Die Option eines Türkei-Beitritts zur EU muss revidiert werden. Wenngleich sich dazu derzeit noch keine einheitliche Meinungsbildung in der Kommission abzeichnet, so gibt es eine Reihe von Fakten, die danach rufen, dass Klartext gesprochen wird.
Was ein Beitritt der Türkei zur EU bedeuten könnte, lässt sich allein durch einen Blick auf die Bevölkerungsstatistik darstellen. Zum Zeitpunkt, da offizielle Verhandlungen zwischen Brüssel und Ankara aufgenommen wurden, zählt das Land am Bosporus rund 72 Millionen Einwohner. Ende 2016 wie das Land bereits 79.8 Millionen Einwohner auf und liegt damit nur noch ganz knapp hinter Deutschland, dem größten EU-Land mit 80,6 Millionen. Bereits in wenigen Jahren wäre bei anhaltendem Bevölkerungswachstum die Türkei der größte Einzelstaat innerhalb der Union. Was aber würde dies für Europa und die EU bedeuten? Überspitzt formuliert, hätte man dann das erreicht, was schon das Ziel des osmanischen Reiches seit dem 14. Jahrhundert war?
Seit 2010 wird Rad der Geschichte zurückgedreht
Als in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 2005 die EU in Brüssel sich dafür entschied, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, wurde dies in weiten Kreisen des weltoffenen Mittelstands, vor allem auch der jüngeren Generation von Istanbul bis Antalya wie ein Befreiungsschlag aufgenommen. Erwartete man sich doch bereits im Zuge der Beitrittsverhandlungen, dass schrittweise längst notwendige Veränderungen im Rechtssystem und im Justizwesen, im Gesellschaftsverständnis, bei der Ausübung der Meinungs- und Medienfreiheit erfolgen. Was auch tatsächlich in den ersten Verhandlungsjahren durch die Anpassung so mancher türkischer Gesetze an europäische Normen geschah. Zu diesem Zeitpunkt war auch Recep Tayyip Erdogan noch eine Art Hoffnungsträger. Etwa ab 2010 begann er freilich damit, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Beginnend damit, dass das bis dahin aus der Zeit Atatürks stammende Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, an den Schulen und Universitäten aufzuheben. Das Kopftuch war dabei nur ein politisches Symbol für einen Kurswechsel.
Abschied vom System westlicher Demokratien
Mittlerweile geht es darum, einen ganz entscheidenden Schritt weg vom System westlicher, parlamentarischer Demokratien zu machen. Mitte April soll die Bevölkerung das Placet für die Einführung eines Präsidialsystems geben. Um das zu erreichen will Erdogan nicht nur bei den rund 60 Millionen Wahlberechtigten werben, die in der Türkei leben, sondern auch die gut sieben Millionen Türken indoktrinieren, die ihre Zelte in Europa aufgeschlagen haben. Und daher will er, ohne Absprache mit den jeweiligen Regierungen, vor allem in den Niederlanden, Deutschland und Österreich, wo die Mehrzahl türkischer Communities zu finden sind, Wahlversammlungen abhalten. Ein bewusster Akt von Des-Integration.
Ankara gefährdet NATO-Partnerschaft für den Frieden
Dass die Regierungen in Den Haag, Berlin und Wien aber kein Interesse haben, dass von außen Konflikte ins Land getragen werden und hier für Unruhe sorgen, will man in Ankara nicht verstehen. Mehr noch, man schlägt verbal um sich, lässt jedes Gespür für diplomatische Gepflogenheiten vermissen und ist empört, dass der Machtbesessenheit des Präsidenten ein Riegel vorgeschoben wird. Anstelle eine Art innere Einkehr zu halten, dreht die Türkei noch weiter an der Eskalationsschraube. So blockiert man nun auch noch Tätigkeiten innerhalb der Aktion „NATO-Partnerschaft für den Frieden“, die die militärische Zusammenarbeit zwischen den 28 Nato-Ländern sowie den Partnerstaaten aus Europa, Asien und ehemaligen Sowjetrepubliken wie Georgien oder der Ukraine umfasst. Die Folgen davon sind, dass die meisten der insgesamt 41 Partnerstaaten nicht mehr zusammen mit NATO-Ländern trainieren oder ausbilden können. Was zur Folge haben könnte, dass wichtige Nato-Einsätze wie im Kosovo, in Afghanistan oder im Mittelmeer gefährdet oder beeinträchtigt werden. Als Grund für die Blockade wird in NATO-Kreisen der Streit zwischen der Türkei und Österreich angegeben.
Uneinigkeit der EU über den Türkei-Kurs
Aber auch die verbalen Attacken aus der Türkei gegen einzelne EU-Staaten nehmen kein Ende. Die offizielle Reaktion der EU hält sich weiterhin in Grenzen, zumal es in Bezug auf die Rolle der Türkei sehr unterschiedliche Positionen zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten gibt. Nebst Wirtschaftsinteressen spielt auch die Scharnierfunktion des Landes zwischen Europa einerseits sowie dem Nahen Osten und der islamischen Welt andererseits eine Rolle. Hinzu kommt, dass eine Achsenbildung von Ankara mit Moskau alles andere als im Interesse Brüssels liegt. Nicht zuletzt will man vor allem den Flüchtlingsdeal nicht gefährden und auch die Mitgliedschaft bei der NATO spielt da eine erhebliche Rolle.
Daraus resultiert, dass man auch mit dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen sehr vorsichtig umgeht. Man darf daher durchaus gespannt sein, ob die EU tatsächlich bereit sein wird, Ankara die Verhandlungstüre zuzuschlagen, sollte das Referendum eine Mehrheit für die Schaffung eines Präsidialsystems und nebst anderem auch für die Einführung der Todesstrafe zustande bringen.
Nur drei Prozent der Türkei liegen in Europa
Wenngleich im Oktober 2005 offiziell die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei offiziell eröffnet wurden, so hat es von allem Anfang immer schon Bedenken gegeben, dass dieses Land, das gerade einmal zu drei Prozent am europäischen Kontinent liegt und von einem doch wesentlichen anderen Kulturverständnis geprägt ist, Vollmitglied werden könnte. Bereits seit 2004 wurde daher die so genannte „privilegierte Partnerschaft“ von CDU, insbesondere von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble als eine Alternative zur Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union vorgeschlagen. Rechtlich könnte sie – vergleichbar mit dem Europäischen Wirtschaftsraum – als Assoziation ausgestaltet werden. Eine Idee, die freilich von Recep Tayyip Erdogan von allem Anfang an vehement abgelehnt wurde. Mit der Begründung, dass schon jetzt die Türkei in einem sehr engen Kooperationsverhältnis steht und eine solche Partnerschaft keine Weiterentwicklung wäre.
Kurz-Ministerium arbeitet an einem EU-Reformpapier
Im Zuge der Vorbereitungen der österreichischen EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 wird im Außenministerium (BMEIA) an einem umfassenden Reformkatalog gearbeitet, das voraussichtlich noch Ende März oder Anfang April vorgestellt werden dürfte. Außenminister Sebastian Kurz will damit nicht nur seine Macherqualitäten unter Beweis stellen, sondern auch einen Kontrapunkt zu gewissen Aktivitäten von Bundeskanzler Christian Kern setzen, der auch Profilierungsversuche am europäischen Parkett vorhat. Dazu gibt es demnächst gleich zwei Anlass-Daten. Nämlich den 60sten Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März, mit denen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aus der Taufe gehoben wurde. Oder aber auch den 66sten Jahrestag der Gründung der Montanunion am 18. April, mit der der Grundstein für die Schaffung einer Union gelegt wurde.
Nachbarschaftsvertrag anstelle privilegierter Partnerschaft
Ein Kapitel wird sich dabei auch dem Verhältnis zur Türkei widmen. Und es wird, wie man dies gerne in Wien nennt, „Tacheles gesprochen“. Soll heißen, man redet nicht herum, sondern spricht klare Worte. So heißt es darin, dass „es Zeit wird, dass Europa das Verhältnis zur Türkei klärt“, zumal sich die Türkei „seit Jahren weg von der EU“ bewegt. Der gescheiterte Putschversuch habe diesen Prozess noch beschleunigt. Das hätte vor allem „dramatische Auswirkungen auf Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“ zur Folge. Die Auswirkungen würden sich mittlerweile in Folge der „inakzeptablen Provokationen im Zusammenhang mit Wahlkampfauftritten im Vorfeld des türkischen Verfassungsreferendums“ bis in einzelne EU-Mitgliedsstaaten zeigen.
Konstruktive Beziehungen auf Augenhöhe
„Der Beitritt dieser Türkei zur EU ist daher undenkbar“, heißt es in dem nun bekannt gewordenen Entwurf des BMEIA. Allerdings wird auch unmissverständlich festgehalten, dass die Türkei ein bedeutender politischer und wirtschaftlicher Akteur sei. Daher liegen „möglichst enge sowie konstruktive Beziehungen auf Augenhöhe“ und das auf allen Ebenen im beiderseitigen Interesse. Um nicht weiterhin an einer Beitrittsfiktion festzuhalten wird ein neuer Vorschlag zur Diskussion gestellt, nämlich ein „Europäisch-Türkischer Nachbarschaftsvertrag“. Basis für den Vertrag sollte eine modernisierte Zollunion sein. Es könnte auch Kooperation in den Bereichen Außen-und Sicherheitspolitik sowie Justiz und Inneres umfassen, einschließlich Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung.
Klare Beitrittsperspektive für Westbalkanstaaten
Interessant in Zusammenhang mit diesem Positionspapier, das im Auftrag von Außenminister Sebastian Kurz erstellt wird, ist die Perspektive für die Länder von Serbien bis Mazedonien. Hier wird gewissermaßen der Türkei vorexerziert, was bei einem entsprechend kooperativen Verhalten alles möglich ist. So wird klipp und klar festgehalten, dass der „EU-Beitritt für die sechs Staaten des Westbalkans aufrechterhalten bleiben muss. Diese Option ist und bleibt der wesentliche Ansporn für Reformen“ in diesen Regionen. Gerade die Migrationskrise hätte gezeigt, dass Stabilität und Sicherheit am Westbalkan unerlässlich ist für die Stabilität und Sicherheit Zentraleuropas. Österreich will damit auch deutlich machen, dass es in Bezug auf die mittel-osteuropäischen Staaten innerhalb der EU eine spezielle Funktion als Brückenbauer wahrnehmen will.