Auf den ersten Blick wirkt alles noch recht pompös: Die Europäische Volkspartei (EVP), die sich als konservativ und christich-sozial definiert, hat 75 Mitgliedsparteien in 40 Ländern. Nicht weniger als 50 davon sind in 27 EU-Staaten präsent – nur David Camerons Tories in Großbritannien gehören der EU-kritischen, eher national-konservativen und rechtspopulistischen Fraktion „Europäische Konservative und Reformer“ an.
In manchen Ländern gibt‘s gleich mehrere konservative Volksparteien, vier zum Beispiel in Rumänien und der Slowakei. Im EU-Parlament sind die Christdemokraten mit 215 Mandataren die klare Nummer Eins vor den Sozialdemokraten mit 190 Sitzen. Die EVP stellt mit Jean-Claude Juncker den Kommissionspräsidenten, weiters drei Vizepräsidenten, zehn Kommissare und mit Donald Tusk auch noch den Präsidenten des Europäischen Rates.
Auf den zweiten Blick schaut der Jetzt-Zustand dieser Organisation schon weniger erfreulich aus: Konservative Regierungschefs sind nur noch in sechs der 28 Mitgliedsstaaten an der Macht. Abgesehen von Deutschland, wo Angela Merkel als eine Art schwarze Sonnenkönigin alle europäischen Parteikollegen noch souverän in den Schatten stellt, ist das in Ungarn, Irland, Zypern, Bulgarien und – möglicherweise mit baldigem Ablaufdatum – Spanien der Fall. Die so genannten Volksparteien stellen obendrein in fünf EU-Ländern den Vizepremier – neben Österreich in Belgien, Kroatien, Tschechien und Lettland. Schließlich dürfen sie in Italien, Finnland und Estland als Juniorpartner in einer Koalition etliche Ministerposten bekleiden – macht also insgesamt 14 Länder, wo konservative Parteien noch etwas zu sagen haben. Obendrein stammen sieben aktive Staatspräsidenten – von Griechenland und Zypern über Bulgarien und Rumänien bis Finnland – aus ihren Reihen, obzwar diese bisweilen ihre Parteimitgliedschaft ruhend gestellt haben. Das vermag aber nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die Konservativen im EU-Bereich schon einmal eine viel wichtigere Rolle gespielt haben: In jüngerer Zeit wurden sie beispielsweise in Portugal, Luxemburg, den Niederlanden, Polen, Rumänien, Griechenland und Malta von den Wählerinnen und Wählern abgestraft und in die Wüste – sprich: Opposition – geschickt.
Auf den dritten Blick verfinstern sich die Zukunftsaussichten für die derzeit noch stärkste Polit-Allianz Europas total: Die einstmals vielfach staatstragenden konservativen Parteien, die jahrzehntelang gemeinsam mit den sozialdemokratischen den Platz an der Macht gepachtet zu haben schienen, verlieren seit geraumer Zeit fast durchwegs und in geradezu atemberaubenden Tempo Wahlen, Stimmen, Vertrauen und Einfluss. Aus heutiger Sicht liegt es nahe, dass man für die Schwarzen nur noch schwarz sehen kann: Ähnlich wie ihre linken Kontrahenten, deren Absturz ins Bodenlose an dieser Stelle kürzlich analysiert wurde (siehe EUI 10.02. und 17.02.2016), sind ehemalige Großparteien aus dem konservativen Lager zu politischen Nebendarstellern geschrumpft. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, müssen sie in etlichen Fällen sogar ums Überleben bangen. Das schaurigste Beispiel, was ihnen im Extremfall blühen kann, lieferte die italienische Democrazia Cristiana (DC): Als gemäßigte katholische Volkspartei der Mitte hatte sie seit dem Krieg bis 1993 alle Fäden in der Hand und zahlreiche Ministerpräsidenten gestellt – doch plötzlich ging sie im Zuge eines Korruptionsskandals unter, war nicht mehr zu retten und spaltete sich in zahlreiche Splittergruppen auf.
Wählerschwund in Permanenz
Ein Debakel in mehreren Akten macht etwa der Österreichischen Volkspartei zu schaffen: Sie hat ihren Rekord-Stimmenanteil von 1966, als VP-Kanzler Josef Klaus noch dank mehr als 48 Prozent eine Alleinregierung bilden konnte, bis zu den Nationalratswahlen 2013 glatt halbiert. Das ist beileibe kein Einzelfall: Vor allem kleinere Parteien mit schwülstigen Namen wie „Einigkeit“ in Lettland, „Vaterlandsunion“ in Litauen, „Neue Demokratie“ in Griechenland oder „Christlich-Demokratischer Aufruf“ (CDA) in den Niederlanden hat es im Laufe der Jahre voll und nahezu immer erwischt. Die spektakulären Abstürze, die sich seit der Glanzzeit dieser Parteien ereignet haben, sind in der untenstehenden Tabelle im Detail dokumentiert.
Grässliche Ohrfeigen seitens der Wählerinnen und Wähler, die angesichts der sich stark verändernden Parteienlandschaft immer mehr Alternativen vorfinden, setzte es jedenfalls in unterschiedlicher Dramatik für alle: In Dänemark etwa ist die Konservative Volkspartei, die vor dreißig Jahren noch jeden vierten Wähler hinter sich hatte, mit nur noch 3,4 Prozent Stimmenanteil zur kleinsten Fraktion im Parlament verkommen. Andere wiederum haben es wie Rumäniens „Nationale Christdemokratische Bauernpartei“, die „Slowenische Volkspartei“ und die „Slowakische Demokratische und Christliche Union“ (mit nur noch 0,26 Prozent Wählerzuspruch) gar nicht mehr in die jeweilige Volksvertretung geschafft. Und das, obwohl die erste sogar schon einmal den Ministerpräsidenten gestellt hat bzw. die beiden anderen vor noch gar nicht so langer Zeit an die 20 Prozent der Stimmen auf sich vereint hatten.
Nicht nur den kleineren schwarzen Parteien geht es – seit links, aber auch rechts von ihnen neue Mitbewerber reüssieren – an den Kragen: Selbst Europas mächtigste Volksparteien, nämlich die deutsche CDU/SCU, Les Républicains in Frankreich und die spanische Partido Popular (PP), spüren bei Wahlen längst Gegenwind, wenn auch in weniger brutalem Ausmaß: Spannend wird sein, ob die Kanzler-Parteien CDU/CSU, die unter Konrad Adenauer noch mehr als 50 Prozent vorangelegen waren, bei der nächsten Bundestagswahl unter 40 Prozent fallen werden – und wenn ja, wie tief. Ungewiss ist auch, ob Nicolas Sarkozy, der es im ersten Anlauf auf 46,4 Prozent gebracht hatte, beim nächsten Urnengang wieder Aufwind spüren und die 38 Prozent von 2012 übertreffen kann. Eine Zwölferfrage ist es schließlich, ob Mariano Rajoy, der im Dezember 2015 von 44,6 auf schlappe 28,7 Prozent Zustimmung abstürzte, den Negativtrend bei den kommenden Wahlen im Juni beenden wird können.
Denkzettel für alle Volksparteien
Wenig rosige Aussichten darf man auch Silvio Berlusconi prophezeien, dessen mittlerweile wieder in „Forza Italia“ umbenannte Partei „Volk der Freiheit“ im Jahr 2013 von 38 auf 22 Prozent der Wählerstimmen abgesackt ist. Gar keine guten Karten haben aus heutiger Sicht jedenfalls die 2001 von Donald Tusk gegründete liberalkonservative „Bürgerplattform“ in Polen, die mit zuletzt 24 Prozent von der einstigen Supermarke 41,5 Prozent nur träumen kann. Für ihren früheren Koalitionspartner „Polnischen Volkspartei“ sieht es ebenfalls traurig aus, denn der hat sich seit 1993 auf nur fünf Prozent – und damit auf ein Drittel – verkleinert.
Der Denkzettel seitens der Wählerschaft auf Grund personeller, inhaltlicher und programmatischer Ursachen stellt die betroffenen Volksparteien vor eine riesige Herausforderung. Man wird sich ansehen müssen, wie sich Irlands Premier Enda Kelly und seine „Familie der Iren“ (Fine Gael Party) in neuer Konstellation, seit Februar noch noch von jedem Vierten gewählt, behaupten können – zuletzt hatten sie noch mehr als ein Drittel der Wähler hinter sich. Viel Geduld muss auch Luxemburgs Christlich-Soziale Partei aufbringen, die trotz Stimmenverlusten im Jahr 2013 Nummer Eins geblieben, aber sind nunmehr in Opposition befindet. Ähnlich ergeht es in Portugal Ex-Premier Pedro Passos Coelho, dessen Allianz „Vorwärts Portugal“ zwar noch immer stärkste Kraft im Lande ist, doch für eine sozialistische Minderheitsregierung das Feld räumen musste. In Rumänien wiederum darf die dortige liberal-christdemokratische „Nationale Liberale Partei“ (PNL) lediglich das parteilose Kabinett des neuen Ministerpräsidenten Dacian Ciolos unterstützen, aber nicht mehr selbst regieren. Genauso ergeht es in Kroatien der konservativen HDZ, die im Vorjahr zwar Wahlsieger war, allerdings dem von der Staatspräsidentin mit der Regierungbildung beauftragten Tihomir Oreskovic den Vortritt lassen musste.
Während fast allen Volksparteien sukzessive das Volk abhanden kommt, befinden sich zwei in recht komfortablen Situationen – noch: Auf der Insel Zypern ist Dimokratikos Synagermos – auf deutsch: „Demokratischer Alarm“ – seit 2011 die stärkste Fraktion im Repräsentantenhaus. Der vom konservativen Staatspräsidenten Nikos Anastasiadis angeführten Regierung steht freilich eine schwierige Bewährungsprobe bevor: Gut möglich, dass sie bei den nächsten Wahlen im wenigen Wochen ebenfalls bestraft wird, denn die Bevölkerung des nur mit EU-Hilfe über Wasser gehaltenen Landes hat vermutlich noch eine Rechnung offen.
Das zweite positive Beispiel ist Ungarn. Dort schaltet und waltet Viktor Orban an der Spitze eines noch immer von 45 Prozent der Ungarn unterstützten Wahlbündnisses nach Belieben – auch wenn die frühere Zweidrittelmehrheit seit 2014 futsch ist. Die ungarische Regierung wird aus seiner nationalkonservativen, rechtspopulistischen Fidesz und der ähnlich punzierten Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP) gebildet, die auf internationaler Ebene für so manches immer wieder heftig kritisiert wird – erfolglos ist sie letztlich nicht. Doch wenn ein Polit-Hardliner wie Viktor Orban EU-weit einen größeren Zulauf als alle anderen christlich-sozialen Parteien in Europa schafft, dann kann das freilich für die Konservativen nur eines sein: ein Armutszeichen…