Im März wurde Großbritanniens Austritt aus der EU offiziell angemeldet, im Juni haben die Verhandlungen begonnen, und am 28. August startet in Brüssel die nächste Gesprächsrunde. Was bisher passiert ist? Praktisch null. Und so wie’s aussieht, wird der „Brexit“ im März 2019 – anders als vorgesehen – nie und nimmer unter Dach und Fach sein.
Der Knackpunkt, um den sich bislang alles drehte, sind die offenen Zahlungen der Briten an Brüssel. Die Union fordert von London dem Vernehmen nach bis zu 100 Milliarden Euro – die Regierung des Inselvolks ist allerdings nur ungefähr 40 Milliarden zu zahlen bereit. Allein darüber könnten – angesichts des bereits eindrucksvoll dokumentierten Starrsinns beider Seiten – EU-Verhandlungsführer Michel Barnier und der britischen Brexit-Minister David Davis unendlich lang streiten, um am Ende doch keinen tauglichen Kompromiss zu finden – womit ein totales internationales Chaos perfekt wäre.
Es ist längst klar, dass es keine einvernehmliche Scheidung geben wird, sondern eine langwierige, brutale Schlammschlacht auf die bisherigen Partner zukommt. Klar ist auch, dass zumindest London derzeit keinen Grund zum Hudeln sieht. Die Bewältigung der gemeinsamen Vergangenheit könnte daher so viel Zeit in Anspruch nehmen, dass für die Klärung der getrennten Zukunft zu wenig übrigbleiben würde. Aus heutiger Sicht scheint das der britischen Regierung, die vorerst auf Taktieren und Zeitschinden angewiesen ist, nur recht zu sein. Denn Theresa May, die ratlose Premierministerin an der Spitze der bei den letzten Wahlen geschwächten Tory-Regierung, dürfte sämtliche mit dem Brexit zusammenhängende Probleme unterschätzt und folglich derzeit gar nichts mehr im Griff haben.
Wie lange hält May durch?
Die kürzlich in Umlauf befindlichen Gerüchte, denen zu Folge die Briten die EU vorerst lediglich bluffen wollen, kann man also getrost vergessen: Es ist offensichtlich, dass weder Politik noch Diplomatie oder Beamtenschaft im Königreich einen auch nur annähernd souveränen Eindruck machen. Was auch schwer möglich wäre, denn immerhin sind selbst in Mays Kabinett unterschiedliche Meinungen zu hören – beispielsweise zur Frage, wie „hart“ oder „weich“ die Trennung vom Kontinent erfolgen solle. Im konservativen Lager sind als Kontrastmittel etwa zu Außenminister Boris Johnson zahlreiche Brexit-Gegner zu finden, was die Sache nicht einfacher macht. Schließlich spaltet das Thema Nummer Eins nicht nur Ober- und Unterhaus, sondern nach wie vor die gesamte Bevölkerung: Laut neuesten Umfragen sind 45 Prozent der Bürgerinnen und Bürger für den Austritt, allerdings immer noch 45 Prozent für einen Verbleib Großbritanniens in der EU (jeder Zehnte nimmt dazu lieber gar nicht Stellung).
Die britische Regierung, die untätig, planlos und chaotisch zugleich wirkt, wird freilich nicht umhinkommen, in ihrem mit Spannung erwarteten Positionspapier zur Zollunion, die von der guten Misses May ebenso abgelehnt wird wie der Binnenmarkt oder der Europäische Gerichtshof, erstmals Farbe zu bekennen. Die Premierministerin, die sich diesbezüglich gerne als unerbittliche Hardlinerin positioniert, ohne freilich Alternativen anbieten zu können, steht jedenfalls enorm unter Druck. Sofern sie es nicht bald schafft, den Eindruck zu vermitteln, dass sie Frau der Lage ist, könnte sie irgendwann zur Disposition stehen – wobei anzumerken wäre, dass vermutlich kein anderer oder keine für das Todeskommando zur Verfügung stünde. Theresa May könnte naturgemäß auch selbst resignieren, ihren Schleudersitz verlassen und zurücktreten, womit sich die Verhandlungen nochmals extrem verzögern würden. So wie es im Augenblick aussieht, wird sie kaum bis 2022 durchhalten.
Ohne Nachspielzeit wird’s nicht gehen
Die insgesamt zwölf Positionspapiere, die in den kommenden Monaten aus London erwartet werden, sollten in Brüssel einige Rätsel lösen. Die EU-Mitgliedsstaaten sind vorerst geeint und verfolgen das Ziel, eine möglichst optimale Übergangslösung anzupeilen, auf dass die Wirtschaft diesseits und jenseits des Kanals weiter florieren kann. Es ist durchaus möglich, dass die Briten ganz anders denken, nämlich versuchen werden, die EU27 irgendwie zu spalten – man kennt das aus langjähriger Erfahrung. Nicht abwegig wäre auch ihre Absicht, sich im Zuge von Kompromisslösungen unter Zeitdruck möglichst viele Vorteile sichern zu wollen. Auch das ist alles andere als neu: Die britischen Premiers – von Margret Thatcher über Tony Blair bis David Cameron – waren allesamt bekannt dafür, mit Pokerface und Leidensmine so viele Sonderrechte für ihr Land herauszuschinden wie nur möglich. Bei Theresa May ist das allerdings etwas anders: Sie hat bereits so viel Porzellan zerschlagen, dass ihr nicht einmal das mehr gelingen dürfte.
Während die Regierungschefin kaum mit großem Entgegenkommen der Union rechnen darf, versucht es insbesondere Schatzkanzler Philip Hammond mit Pragmatismus, die Scheidungsgespräche halbwegs am Leben zu halten. Er trat kürzlich für eine Übergangslösung von zwei bis drei Jahren ein, in denen Großbritannien weiterhin Mitglied des Binnenmarktes und der Zollunion bliebe. Mit diesem Vorstoß will der Minister, der die Interessen der britischen Wirtschaft Ernst nimmt, einen Ausstieg ohne klare Spielregeln verhindern. Um das zu erreichen, wäre Hammond bereit, sogar Zugeständnisse beim emotionalen Thema Zuwanderung zu machen. May schaltet jedoch diesbezüglich auf stur: Die Freizügigkeit muss im März 2019 enden – egal, was da kommen mag.
Die interne, tägliche Kritik an der Planlosigkeit der Regierung ist nicht mehr zu überhören. Jeder zweite Bürger ist laut Umfragen frustriert, weil in seinen Augen bereits ein Jahr Vorbereitungszeit vertan worden sei. Die Industrie zeigt sich ebenso grantig wie verängstigt, weil sie zum einen kaum konsultiert worden ist und zum andern ohne Übergangsdeal ein Fiasko auf sich zukommen sieht. Amyas Morse, Chef des britischen Rechnungshofes, mahnte schließlich eine einheitliche Strategie für die Brexit-Verhandlungen ein: Wenn die einzelnen Ministerien immer noch nicht wissen, auf welche Brexit-Variante sie sich vorbereiten sollen, müsse die Verhandlungsposition der Briten „wie Schokokekse zerbröseln“, sagte Morse.