Donald Franciszek Tusk ist in eine blöde Situation geschlittert: Der aus Polen stammende EU-Ratspräsident, als eine Art Dompteur für die 28 Mitgliedsstaaten zuständig, hat seit zwei Wochen ein Sorgenkind mehr – Polen.
Was sich die dortige Regierung nach der im Oktober gewonnen Wahl alles leistet, sorgt nämlich europaweit für massive Irritationen. Die mit absoluter Mehrheit regierende rechtsnationale, populistische PiS (Prawo i Sprawiedliwość, was ausgerechnet für Recht & Gerechtigkeit steht) hat seit ihrem Amtsantritt Mitte November beispielsweise etliche Schlüsselpositionen – etwa in Ministerien, bei Polizei, Geheimdiensten, Gerichten, Armee und Staatsunternehmen – mit parteinahen Günstlingen besetzt. Am Silvesterabend peitschte sie sodann ein äußerst bedenkliches neues Mediengesetz durch das Parlament, das ihr den direkten Einfluss auf die öffentlich-rechtlichen Medien wie das staatliche Fernsehen sichert.
Ratspräsident Tusk muss das, was in seinem Heimatland passiert ist, mit ähnlicher Fassungslosigkeit mitverfolgen wie die gesamte EU-Kommission in Brüssel. Deren Präsident Jean-Claude Juncker sowie der für Medien zuständige Kommissar Günther Oettinger haben umgehend angekündigt, dass die Union gegen Polen ein so genanntes Aufsichtsverfahren wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in die Wege leiten werde, sofern diese üble Chose von der polnischen Regierung nicht raschest planiert werde. Tusk, der elf Jahre Vorsitzender der liberal-konservativen Bürgerplattform – kurz PO – und von 2007 bis 2014 Ministerpräsident war, kann sich zumindest damit trösten, dass die jetzigen Machthaber in Warschau beileibe nicht zu seinen Freunden zählen, sondern vielmehr langjährige Erzrivalen sind. Das trifft sowohl auf den ziemlich farblosen Staatspräsidenten Andrzej Duda als auch auf die recht smart auftretende Ministerpräsidentin Beata Szydło zu, die offenbar das Ziel anpeilen, das Land auf autoritäre Weise zwecks Ausbaus der eigenen Macht rasch und radikal umzugestalten.
Bei den Präsidentschaftswahlen 2005 unterlag Tusk dem damaligen Warschauer Bürgermeister Lech Kaczynski im zweiten Durchgang, dafür konnte er bei den Parlamentswahlen 2007 gegen dessen Zwillingsbruder Jaroslaw Kaczynski, der zwei Jahre als Ministerpräsident fungiert hatte, die Oberhand behalten. Just dieser Kaczynski ist heute gleichermaßen graue Eminenz und extrem machtgeiler Drahtzieher der nunmehrigen Alleinregierung. Seit er 2010 beim Versuch gescheitert ist, seinem bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Bruder im Präsidentenamt nachzufolgen, begnügt er sich mit der Funktion des Parteivorsitzenden.
Der einstige Solidarność-Sekretär und enge Mitarbeiter von Lech Wałęsa sorgt, stets mit grimmigem Blick und häufig aggressiven Ansagen, gerne für internationale Aufregung: Er hält beispielsweise von engeren politischen Beziehungen zu Deutschland und Russland gar nichts, weil ihm Angela Merkel ebenso suspekt wie Wladimir Putin ist. Auch der Europäischen Union steht Kaczynski mit geballter Skepsis gegenüber, obwohl sein Land der größte Subventions-empfänger unter allen 28 Mitgliedstaaten ist: In der Finanzperiode 2014 bis 2020 erhält Polen aus Brüssel immerhin mehr als 80 Milliarden Euro – wer so kraftvoll absahnt, müsste sich jedoch zumindest strikt an die gängigen demokratischen Spielregeln halten. Der polnische Parteichef wettert obendrein in jüngster Zeit gerne gegen Flüchtlinge, weil diese – wie er es formuliert hat – „alle Arten von Parasiten und Bakterien ins Land bringen“ würden. Polen ist demnach keineswegs bereit, in Zukunft Asylanten aufzunehmen, ein weiterer Affront gegenüber der Gemeinschaft.
Die gefährliche Allianz der Nationalstaaten
In den letzten Wochen ist die regierende PiS mit einer Reihe umstrittener Maßnahmen und Gesetzesbeschlüsse ins Visier der EU geraten, die selbstverständlich nicht tatenlos zusieht, wenn in Warschau etwa reihenweise Verfassungsrichter und Fernsehdirektoren abgesetzt werden. Die Kommission untersucht folglich gerade, wie sehr der Rechtsstaat und die Pressefreiheit in Polen in Gefahr sind, will mit den polnischen Machthabern zwar in aller Ruhe verhandeln, könnte jedoch, wenn das alles nichts nützt, mit heftigen Sanktionen reagieren – das wäre letztlich der Entzug des Stimmrechts für das zusehends isolierte Polen.
Doch abgesehen vom britischen Premier David Cameron, der die Macht der EU-Institutionen kräftig stutzen und die der Nationalstaaten wieder ausbauen möchte, kann das polnische Enfant Terrible mit der Unterstützung des umstrittenen ungarischen Premiers Viktor Orban rechnen. Dieser traf unlängst mit Kaczynski zu einem fünfstündigen Privatissimum zusammen, in dem zweifellos die Kernfrage erörtert wurde, wie man die Union weiterhin am besten sekkieren könnte. Danach kündigte Orban vollmundig an, dass er EU-Sanktionen gegenüber Polen „niemals unterstützen“ werde.
Das heißt, dass Jean-Claude Juncker und seine Kommission äußerst diplomatisch vorgehen sollten. Die Gefahr, dass sich die beiden aufmüpfigen Mitgliedsländer mit den Visegrád-Staaten Tschechien und Slowakei als eine Art interne EU-Opposition formieren, die auch alle Sympathien der Briten hätte, sollte nämlich von der EU-Führung nicht unterschätzt werden. Ein solches Bündnis von extrem eingefleischten Nationalstaaten würde die erhoffte EU-weite Aufteilung der Flüchtlinge endgültig torpedieren und damit das definitive Scheitern der derzeitigen Causa Prima nach sich ziehen. Die politischen Zentrifugalkräfte würden massiv stärker werden, und der Zusammenhalt innerhalb der Union wäre in dieser ohnedies prekären Situation aufs Ärgste gefährdet. Dass die polnische Regierung rasch Vernunft annimmt, kehrt macht und ihre Machtgelüste wieder einbremst, ist jedoch nicht besonders realistisch. Wahrscheinlicher ist es, dass sie gegenüber Brüssel – so wie Orban das vor Jahren vorexerziert hat – zu einigen Zugeständnissen bereit ist, aber an der großen Linie festhält und damit den Rechtsstaat weiterhin Schritt für Schritt demontiert. Ratspräsident Donald Tusk wird ohnmächtig zusehen müssen, was seine politischen Widersacher und Nachfolger dem Land alles antun: So ist Polen bald verloren…