Nicht nur in Österreich werden die Verhandlungen mit der Türkei über die Rücknahme illegal nach Griechenland eingereister Migranten und die in Aussicht gestellte Visafreiheit für türkische Staatsbürger heiß diskutiert. Im Interview mit der EU-Infothek erläutert der türkische Botschafter in Wien, Mehmet Hasan Gögüs, die Position seines Landes.
Wie wichtig ist für die Türkei die beim EU-Gipfel ausgehandelte Visafreiheit bei Reisen in EU-Länder?
Mehmet Hasan Gögüs: Zuerst möchte ich die hier vorliegende Fehlwahrnehmung korrigieren. Der EU-Gipfel war nicht der erste Anlass, bei dem die Türkei Verhandlungen zum visumfreien Reisen in EU-Länder geführt hat. Dies hat eine längere Geschichte. Als wir das Rückübernahmeabkommen mit der EU unterschrieben haben, hat die Türkei es sehr deutlich gemacht, dass zeitgleich mit dem Beginn der Umsetzung des Rückübernahmeabkommens auch das visumfreie Reise für türkische Staatsbürger in die EU-Länder beginnen sollte. Die einzige Verbindung mit der Flüchtlingskrise ist die Beschleunigung dieses Prozesses. Wir fühlen uns diskriminiert, da Staatsbürger von Ländern, die keine Beziehung mit der Europäischen Union haben, bereits Visumfreiheit genießen.
Die Türkei ist ein Land, das mit der Europäischen Union Beitrittsverhandlungen unterhält. Ich bin fest davon überzeugt, dass wenn die Visumpflicht aufgehoben wird, türkische Staatsbürger nicht nach Europa „strömen“ werden. Die Türkei ist im letzten Jahrzehnt selbst zu einem Anziehungspunkt geworden. Sie bietet mehr Beschäftigungsmöglichkeiten mit besserer Bezahlung und die Arbeitslosenrate in der Türkei ist auch nicht höher als im EU-Durchschnitt.
Haben Sie Verständnis für die Bedenken gegen das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei? So befürchtet der UNO-Hochkommissar, es könnte zu illegalen Ausweisungen von Schutzsuchenden kommen?
Mehmet Hasan Gögüs: Nein, ich habe kein Verständnis für diese Bedenken. Es befinden sich mehr als drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei und in den letzten fünf Jahren haben sie in unserem Land gelebt, ohne Angst vor unrechtmäßiger Ausweisung zu haben. Die Türkei hält sich strikt an den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung.
In einigen Mitgliedsländern wurde die Kritik laut, dass sich die Europäische Union mit einem solchen Abkommen stark von der Türkei abhängig macht?
Mehmet Hasan Gögüs: Ich denke nicht, dass das der richtige Ansatz ist. Es ist keine Frage von Abhängigkeit, sondern von Kooperation. Wir sind derzeit mit einem grenzüberschreitenden Problem konfrontiert, das ein geschlossenes und aufeinander abgestimmtes Handeln erfordert. In diesem Sinne hängen wir alle voneinander ab, da wir alle im gleichen Boot sitzen. Des Weiteren ist die Türkei, wie ich bereits erwähnt habe, ein mit der EU Beitrittsverhandlungen unterhaltendes Land und dieses Übereinkommen wird für beide Seiten eine Win-Win-Situation sein.
Sehen Sie Chancen für einen baldigen Frieden in Syrien und damit ein Abebben des Flüchtlingsstroms?
Mehmet Hasan Gögüs: Von Anfang an haben wir die Ansicht vertreten, dass Frieden in Syrien die einzige dauerhafte Lösung der Flüchtlingskrise sein kann. Leider haben unsere europäischen Freunde das erst wahrgenommen, als die Flüchtlinge begannen, an ihre Türen zu klopfen.
Das derzeitige Regime in Syrien ist für den Tod von mehr als 400.000 Menschen verantwortlich und auch dafür, dass mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung zu Flüchtlingen oder Vertriebenen geworden ist. Wir hoffen, dass die Genfer Gespräche dieses Mal konkrete Ergebnisse hervorbringen werden.
Die Türkei drängt in die EU. Das war seit Aufnahme der Verhandlungen nicht immer so. Was verspricht sich Ihr Land von einer Mitgliedschaft?
Mehmet Hasan Gögüs: Dies ist eine weitere Fehlwahrnehmung, die klargestellt werden muss. Als wir 1963 das Ankara-Abkommen mit der EU unterzeichnet haben, war das Endziel die Vollmitgliedschaft. Dieses Ziel hat sich nie geändert.
Glaube an EU-Vollmitgliedschaft drastisch gesunken
Wie schätzen Sie die Stimmung in ihrem Land gegenüber der Europäischen Union ein?
Mehmet Hasan Gögüs: Die Zustimmung zu der Mitgliedschaft der Türkei liegt immer noch bei mehr als 60-70 Prozent; durch die nicht erfüllten Zusagen seitens der EU hat sich der Glaube an eine Vollmitgliedschaft jedoch drastisch auf 14 Prozent verringert.
Ihr Land wurde zuletzt mehrfach Ziel von Terroranschlägen. Rechnen Sie mit nachhaltig negativen Auswirkungen für den Tourismus?
Mehmet Hasan Gögüs: Terrorismus ist leider zur wichtigsten Herausforderung geworden, da er die Sicherheit aller Nationen bedroht. Es ist in Ankara, in London, in Paris passiert. Kein Land ist immun gegen die Gefahr von Terrorismus. Die Türkei ist immer noch ein sicheres Land für Touristen. Alle nötigen Maßnahmen zum Schutz unserer Gäste werden konsequent ergriffen.
Aus dem Ausland gibt es immer wieder Kritik an der Medienpolitik in der Türkei. Welchen Stellenwert hat die Pressefreiheit?
Mehmet Hasan Gögüs: Pressefreiheit ist ein wichtiger Aspekt von Demokratie und durch die Verfassung geschützt. Zu behaupten, ein Journalist zu sein, gibt einem dennoch nicht die Berechtigung, Straftaten zu begehen. Was es zu wissen gilt: Kein Journalist und keine Journalistin wurde aufgrund seiner bzw. ihrer journalistischen Tätigkeit in Gewahrsam genommen. Es gibt mehr als 6000 Zeitungen und periodisch erscheinende Veröffentlichungen und mehr als 100 landesweite TV-Sender, die die Ansichten der Opposition und jene der Regierung gleichermaßen darstellen. Sie alle agieren frei.
In der EU wird das Thema Trennung von Staat und Religion mit Argwohn beobachtet. Wie ist die Position ihres Landes?
Mehmet Hasan Gögüs: Die Türkei ist per Verfassung ein säkularer Staat. Glaubens- und Religionsfreiheit sind hochgeachtete Prinzipien sowohl unseres sozialen als auch unseres politischen Systems.
Wie würden Sie das Verhältnis der Türkei mit dem EU-Mitgliedsland Zypern beschreiben?
Mehmet Hasan Gögüs: Die Zypern-Frage hat eine Geschichte, die 1963 beginnt, als türkische Zyprioten gewaltsam aus der Regierung geworfen wurden. 2004 haben die türkischen Zyprioten den Plan der Vereinten Nationen zur Wiedervereinigung der Insel angenommen, er wurde jedoch von der griechisch-zypriotischen Seite abgelehnt. Wir hoffen, dass bei den laufenden Gesprächen auf der Insel unter den Auspizien des Generalsekretärs der Vereinten Nationen dieses Mal konkrete Ergebnisse erzielt werden.