Montag, 30. Dezember 2024
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Der zentrale Mythos Europas: das Fahrrad

Eine der ältesten Metapher zur Erklärung der EU ist jene vom Radfahrer. Sie wurde auch schon zu Zeiten von EG und EWG verwendet. Ihr Inhalt: Die EU müsse ständig nach vorne weiterfahren, sonst würde sie umfallen. Und rückwärts fahren geht überhaupt nicht.

In der Tat: So funktioniert die EU. Aber funktioniert sie so? Denn im wirklichen Leben wissen Menschen wie Unternehmen wie „normale“ Organisationen: Es ist nicht nur weise, sondern auch oft notwendig, bisweilen einen oder zwei Schritte zurück zu machen, um einen Fehler auszubessern. Nur ein solches elastisches Verhalten macht krisenbeständig und widerstandsfähig. Nur aus Fehlern kann man lernen. Dinge werden nur besser, wenn man bereit ist, als Ergebnis eines Lernprozesses etwas anders zu tun.

Die Politik jedoch tut sich – auf allen Ebenen – mit dieser eigentlich selbstverständlichen Weisheit schwer. Welcher Politiker gibt schon gerne Fehler und Irrtümer zu? Sie glauben fast alle – vom eigenen Dünkel oder von schlechten Beratern darin bestärkt –, sich allwissend und fehlerfrei geben zu müssen.

Diese Beobachtung eines ganzen Journalistenlebens hat (in der Zeitschrift „Psychologie heute“) jetzt auch der Psychologieprofessor Dietrich Dörner aus wissenschaftlicher Warte ganz ähnlich formuliert: Gute Herrscher „sammelten Informationen und hatten auch Nebenwirkungen und langfristige Folgen im Auge. Sie zeigten sich offen für Einwände und suchten, auch nachdem das Projekt ins Rollen gekommen war, nach Indizien, die auf Probleme hinweisen könnten. Sie prüften ihre Entscheidungen kritisch, reflektierten die eigene Position und waren deshalb in der Lage einmal gefasste Pläne zu revidieren.“ Und die schlechten Herrscher „waren genau hierzu nicht in der Lage. Diese Versuchspersonen begingen ihre Fehler nicht aus Dummheit, sondern weil sie . . . ihr Weltbild nicht aufgeben mochten.“

In Nationalstaaten korrigieren Wahlen

Dieses Verhalten wirkt sich in der EU am allerschlimmsten aus. Denn in jedem Staat, in jeder Provinz, in jeder Gemeinde gibt es im Gegensatz zur EU eine sehr gute Methode, Fehler und Irrtümer zu korrigieren: Das sind Wahlen. Wenn sie einen Machtwechsel herbeiwählen, dann wollen die Wähler damit den Wunsch nach der Korrektur begangener Fehler ausdrücken. Und in der Regel werden daher die neuen Machthaber in der Folge diese Korrekturen auch wirklich durchführen.

Nur in der EU, da können Wahlen de facto nichts ändern. Nur in der EU gibt es seit ihren allerersten Tagen keinen Richtungswechsel. Zwar amtiert alle paar Jahre eine neue EU-Kommission. Aber keine hat sich bisher als Wende, als Alternative zu einer Vorgänger-Kommission gesehen, sondern immer nur als deren kontinuierliche Fortsetzung „im europäischen Geiste“ (was auch immer der genau sein soll denn die Akkumulierung von immer noch mehr Macht). Zwar sitzt im mächtigsten Gremium, dem Europäischen Rat, immer wieder ein neues Gesicht als Folge eines Regierungswechsels. Aber bisher ist in diesem Mechanismus noch jeder in die Kontinuität dieses Gremiums hineingewachsen, hineingezwungen worden.

Das ist manchmal sinnvoll, wie etwa beim Umgang mit einem neuen griechischen Ministerpräsidenten, der ein halbes Jahr lang mit levantinischen Schmähs Europa in einen basisdemokratischen Debattierklub nach kommunistischer Studentensitte verwandeln wollte, bis er sich dann zumindest nach außen ein wenig fügen musste.

Ein Dinosaurier vor dem Aussterben?

In vielerlei anderer Hinsicht ist das aber schlecht und kann sogar den Untergang Europas auslösen. Denn wenn de facto Fehler nie korrigiert werden, wenn vom Rat über die Kommission bis zur Beamtenschaft Fehler nicht einmal zugegeben werden, dann wird die Union zum Dinosaurier. Sie muss am Ende untergehen, weil sie sich nicht den ständig wechselnden Umweltbedingungen anpasst.

Das Ganze wird dadurch verschlimmert, dass die EU – wie fast jede politische Struktur! – ständig zu immer noch mehr Regeln tendiert. Massive Überregulierung und imperiales Overstretching sind aber langfristig der Tod jedes politischen Gebildes. Deshalb ist die Schweiz das langfristig stabilste System Europas, weil dort die direktdemokratischen Bürger Überregulierung, Machtakkumulierung, Elitenhochmut und Overstretching verhindern können.

Die EU hat zwar sehr detaillierte und ausgefeilte Regeln, wie sie zu neuen Richtlinien und Verordnungen kommt. Sie hat aber fast keine Mechanismen und schon gar keine Erfahrung, wie man nach langwierigen Prozeduren gefundene Regeln wieder außer Kraft setzt, wenn diese sich als Fehler erweisen. So würde heute – um nur ein konkretes Beispiel zu zitieren – zwar das Glühbirnenverbot wohl nicht mehr beschlossen werden. Aber dennoch ist de facto unmöglich, es wieder rückgängig zu machen.

Dabei sind die informellen, gar nicht in Gesetzbüchern stehenden Usancen der EU noch viel unantastbarer. Sie bestehen vor allem in der zentralen Überzeugung aller EU-Akteure, worin ihre Hauptaufgabe besteht: Sie hätten vor allem darauf zu schauen, dass der Radfahrer EU keinesfalls vom Rad stürzen dürfe. Dieser Glaube ist in ihren Augen weit wichtiger und mächtiger als alle Regeln im Gesetzesrang.

Das hat sich etwa ganz besonders rund um den Euro gezeigt. Da wurden schon am Anfang Länder in den Euro aufgenommen, die ganz eindeutig nicht den erst knapp davor feierlich beschlossenen Aufnahmekriterien (Maastricht) entsprachen. Es war ja keineswegs nur Griechenland, das diesen Regeln nie entsprochen hat. Aber in Europas Elite herrschte der dumpfe Konsens, dass die Aufnahme von Athen & Co, dass Regelverstöße irgendwie gut für Europa wären. Heute spüren zwar fast alle insgeheim, wie falsch das war. Trotzdem wagt es keiner, das zurückzunehmen, oder zumindest den Fehler laut anzusprechen.

In diesem Europamythos wurden und werden rund um den Euro immer wieder auch andere europäische Regeln ignoriert und verletzt. Man denke etwa an all das, was die Zentralbank in den letzten Jahren getan hat, was das deutsche Höchstgericht als eindeutige Vertragsverletzung einstuft, der EuGH jedoch nicht. Viele Länder von Frankreich bis eben Griechenland verstoßen auch seit langem gegen die ganz genau ausgefeilten Vorschriften über die Limitierung von Defiziten in Staatshaushalten. Aber abgesehen von ein paar Ermahnungen hatte auch das jahrelang nie konkrete Konsequenzen. Allen EU-Funktionsträgern war ausgesprochen oder unausgesprochen klar: Wenn man das thematisiert, dann hilft man ja den „Europagegnern“. Daher kam alles, so lange es ging, wieder unter den Teppich.

Das gilt auch für das intensiv verletzte Bailout-Verbot einer Finanzhilfe der EU oder eines Mitgliedsstaates für andere Mitgliedsstaaten. Solange eine solche Rechtsverletzung als „im Geiste Europas“ dargestellt werden kann, wird sie einfach hingenommen. Jeder Verweis auf Rechtswidrigkeiten oder auf die Fehler und Gefahren der EU-Politik wird sofort als „Europafeindschaft“ diskriminiert. Als ob nicht gerade ehrliche Kritik samt rascher Fehlerkorrektur das Allerwichtigste und Allerbeste für eine gute Zukunft Europas wäre.

Der EuGH als oberster Radfahrer

Freilich: Selbst wenn EU-Kommission, Europäischer Rat und Beamtenschaft fehlereinsichtig und korrekturfähig wären, verhindert eine andere, nämlich die alleroberste EU-Ebene endgültig jede rettende Korrektur. Europas oberste Ebene sind nicht etwa die europäischen Bürger. Das ist der Europäische Gerichtshof.

Es gehört geradezu zum Wesen eines Oberstgerichts, sich in seiner Allmacht nur an eines gebunden zu fühlen: an die Präjudizwirkung der eigenen Entscheidungen. Sonst würde man ja die eigene Allwissenheit in Frage stellen.

Für allwissend halten sich zwar viele Menschen. Aber nur Oberstgerichte können diesen Dünkel auch durchsetzen. Niemand kann ja einen Gerichtshof abwählen und so zwingen, Fehler einzusehen oder daraus Konsequenzen zu ziehen. Das ist besonders dramatisch bei einem Gerichtshof, der noch viel allwissender und allmächtiger ist als nationale, als deutsche oder österreichische Oberstgerichte.

Neben dem Glauben an die eigene Unfehlbarkeit hat der EuGH noch einen zweiten, geradezu fanatisch verfochtenen Glauben: eben den an die Fahrradtheorie, daran, dass es immer nur nach vorne gehen müsse. Immer mehr Europa, Integration und Zwang. Immer weniger Nationalstaat, Subsidiarität und Freiheit. Diese mythischen Glaubensüberzeugungen – und nicht etwa EU-Verträge, Verordnungen und Richtlinien – sind die oberste Richtschnur des obersten europäischen Gerichtshofs.

Um auch für dieses Verhalten ein Beispiel zu nennen: Nur mit diesem Mythos, nicht mit irgendwelchen Verträgen ist etwa das EuGH-Urteil erklärbar gewesen, das Österreich zur massenweisen Aufnahme deutscher Studenten auch in jenen Studienrichtungen gezwungen hat, für die diese daheim gar nicht die Studienberechtigung haben.

Der EuGH hat dabei wie bei vielen Urteilen nach seiner obersten Devise gehandelt: Er will immer noch mehr Integration, Europa und Zwang durchsetzen und die Nationalstaaten immer noch mehr entmachten. Bis sie dann halt wie die Briten einen Austritt vorbereiten.

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