In der Diskussion der europäischen Spitzenkandidaten für die EU-Wahl wurde über Gott und die Welt geredet. Was aber passiert mit der Türkei und dem Balkan?
Schon seit Gründung der EWG ist ein Beitritt der Türkei im Gerede. Liegen doch drei Prozent des Landes auch auf europäischem Territorium. Vor bald 14 Jahren, im Oktober 2005 wurden schließlich offiziell die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei eröffnet. Nach zehn Jahren im November 2015 veröffentlichte die EU-Kommission einen kritischen Jahresbericht. So insbesondere in Bezug auf die Einschränkung der Medienfreiheit und der Justiz. Ein Jahr später sprach sich das EU-Parlament für ein „Einfrieren“ der Beitrittsgespräche aus. Eine Empfehlung, die für die EU-Kommission allerdings nicht bindend ist. Und dort gibt man sich trotz der augenscheinlichen Abkehr des Erdogan-Regimes von europäischen Grundstandards mit den jährlichen „Fortschrittsberichten“ zufrieden, die allerdings ständig nur von Rückschritten so in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit erzählen.
EU zahlt Milliarden für eine Beitrittsillusion
Diese so genannten Beitrittsgespräche, die mittlerweile eine Art Beitrittsillusion vermitteln, kosten der EU einiges an Geld, wird doch die Türkei mit einer „Heranführungshilfe“ finanziell unterstützt. Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung flossen zwischen 2007 und 2013 über 4,13 Milliarden Euro nach Ankara, zwischen 2014 und 2020 sind weitere 4,45 Milliarden geplant. Ein Körberlgeld, das schlichtweg beim Fenster hinausgeworfen wird. Und das angesichts der Hundertschaften verhafteter Regimekritiker und Journalisten ein geradezu exemplarisches Beispiel dafür ist, dass die EU auf dem türkischen Auge blind ist.
Es gibt Alternativen zu einem Beitritt
Während auf der Bühne des EU-Parlaments die sechs Spitzenkandidaten der wichtigsten europäischen Parteien über ihre Zukunftsvorstellungen diskutierten, hielt Erweiterungskommissar Johannes Hahn in einem ORF-Interview mit seiner Meinung nicht zurück. Wenn auch verhalten und fast schon resignierend. Er vertrat die Ansicht, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eingestellt werden und man Ankara andere Perspektiven der Kooperation anbieten sollte. Diesbezüglich gibt es, übrigens ähnlich wie für Großbritannien, wenn der Brexit über die Bühne geht, verschiedene Möglichkeiten. Diese reichen von einem bilateralen Wirtschaftsvertrag über eine Zollunion bis hin zum Beitritt in der Europäischen Wirtschaftsraum. Eine Agenda, die mit Sicherheit die nächste „EU-Regierung“ aber beschäftigen wird.
Einstimmigkeitsprinzip verhindert fällige Entscheidung
Dass bislang kein Schlussstrich unter die Verhandlungen gezogen wird, hängt einmal mehr mit dem Einstimmigkeitsprinzip zusammen. Eine Reihe von Ländern glauben nämlich noch immer an der Beitrittsperspektive festhalten zu müssen. Allen voran waren das Großbritannien und Frankreich, aber auch die NATO-Staaten agierten da sehr zurückhaltend. Nicht nur, weil die Türkei der NATO angehört und ein Eckpfeiler des europäisch-atlantischen Bündnisses ist, sondern auch die USA immer wieder darauf Druck gemacht haben, Ankara nicht vor den Kopf zu stoßen und bei der sprichwörtlichen Stange zu halten. Tatsächlich aber lässt der Türkenpremier Recep Tayyip Erdogan seine westlichen Partner immer wieder zappeln, will er doch selbst eine Schlüsselrolle innerhalb der islamischen Welt spielen und sucht bei jeder Gelegenheit das gute Einverständnis mit Moskau. So indem er jetzt trotz Protesten aus Washington russische Raketen bestellt.
Sechs Balkanländer wollen eine Perspektive
Die Causa Türkei wird zu einer Schlüsselfrage für die Tatkraft der EU-Kommission und des EU-Parlaments für die kommende Legislaturperiode. Das betrifft neben der Türkei auch den Balkan und damit jene Region, die vom 14. Jahrhundert an immer eine Begierde des osmanischen Reiches war. Hier geht es genau genommen um die Komplettierung der Europäischen Union. Sechs Länder, nämlich Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Bosnien-Herzegowina und der Kosovo haben hier gewissermaßen im Warteraum zur EU Platz genommen. Der angesehene slowenische EU-Politiker und ehemalige Ministerpräsident Lojze Peterle weiß, dass diese Staaten gerade in Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Kampf gegen die Korruption großen Nachholbedarf haben, sieht aber auch einen innereuropäischen Gefahrenherd entstehen, wenn man ihnen nicht ein präzises Aufnahmedatum gibt.
Der Griff fremder Mächte nach Europa
Tatsächlich werden die Balkanstaaten gleich von mehreren Seiten umworben. Das beginnt bereits mit China, dass mit seinem 16+1 Projekt im Rahmen der neuen Seidenstraße wirtschaftlich die ost- und südosteuropäischen Staaten einfangen will. Parallel dazu sind auch die reichen islamischen Staaten, wie etwa Saudi-Arabien oder Malaysia, bemüht in Albanien, dem Kosovo und Bosnien-Herzegowina sich einzukaufen. Und dazu kommt noch die orthodoxe Kirche, die als verlängerter Arm Moskaus am Balkan mitspielen will. Wenngleich wirtschaftliche Interesse da überall im Vordergrund stehen, so geht es letztlich darum, politischen Einfluss auf diese Region zu gewinnen. Die EU ist daher mehr als gefordert, für Ordnung im eigenen Haus zu sorgen. Dazu gehört auch noch der derzeitige Vorhof am Balkan.