In Kiew steht ein Machtwechsel unmittelbar bevor: Präsident Petro Poroschenko kündigte in einem TV-Interview an, dass der heftig kritisierte Premierminister Arsenij Jazenjuk, der schon selber mit seinem Rücktritt gedroht hat, in den nächsten Tagen endgültig von der Bildfläche verschwinden solle. Ersetzen dürfte ihn Wladimir Groisman, derzeit Parlamentschef und seit langem ein enger Vertrauter Poroschenkos, dessen Partei ihn auch vorgeschlagen hat. Um die seit Monaten schwelende Regierungskrise endlich zu beenden, haben selbst die von Jazenjuk angeführte Partei „Volksfront“ und die „Vaterlandspartei“ der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko signalisiert, für Groisman stimmen zu wollen.
Den Machtkampf mit Jazenjuk, dem vorgeworfen wird, fast alle dringend fälligen Reformen verschleppt zu haben, dürfte der Präsident also gewinnen, doch an der katastrophalen Lage im Land wird sich wohl nichts ändern. Denn Petro Poroschenko, dessen Partei der Regierungskoalition angehört und jedenfalls alle Unterlassungen mitzuverantworten hat, ist alles andere als der große Problemlöser, sondern ein Teil der Misere: Der US-hörige Großindustrielle, der bereits seit 2005 verschiedene Regierungsämter bekleidet hatte, ist zwar nicht ganz so unbeliebt wie Jazenjuk, dem massive persönliche Bereicherung in den vergangenen Jahren angelastet wird, doch auch ihm misstraut das ukrainische Volk in beträchtlichem Ausmaß. So etwa wird ihm übel genommen, dass er bis heute weder seinen Schokolade-Konzern Roshen noch seine Mediengruppe rund um den TV-Sender Kanal 5 – wie vor zwei Jahren versprochen – verkauft hat. Dem ebenso machtgeilen wie eitlen Oligarchen, der sich bei Polit-Meetings am liebsten an der Seite von Barack Obama, Angela Merkel & Co. zeigt, wird naturgemäß auch angekreidet, dass er zwar vorgibt, gegen die bedrohliche Machtfülle seiner oligarchischen Standeskollegen vorzugehen, dabei aber völlig chancenlos ist. Als Ober-Oligarch stellt er sich überdies gerne als Retter der Nation dar, hat jedoch weder in politischer noch ökonomischer Hinsicht etwas Nennenswertes geschafft, um sein Land aus dem Chaos zu holen.
Die Ukraine, die am Tropf des Internationalen Währungsfonds hängt, kann daher unter diesem apathischen Präsidenten alte Probleme nicht und nimmer bewältigen und folglich keinen neuen Kurs einschlagen: Die Korruption blüht wie eh und je, das Justizsystem funktioniert nicht, die Wirtschaft ist schwer angeschlagen, der Währungskurs abgestürzt. Damit nicht genug: Die militärischen Zusammenstöße im Osten des Landes sind noch immer nicht beendet, weil Kiew nicht bereit ist, das Minsker Abkommen buchstabengetreu zu erfüllen. Der Starrsinn und die Lethargie des Herrn Oligarchen ist letztlich eine Art Garantie, dass die Ukraine ein krankes, kleptokratisches, von korrupten Funktionären und Bürokraten sowie machtgierigen Oligarchen ausgebeutetes Staatswesen bleiben muss. Und deshalb ihre politischen Träume, nach dem totalen Zerwürfnis mit dem einstigen großen Bruder Russland zumindest in die westliche Familie aufgenommen zu werden, einfach ad acta legen sollte.
Hugh – Juncker hat gesprochen
Vor rund drei Wochen hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei einem Auftritt in Den Haag erklärt, dass die Ukraine „in den nächsten 20 bis 25 Jahren definitiv kein Mitglied der EU“ sein werde. Das erklärte Ziel des Landes, auch möglichst bald der Militärallianz NATO beizutreten, hält Juncker für ähnlich unrealistisch. Ein schwacher Trost mag sein, dass zumindest das ohnedies bereits mit Jahresbeginn provisorisch in Kraft getretene Assoziierungsabkommen EU/Ukraine endgültig abgesegnet wird – egal, wie das Referendum in den Niederlanden am 6. April ausgeht. Schließlich haben die Präsidenten, die Regierungen und die Parlamente, ja sogar die Monarchen von Spanien, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien, dem 1.200 Seiten umfassenden Vertragswerk längst zugestimmt – alles Weitere ist Formsache. Leider bedeutet das für die Ukraine, dass sie eine Entweder/Oder-Entscheidung zu treffen hatte und ein Sowohl/Als auch nicht möglich gewesen ist. Mit diesem Pakt wurde Kreml-Boss Wladimir Putin dermaßen gereizt, dass alles, was seit dem Maidan über die Annexion der Krim bis heute geschehen ist und immer noch passiert, als Serie von logischen Konsequenzen zu sehen ist.
Doch anders als damals, als sich Brüssel die Ukraine angelacht, ihr mit allerlei Versprechungen den Kopf verdreht und das Land praktisch zum Bruch mit Russland gezwungen hat, geht die Europäische Union heute auf Distanz zu diesem gespaltenen, zerrütteten und hochverschuldeten Staat – weil sie offenbar Angst hat. Angst vor einem potenziellen Partner, dessen innerer Zustand noch viele Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte nicht so sein kann, wie er sein müsste, um an die EU anzudocken. Und Angst, dass die Ukraine statt eines Brückenbauers zwischen West und Ost für die beiden Lager der ewige Zankapfel bleiben muss, was die Beziehungen der EU zum Kreml auf Jahre hinaus massiv belasten würde.
Für die Ukraine, die nunmehr enttäuscht im Regen steht, wäre ein neue, entschlossene und ausnahmsweise einmal nicht korruptionsanfällige Regierung die Voraussetzung Nummer Eins, um sich irgendwann von diesem vielschichtigen Schlamassel zu befreien. Zuletzt hatte Poroschenkos Partei noch auf einige unkonventionelle Personalexperimente gesetzt, die freilich auch nicht viel gebracht haben: Die Finanzministerin ist eine gebürtige Amerikanerin mit ukrainischen Wurzel, die einfach eingebürgert wurde, der Gesundheitsminister stammt aus Georgien, wo er auch schon diese Funktion innegehabt hatte, und im Wirtschaftsministerium kam im Dezember 2014 ein mit einer Ukrainerin verheirateter Litauer zum Zug, der allerdings kürzlich aus Frust zurückgetreten ist. Der Präsident hat obendrein den Ex-Präsidenten Georgiens, Michail Saakaschwili, vor rund einem Jahr zum Gouverneur in Odessa gemacht. Dieser schaffte es mit Hilfe eines von ihm gegründeten Antikorruptions-Forums, nicht nur Hoffnungen in der Bevölkerung zu wecken, sondern gleich auch noch beliebtester Politiker in der Ukraine zu werden.
Trapezakt ohne Netz
Saakaschwili suchte gezielt die Konfrontation mit Ministerpräsident Jazenjuk, dem er die Schuld am Versagen der Regierung zuschob: Die Ukrainer, die so viel gelitten, aber auch toleriert haben, hätten zu Recht das Vertrauen in die Regierung und den Staat verloren. Er brachte sich alsbald als potenzieller Jazenjuk-Nachfolger ins Spiel, dürfte aber eben so geringe Chancen haben wie die eingebürgerte Finanzministerin Natalia Jaresko, die ebenfalls gewisse Ambitionen zeigt, so etwas wie eine Reform-Regierung anführen zu wollen. Dieser Trapezakt ohne Netz dürfte wohl dem erst 38-jährigen Poroschenko-Intimus Wladimir Groisman blühen, der voraussichtlich weitgehend die bisherige Ministerriege übernehmen muss. Große personelle Veränderungen, etwa die Ablöse des wegen seiner Ränkespiele vielerorts verhassten Innenministers Arsen Awakow, werden nämlich ein Wunschtraum und etliche Apparatschiks aus früheren Zeiten im Amt bleiben.
Dass es ausgerechnet Groisman, früher Bürgermeister der Stadt Winnitsa und schon kurzfristig Jazenjuk-Vize, schaffen könnte, den Intrigen-Stadel namens Regierung auf Reformkurs zu trimmen, muss jedenfalls bezweifelt werden. Er ließ zwar vorab mit wohlklingenden Zitaten aufhorchen – „Ich will mit Leuten arbeiten, die Vertrauen und keinen Ekel hervorrufen“ – , doch die Rahmenbedingungen sehen ganz anders aus: Die verkorksten politischen Strukturen aus der Vergangenheit – optimal geeignet, dass Regierungsmitglieder ihr eigenes Süppchen kochen, aber niemand die Suppe für die Ukraine – sind in diesem Land ebenso schwer zu zerschlagen wie die ehernen wirtschaftlichen Grundgesetze – Stichwort: Macht der Oligarchen. Die Ukraine, die vor etwas mehr als zwei Jahren den Aufbruch gewagt hat, jedoch von einem Krieg weit zurückgeworfen wurde, braucht daher auf der Suche nach ihrer Zukunft vor allem eines: einen langen Atem…