Donnerstag, 21. November 2024
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Braucht Brüssel eine eigene Armee?

Die Idee ist uralt, sorgt aber  immer noch megamäßig für  Emotionen:  Das musste EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zur Kenntnis nehmen, als er kürzlich in einem Interview mit der deutschen „Welt am Sonntag“ für die Schaffung einer eigenen EU-Armee  eintrat.  Mit einer solchen Truppe könnte Europa „glaubwürdig auf eine Bedrohung des Friedens in einem Mitgliedsland oder in einem Nachbarland der Europäischen Union reagieren“, argumentierte Juncker.

Zugleich würde man Russland klar machen, „dass wir es ernst meinen mit der Verteidigung der Werte der Europäischen Union“. Schon allein der symbolische Wert daran wäre für die Union ein Riesenvorteil, denn so könnte ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik künftig glaubwürdiger werden: Europa habe nämlich „enorm an Ansehen verloren“, konstatierte der EU-Boss zutreffender Weise, „und außenpolitisch scheint man uns nicht ganz ernst zu nehmen“.

Seine Wortmeldung rief naturgemäß viele Kritiker umgehend auf den Plan: Ein solches Projekt sei undenkbar, meinten die einen, weil eine einheitliche EU-Armee, die alle nationalen Streitkräfte ersetzen würde, für die Mitgliedsstaaten wieder einmal zum Verlust erheblicher hoheitlicher Rechte führen würde. Die Befehlsgewalt und Souveränität über das Militär an Brüssel zu übertragen sei für viele Regierungen praktisch illusorisch, war zu vernehmen, weil das einen Verlust von Macht und Stärke bedeuten würde. Ein solches Vorhaben, das übrigens schon nach dem Start des Kalten Krieges im Jahr 1950 von Winston Churchill aus Angst vor einem Angriff der UdSSR vorgeschlagen worden war, könne folglich niemals funktionieren. Es sei sinnlos und kontraproduktiv, kritisierten wiederum andere, dem transatlantischen Verteidigungsbündnis NATO eine rein europäische Alternative gegenüberzustellen.

Juncker bekam für sein Vorpreschen freilich auch Rückendeckung, zum Beispiel seitens der deutschen Bundesregierung. Es sei an der Zeit für einen neuen Schub in der europäischen Verteidigungspolitik, meinten sowohl CDU- als auch SPD-Abgeordnete, denn die Effizienz der europaweiten Heere ließe sich beträchtlich verbessern. Schon eine Europa-Armee mit etwa exzellent ausgebildeten und bestens ausgerüsteten 100.000 Soldaten, über die bereits im vergangenen Jahrzehnt viel diskutiert wurde, könnte die Verteidigungsbereitschaft deutlich erhöhen, weil damit die ineffiziente Aufteilung der Union in nationale Verteidigungsmärkte überwunden wäre. Die Bündelung der Kräfte müsste jedenfalls weit mehr bringen, als die seit bald elf Jahren bestehende European Defense Agency (EDA) jemals zusammengebracht hat. Diese in Brüssel ansässige Agentur, der mit Ausnahme von Dänemark alle EU-Mitgliedsstaaten plus Norwegen, Schweiz und Serbien angehören, kümmert sich um mehr Kooperation im Verteidigungsbereich, aber das war‘s leider auch schon. Jetzt, nach 14 Monaten Kriegsgerassel in der Ukraine, müsste Brüssel sich endlich dieses Themas annehmen und eine Entscheidung pro oder contra EU-Armee fällen. Ein paar Fakten zum Background sprechen nämlich eine klare Sprache.

EU schlägt USA

Den EU-Granden müsste eigentlich bekannt sein, dass die Militär-ausgaben in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten tendenziell massiv ausgeweitet werden: Im Zeitraum von 2004 bis 2013 etwa stiegen sie in nicht weniger als 23 Staaten um zumindest 100 Prozent, vielfach auch um deutlich mehr an. Rekordhalter waren Afghanistan (plus 557 %) und Aserbaidschan (+ 493 %), aber auch im Irak, Georgien, Kasachstan, Ghana und Angola wurde massiv aufgerüstet. Während die  Militärausgaben in Argentinien (um 155 %), in Saudi-Arabien (um 118 %) und in Russland (um 108 %) aufgestockt wurden, gingen sie in den west- und zentraleuropäischen Ländern alles in allem um 6,5 Prozent zurück. Spanien, Ungarn und die Niederlande schafften die höchsten Kürzungen.

Im Jahr 2013 betrugen die weltweiten Rüstungsausgaben laut jüngstem Report des Stockholm International Peace Research Institutes (SIPRI) 1.747 Milliarden US-Dollar, was 2,4 Prozent des globalen Brutto-inlandsprodukts entsprach. Fast ein Drittel davon – 640 Milliarden – entfielen auf die Vereinigten Staaten, die damit weit vor der Volksrepublik China (188 Mrd.) und Russland (88 Mrd.) rangierten. Neben Saudi-Arabien, Japan, Indien und Südkorea waren auch drei EU-Staaten – Frankreich, das Vereinigte Königreich, sowie Deutschland – in den Top 10 vertreten. Wenn man allerdings die Heeresetats kumuliert, so lagen die west- und zentraleuropäischen Staaten mit 312 Milliarden US-Dollar auf Platz Zwei. Doch nicht genug damit: Die EU28 stellt insgesamt mit fast 1,7 Millionen Soldaten mehr als die USA (siehe Tabelle unten) – und lediglich  die Volksrepublik kann mit 2,3 Millionen noch mehr aufbieten als die Union.

Längst erwiesen ist allerdings, dass Europas militärische Fähigkeiten in sicherheitspolitischer Hinsicht unzureichend sind, so lange es bloß nationale Kleinarmeen gibt, die obendrein weitgehend dasselbe machen und im Ernstfall wohl komplett überfordert wären. Das gilt etwa für die drei baltischen Republiken, die derzeit lediglich 20.000 Soldaten einsetzen können. Auch das österreichische Bundesheer, ein typisches Opfer von Sparprogrammen und nicht vorhandener politischer Strategien, macht nach der leider misslungenen Volksabstimmung weiterhin eine denkbar schlechte Figur. Die organisatorischen Probleme und finanziellen Nachteile des Status Quo sind indes im ganzen EU-Raum unübersehbar. Es wäre also ziemlich wahrscheinlich, dass eine intensive Zusammenarbeit der 28-EU-Heere unter einem Kommando sowie gemeinsame Anschaffungen von militärischem Gerät große Vorteile respektive erhebliche Einsparungen brächten.

Der frühere NATO-Generalsekretär Javier Solana hat diesbezüglich eine Schlüsselposition inne: Am vergangenen Montag präsentierte er in Brüssel sein in den letzten sechs Monaten ausgearbeitetes Konzept für eine Europa-Armee. Titel: „More Union in European Defense“. Der Vorschlag, in Brüssel ein militärisches Hauptquartier zu errichten, wird mit Sicherheit auf internationaler Ebene eben so viel Staub aufwirbeln wie einige andere Aspekte aus diesem Schriftstück. Erste Reaktionen aus Moskau sind bereits eingelangt: Auf Twitter bezeichnete der Duma-Abgeordnete Leonid Slutsky die Europäische Union als „paranoid“, weil sie Russland drohe, obwohl sein Land doch mit niemandem Krieg führen wolle. Wenig Sympathien mit dem Projekt signalisierte auch Jan Techau, Chef des Think Tanks Carnegie Europe: Er hält eine eigene EU-Truppe für „eine Illusion“ – etwas, von dem Brüssel „Lichtjahre entfernt“ sei.  Aus den Vereinigten Staaten, die die NATO als ihr Werkzeug betrachten, sind letztlich auch keine positiven Kommentare zu erwarten.

 

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