Mai.

Unternimmt die EU genug, um diesen gefährlichen Konflikt zu entschärfen?

Die EU war von Anfang an politisch stark involviert und wird es auch bleiben. Es gibt auch bedeutende wirtschaftliche Hilfszusagen der EU an die ukrainische Regierung. Gleichzeitig hat die EU versucht, mittels Sanktionen Moskau klar zu machen, dass wir über den Völkerrechtsbruch nicht stillschweigend hinwegsehen können.  Sollte es zu einer weiteren Eskalation in der Ostukraine kommen, müssen wir auch über weitere Konsequenzen diskutieren. Parallel dazu haben wir immer das Gespräch mit Moskau gesucht, um zu einer Entspannung der Lage beizutragen.

Russland hat einen Importstopp über 15 heimische Lebensmittel- und Milchverarbeitende Betriebe verhängt. Rechnen Sie mit weiteren Sanktionen durch die Russen, welche österreichische Unternehmen treffen könnten?

Die betroffenen Minister, insbesondere die Minister Rupprechter und Stöger, arbeiten bereits intensiv an der Lösung des russischen Importstopps.

Weg finden, um Abspaltung des Ostens der Ukraine zu verhindern

Wie kann es gelingen, die Ukraine näher an Europa zu binden ohne gleichzeitig Russland als Exportmarkt und Energielieferanten zu verprellen?

Die EU hat mit der neuen ukrainischen Regierung ein Assoziierungsabkommen unterzeichnet – zunächst den politischen Teil, der wirtschaftspolitische soll bald nach den Präsidentschaftswahlen folgen. Damit soll die Ukraine näher an die EU herangeführt werden. Wir sollten aber  keinen „Entweder-Oder“-Ansatz wählen, da die Ukraine sehr starke menschliche wie wirtschaftliche Verbindungen nach Russland unterhält. Es macht keinen Sinn, Kiew endgültig vor die Alternative Brüssel oder Moskau zu stellen, vielmehr müssen alle Seiten mittelfristig einen Weg finden, der zur Stabilität beiträgt und eine Abspaltung des Ostens der Ukraine verhindert. 

Im Österreich spüren EU-kritische Parteien im Vorfeld der EU-Wahl am 25. Mai Aufwind. Glauben Sie, dass die weit verbreitete Skepsis gegenüber Brüssel am Wahltag ihren Niederschlag finden wird?

Gerade vor dem Hintergrund einer im Vergleich zu nationalen Wahlen oftmals niedrigen Wahlbeteiligung ist eine umfassende Information über die Europawahlen von besonderer Bedeutung. Daher ist es wichtig, Bewusstsein für die Bedeutung dieser Wahl und des Europäische Parlaments in der EU-Gesetzgebung und demokratischen Kontrolle zu schaffen.  Wir müssen auch aufzeigen, wie Österreich in den 20 Jahren seiner Mitgliedschaft vom Binnenmarkt und der Erweiterung profitiert hat. So wurden etwa jährlich durch die EU-Mitgliedschaft 17.000 neue Arbeitsplätze geschaffen und jedes Jahr nehmen rund 5000 österreichische Studierende an Erasmus teil. Viele Herausforderungen, wie etwa im Finanzsektor, können zudem nur gemeinsam bewältigt werden und erfordern daher gemeinsame europäische Antworten.

Brauchen in manchen Bereichen mehr und nicht weniger Europa

Die Kleinparteien, die bei der EU-Wahl antreten, fordern einen „Rückbau“ der EU. Eine Liste spricht sich sogar für einen Austritt Österreichs aus. Was läuft in Europa falsch, dass viel mehr von den Nachteilen als von den Vorteilen der EU die Rede ist?

Das hängt vor allem damit zusammen, dass viele Vorteile, die sich aus der EU-Mitgliedschaft ergeben, für viele von uns bereits selbstverständlich geworden sind, sei es die Abschaffung von Grenzkontrollen und die gemeinsame Währung, seien es die Vorzüge der Personenfreizügigkeit oder EU-Bildungsprogramme wie Erasmus. Auch Eurobarometer-Umfragen belegen, dass gerade diese Vorzüge der EU-Mitgliedschaft von den Bürgerinnen und Bürgern als sehr wichtig angesehen werden. Auch im Zuge der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich gezeigt, dass wir in manchen Bereichen mehr und nicht weniger Europa brauchen. Die EU soll daher in jenen Bereichen Vorschriften erlassen, die besser auf EU-Ebene geregelt werden können. Zugleich muss aber berücksichtigt werden, dass es Bereiche gibt, die besser auf nationaler oder regionaler Ebene geregelt werden. Im österreichischen Regierungsprogramm ist daher die Ausarbeitung eines österreichischen Aktionsplans zur Verbesserung der Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit auf EU-Ebene vorgesehen.

Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in zumindest zehn EU-Mitgliedsländern ist einen Schritt vorangekommen. Kritiker meinen allerdings, dass von der ursprünglich geplanten Strafsteuer für Spekulanten nicht mehr viel übrig geblieben ist?

Die Finanzminister von Österreich und weiteren neun EU-Staaten haben am 5. Mai diesen Jahres in Brüssel eine politische Absichtserklärung vereinbart, welche eine stufenweise Einführung der Finanztransaktionssteuer vorsieht. In einem ersten Schritt soll ab dem Jahr 2016 der Handel von Aktien und einigen Derivaten besteuert werden. Dadurch wollen wir den Finanzsektor in angemessener Weise an den Kosten der Bewältigung der Finanzkrise beteiligen und das Finanzsystem als Ganzes stabiler machen. Österreich war von Anfang an ein Befürworter dieser Steuer.

Wie beurteilen Sie die Erweiterungspläne der EU, birgt diese mehr Chancen als Risiken für Österreich?

Der Erweiterungsprozess am Westbalkan ist in unserem ureigensten Interesse. Der Westbalkan ist für uns aufgrund der geographischen Nähe, wirtschaftlichen Verflechtung und historischen Verbundenheit von besonderer Bedeutung. Schon jetzt ist Österreich in Serbien und Bosnien und Herzegowina etwa der größte Auslandsinvestor und belegt auch in allen übrigen Staaten der Region einen der vordersten Plätze. Österreich wird deshalb von der Erweiterung am Westbalkan stark profitieren.

Sollen die Erweiterungspläne der Europäischen  Union  auch die Türkei umfassen, die ja zuletzt in Sachen Menschenrechte massiv kritisiert wurde?

Die Türkei ist ein wichtiger Partner für die EU und auch Österreich ist menschlich wie wirtschaftlich eng mit der Türkei verbunden. Es ist daher  gut, in Gesprächen zu sein. Wir haben aber noch einen langen Weg vor uns, dessen Ausgang noch unklar ist. Es darf bei den Beitrittsverhandlungen auch zu keinen Abstrichen bei den Grundrechten kommen. Wir setzen uns daher für eine rasche Behandlung der Verhandlungskapitel zu Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit ein.

Was erwarten Sie sich von dem künftigen EU-Kommissionspräsidenten, welchen Problemen sollte er sich vor allem widmen?

Die Europäische Union steht vor großen Herausforderungen, neben der nachhaltigen Absicherung der Wirtschafts- und Währungsunion vor allem die Förderung von Wachstum und Beschäftigung in Europa. Wenn auch Europa mit einem rund 20%igen Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt und einem ebenso großen Anteil am weltweiten Außenhandel mit Drittstaaten weiterhin eine wirtschaftlich führende Region ist, geht es langfristig um die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit und des erfolgreichen europäischen Lebens- und Sozialmodells. Dem Präsidenten der Kommission kommt in diesen Fragen eine sehr wichtige Rolle zu. Auch gilt es die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, die sich in Bürgerinitiativen an die Kommission wenden und auch an öffentlichen Konsultationen beteiligen, stärker zu berücksichtigen und umzusetzen.
 

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