Dienstag, 3. Dezember 2024
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Bewegungen statt Parteien: Etikettenschwindel oder politische Zeitenwende?

In Europa geht ein neues politisches Schlagwort um. Es nennt sich „Bewegung“ und soll an die Stelle der „alten Parteien“ treten. Es verheißt jedenfalls augenblicklich Erfolg und wird zu einer Art Leitstern erhoben. Die Frage ist nur, was steckt dahinter und ist das eine Entwicklung mit Nachhaltigkeit?

In Frankreich hat erst vor kurzem ein politischer Szenenwechsel stattgefunden. Die traditionellen Parteien wurden von den Wählern schwer abgestraft. Neu an die Macht gelangte mit Emmanuel Macron ein mehr-oder-weniger Newcomer und mit ihm seine neu aus dem Boden gestampfte politische Plattform namens „Le Republique en marche“. Was so viel heißt, wie Republik in Bewegung. Als Vizekanzler Reinhold Mitterlehner das Handtuch warf, verlangte Sebastian Kurz für die Übernahme der ÖVP-Führung einen teuren Preis. Er will die Alleinentscheidung über die Besetzung der Bundesmandate im Parlament, die Erstellung des Wahlprogramms und die Nominierung der Regierungsmannschaft haben. Und er taufte die Partei von ÖVP in „neue Volkspartei“ um. Mehr noch, sie soll keine Partei, sondern vielmehr eine Bewegung sein.

Umsturz der politischen Stimmungslage

Die Umfragen geben ihm bislang Recht. Es ist geradezu zu einem Umsturz gekommen. Als Mitte Mai Mitterlehner zurücktrat, kam die ÖVP auf gerade einmal 22 Prozent in den demoskopischen Erhebungen. Die SPÖ hatte sich auf 28 Prozent an die FPÖ herangearbeitet, die aber noch immer mit gut 30 Prozent an der Spitze lag. Mittlerweile hat sich die neue Volkspartei auf 32 Prozent hoch katapultiert. SPÖ und FPÖ catchen sich mit 26 Prozent um den 2. beziehungsweise 3. Platz. Der Rest des politischen Spektrums darf sich wohl auf eine weitere Oppositionszeit einstellen. Die Grünen dürften sich „dank“ Peter Pilz in zwei Listen spalten, die derzeit auf jeweils 6 Prozent kommen. Die NEOS haben sich bei 5 Prozent stabilisiert und müssen zur Kenntnis nehmen, dass um Irmgard Griss nach ihrem fulminanten Abschneiden nach dem vorjährigen Präsidentschaftswahlkampf auch kein Griss mehr ist.

Parteienüberdrüssigkeit hilft Bewegungen

Der Grund für den Erfolg der „Bewegungen“ an sich ist, dass den Wählern die „Parteien“ beim Hals heraushängen. Das mussten die Sozialisten in Frankreich, die einen Fast-Totalabsturz erlebten, aber auch die Konservativen zur Kenntnis nehmen. Umso mehr als die Grande Nation wirtschaftlich seit Jahren schlecht dasteht, weder Nicolas Sarkozy und schon gar nicht Francois Hollande etwas weiterbrachten, ein Rezept gegen die Blockadepolitik der Gewerkschaften fanden. Dazu kommt, dass eine Entideologisierung stattfand, Personen wichtige wurden als Programme. Früher einmal waren in die Politik die „3 P“ (Partei-Programm-Persönlichkeit) und das auch in dieser Reihenfolge, maßgebend. Diese Zeit hat sich geändert. Nicht nur Marx, Lenin & Co. sind völlig aus der Mode gekommen, weil mit ihren politischen Rezepten an allen Fronten gescheitert, sondern auch die Grundsätze der Christlichen Soziallehre sind in Vergessenheit geraten, ja sogar die gute alte soziale Marktwirtschaft ist im Ausgedinge gelandet. Wenngleich sich die CDU noch immer als Partei versteht, so ist Angela Merkels Erfolg letztlich auch auf eine Politik zurückzuführen, bei der das „C“ eher an einen Fruchtsaft denn an eine Positionierung erinnert.

Verkrustete Strukturen verlangen nach Reformen

Österreich ist von dieser Entwicklung nicht verschont geblieben. Seit Jahren wird von einer Politikverdrossenheit gesprochen, lässt sich aus den Umfragen ein Misstrauen gegenüber Politikern herauslesen, wird der Regierung eine mangelnde Lösungskompetenz zugeschrieben.  Tatsächlich gibt es in Österreich mittlerweile nicht nur veraltete, sondern auch verkalkte Strukturen, die dringend einer Renovierung bedürfen. Dazu gehört der Ruf nach einem „schlanken Staat“ ebenso wie die Reform der Sozialpartnerschaft. Auch die politischen Parteien sind in die Jahre gekommen. So hat insbesondere das Parteibuchsystem seine Sinnhaftigkeit verloren (SPÖ wie ÖVP haben heute um zwei Drittel weniger Parteimitglieder als noch in den 1980er Jahren) und auch die Stammwähler sind zur Minderheit geworden. Sebastian Kurz hat diese Entwicklung, die sich unter anderem in der immer höher werdenden Zahl von Wechselwählern (innerhalb von vielleicht 50 Jahren hat sich deren Zahl von 10 auf 50 Prozent erhöht) niederschlägt, erkannt und den Relaunch der Volkspartei zu seinem Programm erhoben.

Kommt jetzt die 3. Republik?

Noch sind freilich von seinen politischen Zielen und Intentionen nur Konturen erkennbar. So manches deutet aber auf einen Bruch mit alten Gewohnheiten hin, einem Suchen nach neuen Wegen hin. Das könnte auch auf eine Art politische Zeitenwende hindeuten und hinauslaufen. Um die Jahrtausendwende herum geisterte die Idee einer „Dritten Republik“ durch die österreichischen Medien. Sowohl nach der Vorstellung der steirischen Volkspartei als auch der FPÖ – noch unter der Führung von Jörg Haider stehend – sollte ein Übergang von der Zweiten auf eine so genannte Dritte Republik erfolgen. Hauptziel dabei war eine mächtige, auf eine Person zugeschnittene Exekutive, ein Ausbau der direkten Demokratie und eine Abschaffung der Sozialpartnerschaft. Bislang hat noch niemand der politischen und medialen Akteure den Begriff der „Dritten Republik“ ins Spiel gebracht, aber die die Diskussionen laufen durch in eine solche Richtung.

Politisches Engagement ist wieder „in“

Und er hat damit, wie alle Umfragen durch die Bank zeigen, die richtige Gefühlslage der Bevölkerung getroffen. Er bekennt sich zwar offen zu einer christlich-sozialen Politik, ist aber dennoch offen für neue Entwicklungen und findet Zuspruch weiter über das klassische ÖVP-Wählerklientel hinaus. Es ist tatsächlich so etwas wie eine Bewegung entstanden. Politik ist wieder zu einem Thema in der Öffentlichkeit geworden, wie nicht nur die Diskussionen in den Sozialen Medien zeigen, die mitunter allerdings auch sehr untergriffig sein können. Es gehört fast zum guten Ton, Sympathie für Kurz zu bekennen. Die Alt-Parteien (von der SPÖ bis zu den NEOS) tun sich in dieser Situation schwer, gegen den Strom zu schwimmen. Das ist deren wesentliches Problem.

Aufbruchsstimmung schafft Bewegung

Was aber ist die Motivation für die Menschen? Die Sozialwissenschaftler sehen darin eine Art Aufbrauchstimmung, die in der Bevölkerung Platz gegriffen hat. Man will sich mit den herrschenden Zuständen nicht länger abfinden, ist es leid, sich selbst zu bejammern, will wieder nach vorne blicken. Das betrifft nicht nur die Zustände im eigenen Land, wo in breiten Kreisen der Bevölkerung mittlerweile darüber Einigkeit herrscht, dass man sich auf Dauer mit dem Mittelmaß nicht zufriedengeben kann. Es gilt auch für Europa. Die Zustimmung zur EU hat in den letzten Monaten sogar noch weiter zu genommen, aber auch das Verlangen, dass in Brüssel dringend Reformen angesagt sind, von Brüssel Mut und Kraft zum Handeln eingefordert wird.

Persönlichkeiten wichtiger als Parteien

Es sind freilich nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte nicht mehr die Parteien, denen man zutraut, Weichenstellungen vorzunehmen, den Mut für Visionen aufzubringen und die neuen Ziele kraftvoll anzusteuern. Es sind die Persönlichkeiten, denen man kraft ihres Auftretens, ihrer Sprache, ihrer Ansagen, das Vertrauen schenkt. Die Soziologen wollen dabei nicht von einem Ruf nach einem Führer sprechen, wohl aber vom Verlangen nach einem Macher-Typ. Dazu gehört aber auch, dass man in die politische Willens- und Meinungsbildung miteingebunden wird. Und wenn alle diese Komponenten zusammenpassen, dann entsteht daraus eine Bewegung, die schlichtweg Zulauf erhält.

Klartext und Glaubwürdigkeit

Ganz entscheidend für das Entstehen dieser Bewegungen ist dabei, dass die Spitzenrepräsentanten „Klartext“ sprechen und dabei auch glaubwürdig wirken. Das ist letztlich das Asset von Emmanuel Macron in Frankreich, auch von Angela Merkel in Deutschland und Sebastian Kurz in Österreich. In ihnen sieht man auch Figuren, mit denen man sich identifizieren kann. Gerade in einer unruhigen Zeit, auch angesichts der Ungewissheit, wie die politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle und demographische Entwicklung weitergehen wird, sucht man nach Identität, Selbstbewusstsein und Aufbruch zu neuen Ufern. Es gibt dabei natürlich auch einen Risikofaktor. Vom Macron bis Kurz haben sich alle Politiker, die heute als Hoffnungsträger gelten, eine hohe Latte gelegt, die sie erst noch überspringen müssen. Es muss sich erst zeigen, dass Bewegungen mehr Power entwickeln als Parteien – und daher nicht nur ein Etikettentausch waren.

15. Oktober entscheidet auch über die „Bewegungen“

In den nächsten 90 Tagen konzentriert sich in Europa das Interesse nicht nur auf die Verhandlungen über den Brexit und die Flüchtlingskrise, sondern auch auf die Wahlen in Deutschland und in Österreich. Schafft Merkel eine vierte Amtsperiode so sieht man darin einen wichtigen Faktor für die Stabilität der EU. Wenn am 15. Oktober tatsächlich die neue Volkspartei mit Sebastian Kurz als Sieger durchs Ziel geht, dann könnte weitere Bewegung in die europäische Parteienlandschaft kommen, das Beispiel Österreich als Bestätigung für den Modellfall Frankreich dienen und Schule machen. Dann könnten auch in anderen Staaten etablierte Politiker und solche, die es gerne werden möchten, die Lust packen, Bewegungen zu schaffen, die jene Parteien, die in Selbstgefälligkeit erstarrt sind, das sprichwörtliche Fürchten lehren. Zumindest gleichzeitig müssen die Bewegungen aber auch den Beweis schaffen, wirklich Neues zustande zu bringen, das Rad der Entwicklung nach vorne zu drehen.

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