Man hätte keine spannendere Dramaturgie erfinden können: Am selben Tag (!) trugen die beiden Generalanwälte (GA) Juliana Kokott und Nils Wahl ihre Schlussanträge in zwei beinahe identen, aber nicht miteinander verbundenen, Rechtssachen vor dem Gerichtshof vor – und gelangten dabei überraschenderweise zu diametral entgegengesetzten Ansichten!
[[image1]]Haben sich die beiden GA vorab nicht abgesprochen, beharrte jeder auf seiner Rechtsmeinung oder nehmen GA untereinander überhaupt keinen Kontakt auf? Was für ein „gefundenes Fressen“ für kritische Rechtssoziologen, die schon immer von einer aleatorischen Komponente in der Judikatur von Höchstgerichten ausgegangen sind. Es obliegt nun dem Gerichtshof, die Rechtsansicht eines der beiden GA zu übernehmen bzw die des anderen zu verwerfen. Welchem GA der Gerichtshof wohl dieses „Gütesiegel“ verleihen wird – der extensiv interpretierenden GA Kokott oder dem restriktiv vorgehenden GA Wahl?
Beiden Rechtssachen, die zum einen im Vereinigten Königreich und zum anderen in Irland spielen, liegt ein vergleichbarer Ausgangsfall zugrunde, nämlich die Frage, ob eine sogenannte „Sorgemutter“, deren Kind von einer „Leihmutter“ oder „Ersatzmutter“[1]) ausgetragen wurde, Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub hat oder nicht. Urteile des Gerichtshofs sind in beiden Rechtssachen noch nicht ergangen, die beiden GA trugen aber am 26. September 2013 ihre Schlussanträge, die verfahrensmäßig am Ende der mündlichen Verhandlung gestellt werden, vor. In beiden Fällen handelt es sich um Vorabentscheidungsverfahren gemäß Artikel 267 AEUV.
Leihmutterschaft ist in den Mitgliedstaaten der EU nicht einheitlich geregelt. Während sie in vielen Mitgliedstaaten verboten ist, ist sie im Vereinigten Königreich unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, eine spezielle Regelung zum Mutterschaftsurlaub für die Sorgemutter existiert allerdings nicht. In Irland hingegen ist zwar die Adoptivmutterschaft, nicht aber die Leihmutterschaft gesetzlich geregelt.
Reproduktionsmedizinisch beginnt die Leihmutterschaft mit einer künstlichen Befruchtung der Leihmutter oder der Implantierung eines Embryos in deren Gebärmutter. In der Folge trägt die Leihmutter das Kind aus und bringt es zur Welt. Dieses kann genetisch entweder von den sogenannten „Sorgeeltern“ – die nach der Geburt für das Kind die elterliche Sorge übernehmen – abstammen, oder vom Vater und der Leihmutter bzw von ihm und einer dritten Frau.
Die Rechtssache C-167/12
In der ersten Rechtssache C-167/12[2]), die am 3. April 2012 beim Gerichtshof eingereicht wurde,[3]) geht es um eine Lebensgemeinschaft zweier britischer Staatsbürger, Frau C. D. und ihren Lebensgefährten, die sich ihren Kinderwunsch durch eine Leihmutter erfüllen wollten. Zur Zeugung des Kindes wurde der Samen des Lebensgefährten, aber eine nicht von C. D. stammende Eizelle verwendet. Wenige Monate nach der Geburt übertrug ein britisches Gericht gemäß der britischen Regelung über die Leihmutterschaft mit Zustimmung der Leihmutter die volle und dauerhafte elterliche Verantwortung für das Kind auf Frau C. D. und ihren Lebensgefährten.
Da der öffentlich-rechtliche Arbeitgeber von Frau C. D. die Ansicht vertrat, dass sie keinen Rechtsanspruch auf bezahlten Mutterschafts- oder Adoptionsurlaub habe, da sie weder ein Kind geboren noch ein solches adoptiert habe, klagte C. D. vor einem britischen Gericht ihren Mutterschaftsurlaub ein. Dieses Gericht legte in der Folge dem Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens unter anderem die Frage vor, ob eine Frau nach Unionsrecht auch dann Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub habe, wenn nicht sie selbst, sondern eine Leihmutter das Kind zur Welt gebracht hat.
Nach Ansicht der deutschen GA Juliane Kokott hat eine Sorgemutter, die ein Kind im Rahmen einer Leihmuttervereinbarung bekommen hat, nach der Geburt des Kindes jedenfalls dann Anspruch auf den gemeinschafts- bzw. unionsrechtlich seit 1992 in der Richtlinie 92/85/EWG[4]) vorgesehenen Mutterschaftsurlaub, wenn sie das Kind nach der Geburt in ihre Obhut nimmt, im betreffenden Mitgliedstaat die Leihmutterschaft zulässig ist und auch deren nationale Voraussetzungen erfüllt sind. Das gelte auch dann, wenn die Sorgemutter das Kind nach der Geburt nicht tatsächlich stille. Der Mutterschaftsurlaub, den die Leihmutter genommen habe, sei zwar abzuziehen, der Mutterschaftsurlaub der Sorgemutter müsse jedoch mindestens 2 Wochen betragen.
Beim Erlass der gegenständlichen Regelung über den Mutterschaftsurlaub im Jahre 1992 habe der Gemeinschaftsrechtsetzer zwar nur auf den Normalfall der biologischen Mutterschaft abgestellt und das damals kaum verbreitete Phänomen der Leihmutterschaft offenbar nicht bedacht. Der grundrechtlich verankerte Schutzweck des Mutterschaftsurlaubs gebiete jedoch auch einen Schutz der Sorgemutter, und zwar unabhängig davon, ob sie das Kind stille oder nicht. Der bezahlte Urlaub diene nämlich auch dazu, die ungestörte Entwicklung der Mutter-Kind Beziehung zu gewährleisten.
Hinsichtlich der Länge des Mutterschaftsurlaubs vertritt GA Kokott die Ansicht, dass das Konzept der Leihmutterschaft nicht zu einer Verdoppelung des Mindesturlaubsanspruchs von 14 Wochen führen könne. Beim Mutterschaftsurlaub müsse sich die von den beiden Frauen gewählte Rollenverteilung widerspiegeln, sodass sich die Sorgemutter den von der Leihmutter bereits genommenen Mutterschaftsurlaub anrechnen lassen müsse, und umgekehrt. Beiden Frauen müsse jedoch der obligatorische Mutterschaftsurlaub von mindestens zwei Wochen in voller Länge gewährt werden. Hinsichtlich dieser zwei Wochen sei die einschlägige Richtlinie so präzise, dass ihr unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten zukomme.[5])
Der ebenfalls zur Diskussion stehende Grundsatz der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen gemäß der Gleichbehandlungsrichtlinie[6]) sei nach Ansicht von GA Kokott nicht einschlägig und daher auch zur Sachentscheidung nicht heranzuziehen.
Die Rechtssache C-363/12
In der zweiten Rechtssache C-363/12[7]) wiederum ging es um Frau Z., eine Lehrerin in Irland, die – obwohl sie über gesunde Eierstöcke verfügt und ansonsten fruchtbar ist – keine Gebärmutter hat und deswegen nicht schwanger werden kann. Frau Z. und ihr Ehemann schlossen daher eine Vereinbarung mit einer Leihmutter, der in Kalifornien die befruchtete Eizelle implantiert werden sollte und die danach das Kind auszutragen habe. Das im Rahmen der Leihmutterschaftsvereinbarung geborene Kind war daher das genetische Kind des Ehepaares, sodass auf der amerikanischen Geburtsurkunde des Kindes die Leihmutter nicht aufschien.
Während bezahlter Mutterschafts- und Adoptionsurlaub im irischen Recht vorgesehen sind, findet sich weder in den irischen Rechtsvorschriften, noch im Arbeitsvertrag von Frau Z. eine ausdrückliche Vorschrift über einen Urlaubsanspruch wegen der Geburt eines Kindes im Rahmen einer Leihmuttervereinbarung. Nachdem ihr Antrag auf Gewährung eines bezahlten Urlaubs abgelehnt worden war, legte Frau Z. beim Equality Tribunal Beschwerde ein und machte dabei geltend, Opfer einer Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, des Familienstandes und der Behinderung geworden zu sein. Vor diesem Hintergrund hat das Equality Tribunal dem Gerichtshof im Wege einer Vorabentscheidung die Frage vorgelegt, ob es gegen Unionsrecht verstößt, einer Frau, deren genetisches Kind im Rahmen einer Leihmuttervereinbarung geboren wurde, bezahlten Mutterschaftsurlaub zu versagen.
Der schwedische GA Nils Wahl weist in seinen Schlussanträgen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der in der vorerwähnten Richtlinie 92/85/EWG niedergelegte Schutz nur für Frauen gelte, die ein Kind geboren hätten und eben dazu diene, schwangere Arbeitnehmerinnen in ihrem labilen Gesundheitszustand zu unterstützen.
Im Gegensatz zur vorerwähnten Rechtssache C-167/12 macht Frau Z. zudem geltend, Opfer einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, des Familienstandes und einer Behinderung geworden zu sein. Was den ersten von Frau Z. vorgebrachten Klagsgrund einer geschlechtsbedingten Diskriminierung[8]) betreffe, führte GA Wahl zunächst aus, dass die von Frau Z. gerügte Ungleichbehandlung nicht auf dem Geschlecht, sondern auf der Weigerung der nationalen Behörden beruhe, ihre Situation der einer Frau, die ein Kind geboren habe, oder aber der einer Adoptivmutter gleichzusetzen. Da jedoch, wie vorstehend erwähnt, der besondere Schutz vor geschlechtsbedingter Diskriminierung, der schwangeren Arbeitnehmerinnen gewährt werde, in diesem Fall nicht greife, bedürfe es einer Vergleichsgruppe des anderen Geschlechts. Da aber der männliche Elternteil eines im Rahmen einer Leihmuttervereinbarung geborenen Kindes genauso behandelt würde, wies GA Wahl das Vorbringen einer geschlechtsbedingten Diskriminierung zurück.
Zwar könnte die Situation von Frau Z. der einer Adoptivmutter gleichgestellt werden, doch hätten die Mitgliedstaaten bisher keine Rechtsvorschriften erlassen, um den Anspruch von Adoptiveltern auf bezahlten Urlaub zu harmonisieren. Dementsprechend sei es – falls das nationale Recht die Möglichkeit von bezahltem Adoptionsurlaub überhaupt vorsehe – Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob die Anwendung unterschiedlicher Regeln auf Adoptiveltern und Eltern, deren Kind im Rahmen einer Leihmutterschaftsvereinbarung geboren worden sei, eine dem nationalen Recht widersprechende verbotene Diskriminierung darstelle.
Was den zweiten geltend gemachten Diskriminierungsgrund betreffe, so gelangte GA Wahl zu dem Ergebnis, dass Frau Z. nach dem Unionsrecht auch nicht aus Gründen einer Behinderung diskriminiert worden sei. Die sekundärrechtlichen Vorschriften, die eine Diskriminierung wegen Behinderung im Rahmen von Beschäftigung und Beruf[9]) untersagen, dienen vor allem dazu, eine umfassende und effektive Teilnahme aller Arbeitswilligen am Berufsleben sicherzustellen. Da Frau Z. aufgrund der fehlenden Fähigkeit, ein Kind selbst auszutragen, an dieser Teilhabe aber nicht gehindert gewesen sei, könnten die fraglichen Vorschriften auch keine Anwendung finden.[10])
Fazit
Die Schlussanträge der GA in diesen beiden parallelen Rechtssachen weisen eine geradezu diametrale Ausrichtung auf und kommen dementsprechend auch zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Fast ist man geneigt, von einer „genderspezifischen“ Unterschiedlichkeit bzw Divergenz zu sprechen, kommt GA Kokott in einer extensiven Interpretation bzw. mittels eines Analogieschlusses doch zu einer auch die Sorgemutter begünstigenden Regelung, während GA Wahl in einer restriktiven Interpretation und ohne Zuhilfenahme eines Analogieschlusses die Sorgemutter nicht an den mutterschutzrechtlichen Bestimmungen partizipieren lässt.
Mit ihrer grundrechtlich orientierten Interpretation, dass der bezahlte Mutterschaftsurlaub nicht nur dem Schutz der Arbeitnehmerinnen während der Schwangerschaft, im Wochenbett oder während der Stillzeit diene, sondern auch die „ungestörte Entwicklung der Mutter-Kind Beziehung“ gewährleisten soll, gelingt es Kokott, auch die nicht-leibliche Sorgemutter in den Kreis der begünstigten „Mütter“ einzubeziehen, eine Ansicht, die von GA Wahl rotund abgelehnt wird, geht dieser doch davon aus, dass Mutterschaftsurlaub nur Frauen zustehe, die selbst ein Kind geboren hätten.
Über die konkrete Interpretationsdivergenz hinaus werfen diese beiden dichotomen Schlussanträge zweier GA aber nicht nur die grundlegende rechtsdogmatische Fragestellung auf, wieso es überhaupt zu zwei so unterschiedlichen Auslegungen kommen konnte, sondern weisen auch auf die rechtspolitische Problematik hin, dass es – im Gegensatz zur Auflösung von Judikaturdivergenzen von Gerichten im Rahmen des Instanzenzuges – bei Schlussanträgen von GA einen solchen „Bereinigungsmechanismus“ nicht gibt. Kommt es tatsächlich, so wie im gegenständlichen Fall, in zwei Schlussanträgen von GA zu diametral entgegengesetzten Rechtsansichten, dann existiert keine übergeordnete Instanz, die eine solche Divergenz auflösen könnte.
Da es für GA aber auch keine Verpflichtung gibt, sich – wie im Falle eines „judicial restraint“ oder eines „judicial dialogue“ zwischen Gerichten – mit der Rechtsmeinung eines anderen GA in einer analogen Rechtssache auseinanderzusetzen, geschweige denn, sich mit dieser gar abzustimmen, kann es – wie im gegenständlichen Fall in geradezu idealtypischer Form – zu einer höchst unerfreulichen Interpretationsdivergenz kommen, die in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, dass „das Recht“ in jede Richtung hin ausgelegt werden kann – ganz im Sinne der berühmten Sentenz von Johann Wolfgang von Goethe aus den Zahmen Xenien II: „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr‘s nicht aus, so legt was unter“.
Was für ein wahrer, zugleich aber fataler Satz eines Juristen – Goethe war studierter Jurist – an die Adresse seiner Kollegenschaft (sic). Er sollte uns allen zu denken geben!
[1]) Im deutschen Sprachgebrauch hat sich die Bezeichnung „Leihmutter“ eingebürgert, das deutsche Gesetz zum Schutz von Embryonen spricht jedoch von der „Ersatzmutter“.
[2]) Gerichtshof, Rs. C-167/12, C.D./S.T., Urteil noch nicht ergangen.
[3]) Vorabentscheidungsersuchen des Employment Tribunal Newcastle upon Tyne (Vereinigtes Königreich), eingereicht am 3. April 2012 – C.D./S.T.; Amtsblatt 2012, C 194, S. 9 f.
[4]) Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz; Amtsblatt 1992, L 348, S. 1 ff.
[5]) Nach Ansicht von Generalanwältin Kokott haben bei legaler Ersatzmutterschaft beide Mütter Anspruch auf Mutterschaftsurlaub, Gerichtshof der EU – Pressemitteilung Nr. 115/13, vom 26. September 2013, S. 2.
[6]) Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen; Amtsblatt 2006, L 204, S. 23 ff.
[7]) Gerichtshof, Rs. C-363/12, Z/A Government Department and the Board of Management of a Community School, Urteil noch nicht ergangen.
[8]) ISd Richtlinie 2006/54/EG (Fußnote 6).
[9]) Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf; Amtsblatt 2000, L 303, S. 16 ff.
[10]) Nach Auffassung von Generalanwalt Wahl lässt sich für Eltern eines im Rahmen einer Ersatzmutterschaftsvereinbarung geborenen Kindes aus dem Unionsrecht kein Anspruch auf bezahlten Urlaub ableiten, Gerichtshof der EU – Pressemitteilung Nr. 116/13, vom 26. September 2013.
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Bild: Salih Ucar / pixelio.de/ © www.pixelio.de