Die Herren Juncker, Tusk und Tadjani sowie die Regierungschefs in den EU-Mitgliedsländern werden gebeten, endlich aus ihrem Tiefschlaf zu erwachen.
Die Vereinigten Staaten haben ein Jahr Donald Trump überstanden. In diesem Zeitraum hat sich die gesamte Welt massiv verändert, weil sie ungleich ungemütlicher geworden ist. Der unberechenbare US-Präsident hat den Führungsanspruch der früheren Weltmacht Nummer Eins aufgegeben, weshalb eine neue politische Ordnung gefunden werden muss. Angesichts dieses Vakuums spürt Chinas Präsident Xi Jinping deutlich Rückenwind: Sein Reich der Mitte setzt als wirtschaftliche und politische Großmacht endgültig zum Sprung in die Pole-Position an. Russland Präsident Vladimir Putin wiederum macht sich weltweit gerne und so oft wie möglich wichtig, so als würde es keine schmerzlichen Sanktionen und keine massiven Differenzen zwischen mit Kreml und dem Westen geben.
Im internationalen Spiel der Kräfte blieb für Europa lediglich die Rolle des Mauerblümchens übrig: Die Europäische Union war 2017 wie gewohnt weitgehend mit sich selbst beschäftigt, startete die zähen Brexit-Verhandlungen, scheiterte erneut an der kaum vorhandenen Solidarität vieler Mitgliedsstaaten, musste sich mit separatistischen Mätzchen wie in Katalonien auseinandersetzen und wurde obendrein von rechtslastigen Regimen wie etwa in Polen und Ungarn provoziert. Die Brüsseler Spitzen – also Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk und Parlamentspräsident Antonio Tadjani – waren erneut nicht in der Lage, den dringend fälligen Reformprozess einzuläuten, um die Union auf einen erfolgreicheren Kurs führen zu können. Und die Chefs der Mitgliedstaaten, die teilweise wie in Deutschland mit wichtigen Wahlgängen ausge- und überlastet waren, haben ebenfalls herzlich wenig getan, um der latent im Kreuzfeuer der Kritik befindlichen EU neue Impulse zu verleihen, um die Skepsis breiter Bevölkerungsschichten zumindest etwas zu verkleinern.
Die Hoffnung, dass sich 2018 viel ändern wird, ist freilich minimal: Auch heuer werden etliche Mitgliedsländer weitgehend mit sich selbst beschäftigt sein und sich auf ihre Interna konzentrieren, weil etwa in Italien, Slowenien, Schweden, Lettland, Ungarn und Luxemburg Parlamentswahlen anstehen und in Finnland, Zypern und Irland Parlamentswahlen fällig sind. Das bedeutet: In der ersten Jahreshälfte, so lange Bulgarien die Ratspräsidentschaft ausübt, ist mit kaum mit Sensationen zu rechnen. Und in der zweiten Jahreshälfte, wenn dann Österreich die Regie übernehmen wird, müssten zwar etliche Weichen gestellt werden – aber ob bei den Politikern die Bereitschaft dazu überhaupt vorhanden sein wird, ist mehr als fraglich.
„Die EU ist kein echter Faktor“
Freilich: Wie kann das Projekt Europa besser in den Herzen der Bürgerinnen und Bürger verankert werden, wenn die führenden Politiker so wenig Gemeinschaftsgeist und so wenig Engagement zeigen. War die deutsche Kanzlerin bislang im Alleingang die treibende Kraft, so hat sich mittlerweile – weil sich Angela Merkel primär um die Bildung einer deutschen Bundesregierung kümmern muss – Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als einziger EU-Reformer aus weiter Flur profilieren können. In seinem Schatten tauchte vorige Woche auch Österreichs Neo-Kanzler Sebastian Kurz auf, was aus dessen Sicht naturgemäß zumindest ein großartiger taktischer Schachzug war. Es ist jedenfalls erfreulich, dass die beiden Politiker – wie gemeinsam beteuert wurde – in vielen EU-Fragen auf einer Linie liegen und recht ähnliche Vorstellungen zu haben scheinen, wie sich die Union verändern müsse.
Ob aber ausgerechnet von Sebastian Kurz im kommenden Herbst ein großer Paukenschlag zu erwarten ist, darf zumindest bezweifelt werden. Es wäre zwar bereits ein respektabler Gewaltakt, wenn die Verhandlungen mit Großbritannien im Herbst für beide Seiten halbwegs respektable Zwischenergebnisse brächten – doch viel mehr wird für Rot-Weiß-Rot kaum drinnen sein. Was schade wäre: Denn die Union müsste sich endlich reformieren und obendrein schleunigst als der mit künftig 440 Millionen Einwohnern starke wirtschaftliche und politische Player massiv in den internationalen Machtpoker einbringen. Das setzt freilich voraus, dass die Brüsseler Spitzen einmal die vielfältigen Interessen definieren müssten, sich die wahren Stärken und Vorzüge Europas bewusstmachen sollten und nicht davor zurückschrecken dürften, sich mit dem erforderlichen Selbstbewusstsein als machtpolitisches Schwergewicht auf internationaler Ebene zu verstehen und künftig nur noch mit einer Stimme zu sprechen. Das wäre bei allen aktuellen Fragen wichtig, beispielsweise bei Donald Trumps Alleingängen, also etwa den jüngsten Russland-Sanktionen der USA, seiner Haltung zum Atom-Abkommen mit dem Iran oder dem überraschenden Okay zu Jerusalem als Hauptstadt Israels.
Im Moment sei Brüssel, konstatierte der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel kürzlich, mit Sicherheit „kein echter Faktor in der Welt“, unter anderem deshalb, weil auf den Sicherheitsgaranten jenseits des großen Teichs kein Verlass mehr ist und man noch nicht so weit sei, sich auf die eigenen Hinterbeine zu stellen und den langjährigen Bündnispartner zu vergessen. Erfreulich ist, dass laut einer aktuellen Umfrage die Mehrheit der Deutschen bereits Frankreich und nicht mehr die USA als wichtigstes Partnerland sieht.
Keine Angst vor den Riesen
Es gibt europaweit wohl keinen einzigen halbwegs ernstzunehmenden Politiker, der noch die Meinung vertritt, dass sich Deutschland, Frankreich oder Italien – ganz zu schweigen von kleineren Ländern wie Österreich – in Zukunft im Alleingang etwa gegen das chinesische Dominanzstreben wehren können. Allen vernünftigen Staatenlenkern ist längst klar, dass alle anstehenden Probleme nur von einer „mächtigen“ EU zu schaffen sind, zu der es keine Alternative mehr gibt. Die meisten Europäer haben wohl endlich eingesehen – auch wenn sie das nicht immer rational zu begründen im Stande sind – , dass ihr Land allein in politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht ungleich schwächer performen würde als im gemeinsamen Verbund. Und dass bloß eine starke Union die politischen, wirtschaftlichen, sozialen, aber auch militärischen Herausforderungen, die auf Europa zukommen, bewältigen wird können.
Obzwar die Vereinigten Staaten noch auf die stärkste Wirtschaftsleistung verweisen können, die Volksrepublik China mit imposanten Wachstumsraten brillieren kann und Russland zumindest flächenmäßig eine Klasse für sich ist, braucht sich Europa hinter den drei Riesen keineswegs zu verstecken. Der Wohlstand der 1,4 Milliarden Chinesen etwa ist nämlich noch um ein Vielfaches geringer als im Westen und außerdem extrem ungleich verteilt. Die vielfältigen troubles der einstmals beinahe konkurrenzlosen Amerikaner sind hinlänglich bekannt, die große Unbekannte ist bloß, wie viele Vorzüge der USA in der Ära Trump noch flöten gehen werden. Und vor Russland schließlich, mit einer Fläche von 17 Millionen Quadratkilometern vier Mal so groß wie die EU, muss sich die Union schon gar nicht fürchten – die Wirtschaftskraft rund um den Kreml ist nicht einmal so stark wie jene Italiens.
Wenn sich die 27 EU-Länder künftig nicht an die Wand spielen lassen wollen, dann sollten ihre Politiker endlich aus der gewohnten Lethargie aufwachen, damit die Europäische Union möglichst bald jene Rolle in der Welt spielen kann, die ihr zustünde. Juncker & Co. werden diese Aufgabe bestimmt nicht allein stemmen können. Daher müsste Frankreichs Emmanuel Macron, an dieser Stelle kürzlich als neuer Shooting Star am alten Kontinent präsentiert, die Regie übernehmen. Ihm ist zuzutrauen, dass er mit Gleichgesinnten à la Angela Merkel und Sebastian Kurz den Reformprozess in Gang setzen und auf diese Weise die nationalen Egoismen und die internen Widerstände bekämpfen kann. Sollte ein einheitlicher Auftritt der EU 2018 nicht zumindest erste Erfolge zeitigen, dann wäre für das angeblich vereinigte Europa endgültig Alarmstufe Rot angesagt…