Seit 23. Juni ist alles anders: Das befürchtete, jedoch kaum erwartete Ja der Briten zum Brexit ist so etwas wie die Stunde Null einer neuen Zeitrechnung für Großbritannien, desgleichen für die Europäische Union. In Zukunft wird sich in Politik und Wirtschaft vieles ändern – doch was genau ist vorerst nur äußerst schwer abzuschätzen. Die britische Tragödie besteht derzeit aus 18 Kapitel.
I.
Es war politischer Selbstmord mit Anlauf. David Cameron hat Brüssel jahrelang gepiesackt, verhöhnt und erpresst, ehe er seine Landsleute letztendlich ein paar Wochen lang zum Verbleib in der Europäischen Union überreden wollte. Der Premier hat sich dabei – wie so oft – gründlich verspekuliert und muss logischerweise den Hut nehmen. Cameron trägt die Hauptschuld am britischen Desaster-Referendum.
II.
Boris Johnson, der wie ein wirrer, karrieregeiler Volkstribun auftritt, war die konservative Zentralfigur in diesem Drama. Der frühere Major von London hat sich vor allem deshalb als Wortführer für den Brexit betätigt, weil er nächster Premierminister werden möchte. Gerüchte, wonach er den Austritt Großbritanniens aus der EU gar nicht möchte, wollen nicht verstummen – gerechnet dürfte er damit jedenfalls nicht haben. Jetzt spielt er plötzlich auf Zeit, nimmt seine abgegebenen Versprechen teilweise schon wieder zurück und speist die besorgten „Remain“-Befürworter mit billigen Durchhalteparolen ab. Falls dieser Chaot im Oktober tatsächlich Cameron-Nachfolger wird, würde das Königreich jedenfalls tiefstes Mitgefühl verdienen.
III.
Nigel Farage, der Chef der EU-feindlichen Independence Party UKIP, hat sein oberstes Ziel dank seines totalen Einsatzes mit allen – selbst illegalen – Mitteln wie Falschinformationen erreicht. Als kongeniale Mischung aus Opportunismus, Populismus, Isolationismus und Nationalismus verstand er es, das „Leave“-Lager so stark mit simplen Parolen zu emotionalisieren, dass bei zahllosen Bürgern offenbar der Verstand ausgesetzt hat. Farage wird zwar sein Mandat in EU-Parlament verlieren, hofft aber auf die nächsten Parlamentswahlen daheim. Es wäre sehr wünschenswert, würden die enttäuschten Briten seiner UKIP dann einen ordentlichen Denkzettel verpassen.
IV.
Es ist nämlich unerträglich, wie hemmungslos Nigel Farage agiert: Am frühen Morgen nach dem Referendum rief er beispielsweise einen „British Independence Day“ aus und brüllte – acht Tage nach dem tödlichen Attentat auf die Labour-Abgeordnete Jo Cox – in die johlende Menge: „Wir haben es geschafft, ohne dass eine einzige Kugel abgefeuert wurde“. Geifernde Politiker mit einem derartigen Fanatismus und einer dermaßen schrägen Weltanschauung haben in einem modernen Europa einfach nichts verloren…
V.
Dem seltsamen Duo Johnson/Farage ist es jedenfalls gelungen, nicht nur die britische Gesellschaft in zwei Lager zu spalten, sondern auch die Einheit des Königreichs in Frage zu stellen. Die Schotten, die mehrheitlich für einen Verbleib votiert haben, fordern bereits eine neuerliche Abstimmung über ihre Unabhängigkeit, weil sie sich summa summarum von Brüssel mehr als von London versprechen. Auch in Nordirland, das sich im Gegensatz zu Wales mit großer Mehrheit zur europäischen Gemeinschaft bekannte, haben viele Menschen die Nase auf Grund des Gesamtergebnisses gestrichen voll. Sie träumen teilweise schon von einer Vereinigung mit der Republik Irland. Das Auseinanderbrechen des British Empire ist damit aus heutiger Sicht keineswegs auszuschließen. Übrigens: Die Queen hat sich bislang dazu lediglich in Schweigen gehüllt.
VI.
Nicht wenige der 17,4 Millionen Wählerinnen und Wähler, die sich am Stimmzettel pro Brexit entschieden, sind erst ein, zwei Tage danach aufgewacht. Erst dann ist ihnen offensichtlich gedämmert, dass etwas passiert ist, was sie letztlich gar nicht wollten. Viele fühlen sich nunmehr getäuscht, weil sie bloß über die Nachteile, doch wenig über die Vorteile der britischen EU-Mitgliedschaft informiert worden seien. Der Frust, dass sie von verantwortungslosen Phrasendreschern reingelegt wurden, ist groß und nimmt von Tag zu Tag zu. Womöglich hängt das auch damit zusammen, dass eher mit einem Sieg der EU-Anhänger zu rechnen war.
VII.
Plötzlich tauchen ständig diverse Optionen auf, wie doch noch der Exit vom Brexit zu schaffen wäre. Die mittlerweile schwer angeschlagene Labour Party etwa hofft darauf, dass das Unterhaus die Misere noch im letzten Moment planieren könnte, weil das Referendum nicht bindend sei und im Parlament eine Mehrheit pro EU zu erwarten wäre. Würde das tatsächlich passieren, wäre das naturgemäß ein schwerer Anschlag auf die Demokratie, den sich Großbritannien letzten Endes niemals leisten darf. Fraglich ist auch, was die mittlerweile von mehr als drei Millionen Briten unterfertigte Online-Petition Wert sein kann, die den Wahnsinn vom vergangenen Donnerstag korrigieren möchte. Die Chance, dass der Kampf um eine zweite Abstimmung Erfolg bringt, ist freilich gering.
VIII.
Das Votum vom 23. Juni ist insbesonders für jüngere Briten, denen die Zukunft verbaut wird, eine Katastrophe. Sie fühlen sich mehrheitlich zu Europa gehörend, sind deutlich weltoffener als die ältere Generation und haben nicht nur den europäischen Gedanken, sondern auch die vielfältigen Vorteile verstanden, die ein großer Wirtschaftsraum allen bescheren soll. Leider wird das von den älteren Bevölkerungsschichten ab etwa 45 Jahren gänzlich anders gesehen: Die weniger gebildeten, auch ärmeren Briten – Bauern, Pensionisten, Arbeitslose etc. – haben überwiegend und durchaus nostalgisch motiviert auf Souveränität des Landes gepocht, weil sie großteils den Sprung in die Zukunft noch nicht geschafft haben und von Prosperität, Pluralität, Mobilität oder wirtschaftlicher Stabilität wenig bis gar nichts halten. Sie werden die Konsequenzen des Brexit im Gegensatz zu den heute unter 30-Jährigen auch weitaus weniger dramatisch zu spüren bekommen – und genau das macht die Jungen zu Recht wütend. Dieser Generationskonflikt wird Großbritannien jedenfalls noch sehr zu schaffen machen.
IX.
Der Finanzplatz London wurde von diesem Votum am allermeisten erschüttert, weshalb die Depression dort am größten ist. Die City of London, traditioneller Ankerplatz von Europas größten Finanzdienstleistern, bangt um ihre Zukunft: Das große Zittern hat begonnen, dass London seine führende Rolle als Europas Banken- und Börsenzentrum verlieren könnte, weil die Europa-Headquarters der internationalen Geldinstitute wie JP Morgen oder Goldman Sachs reihenweise – etwa nach Frankfurt – abwandern dürften und allein in der Finanzbranche bis zu hunderttausend Arbeitsplätze wackeln. Es sind bereits Spekulationen aufgetaucht, dass London souverän werden müsse, um Mitglied der Union bleiben zu können.
X.
Die künftigen Nachteile für Großbritannien, die ein Brexit nach sich ziehen wird, werden allmählich selbst den größten Querulanten klar, obwohl renommierte Institute bereits seit Monaten davor gewarnt hatten. Das Königreich muss sich – in Stichworten – auf ein sinkendes Wachstum, bis hin zur Rezession, eine steigende Arbeitslosigkeit, eine empfindliche Abwertung der Währung, zunehmende Inflation, schrumpfende Investitionen und massive Probleme für die Exportwirtschaft der Insel gefasst machen. Fazit: Jeder Bürger wird direkt betroffen sein, weil jeder einzelne Haushalt ärmer wird und es folglich nur Verlierer, aber keine Sieger gibt. Etliche Fragen von großer Bedeutung sind derzeit noch völlig unklar: Was passiert etwa mit den drei Millionen EU-Bürgern, die in Großbritannien leben, und was erwartet die fast zwei Millionen Briten, die im EU-Raum wohnen?
XI.
Die britische Wirtschaft wiederum steuert auf die Misere zu, dass es sozusagen einen vertragslosen Zustand geben wird, weil die derzeit gültigen Spielregeln des Binnenmarkts wegfallen könnten und sämtliche Handelsabkommen der EU futsch wären und mit zahllosen Ländern neu verhandelt werden müssten, was etliche Jahre dauern würde. Laut einer soeben veröffentlichten Umfrage des Institutes of Directors denkt jedes fünfte britische Großunternehmen bereits an eine Verlagerung ihrer Aktivitäten ins Ausland. Gleichzeitig können auch die Landwirte, die kurioserweise mehrheitlich für den Ausstieg waren, bereits ums Überleben zittern, weil beträchtliche Teile ihres Einkommens aus EU-Töpfen einfach wegfallen werden.
XII.
Ob die vermeintlichen Vorteile, die sich Brexit-Fans erhoffen, im Königreich realisierbar sind, ist höchst ungewiss. Erstens werden die Nettozahler auf der Insel zwar keinen Pfund mehr nach Brüssel überweisen müssen, doch die krisenbedingten Belastungen, die auf sie zukommen, könnten vermutlich sogar wesentlich höher als die Ersparnis sein. Zweitens werden wohl die EU-weit gültigen bürokratischen Reglementierungen wegfallen, doch dann wird man eben neue benötigen und sofern diese von den anderswo gültigen Normen abweichen, wird sich Großbritannien zahllose weitere Probleme einhandeln. Drittens wird sich das Land zwar mit strengen Grenzkontrollen abschotten können, um die Zuwanderung einzudämmen, aber in welchem Ausmaß das gelingen wird bzw. Vernünftig wäre, bleibt eine offene Frage. Das künftige Fazit könnte also lauten: Außer Spesen nichts gewesen…
XIII.
Der Schock nach dem Brexit-Votum ist in ganz Europa spür- und deutlich messbar geworden. Das Pfund ist eingebrochen, die Bonität Großbritanniens wurde etwa von der Ratingagentur Standard & Poor‘s vom Top-Wert gleich um zwei Stufen auf AA gestutzt An den Börsen kam es sogleich zu einem Blutbad wie schon lange nicht mehr: Vor allem die Aktienkurse der Großbanken stürzten ins Bodenlose, auch Airlines wie Easy Jet oder Lufthansa hat es reihenweise schwer getroffen, britische Immobilien-Titel sind total abgesandelt, und auch der Ölpreis ist weiter gefallen. Jetzt geht es darum, die riesige Verunsicherung, die noch jahrelang andauern wird, einmal halbwegs zu verkraften und die Panik an den Finanzmärkten einigermaßen einzudämmen.
XIV.
Während die Briten angesichts der unerwartet desaströsen Reaktionen auf ihren historischen Entscheid im Moment wie paralysiert sind – der Austrittsantrag soll bekanntlich erst im Spätherbst eingebracht werden – macht die EU-Führung verständlicherweise Druck: Jean-Claude Juncker, Donald Tusk und Martin Schulz drängen nunmehr darauf, die Angelegenheit nicht unnötig zu verzögern, sondern den Scheidungsprozess möglichst bald zu eröffnen. Nachdem die Brüsseler Spitzen auf Großbritannien, das immer schon eine Sonderbehandlung und unzählige Extrawürste verlangt hatte, stinksauer sind, wird nunmehr signalisiert, dass es kein Zurück mehr gibt und keine Alternative zum Exodus. Es ist kaum damit zu rechnen, dass die Verhandlungen etwa mit Boris Johnson auch nur im Entferntesten in freundlicher Atmosphäre ablaufen werden, sondern mit der gebührenden Härte in sämtlichen Fragen.
XV.
Für die EU-Führung ist das Ja zum Brexit ein herber Schlag. Die Staatengemeinschaft wird spätestens Anfang 2019, wenn die Briten dann endgültig draußen sind, an Gewicht verlieren – nämlich 13 Prozent der Bevölkerung und 17 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Damit wird sich die EU zweifellos schwerer tun, etwa mit den USA, Russland oder China auf Augenhöhe zu verhandeln. Was ihr aber noch mehr zusetzen dürfte als diese Schwächung, sind Abspaltungssignale aus so manchen EU-Mitgliedsländern, die sich ein Beispiel an Großbritannien nehmen könnten – dabei geht‘s etwa um Dänemark, den Niederlanden und – unter der Voraussetzung, dass Marine Le Pen die nächste Präsidentin wird, was Gott abhüten möge – auch Frankreich. Die Visegrad-Staaten wie Tschechien und Ungarn sind bekanntlich ebenfalls längst für Einzelgänge gut und extrem unberechenbar. Es geht also um die Kernfrage, ob der Zusammenhalt gewährleistet werden kann oder ob es in geraumer Zeit da und dort gefährliche Ausstiegstendenzen zu registrieren sind, die zu weiteren Exits führen könnten.
XVI.
Auf alle Fälle war der 23. Juni für die Europäische Union ein Erdbeben von beträchtlichem Ausmaß – eine heftige Erschütterung, ein gewaltiger Riss, was allseits zwar Angst ausgelöst hat, doch das europäische Haus steht vorerst noch, ist gewiss nicht zusammengebrochen. Jetzt wird sich relativ bald weisen, ob bzw. wie die zuständigen Politiker darauf reagieren: Die zahlreichen Appelle aus verschiedensten Himmelsrichtungen, dass sich die Union verändern, mehr auf die Bedürfnisse ihrer Bürgerinnen und Bürger hören müsse, dass sie endlich monströse Probleme wie die Migrationskrise gemeinsam einer befriedigenden Lösung zuzuführen hätte – das alles ist, eigentlich schon längst, hinlänglich bekannt. Es geht nur noch darum, dass dieser Erneuerungsprozess rasch startet und es dabei so bald wie möglich erste sichtbare Konsequenzen gibt. Zu befürchten ist indes, dass die EU sich ebenso wenig über ihren künftigen Kurs klar ist wie Großbritannien über seinen.
XVII.
Abgesehen von den politischen Auswirkungen wird die Union auch wirtschaftliche Rückschläge zu verkraften haben: Auf der Insel wird sich die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen aus dem EU-Raum zweifellos abschwächen, kontinentale Exporteure werden es möglicherweise mit neuen Zollschranken und/oder anderen Standards auf dem britischen Markt zu tun haben, was sich auf ihre Kalkulation auswirken muss, weshalb nahezu überall mit einem Rückgang des BIP zu rechnen sei, höchstwahrscheinlich auch mit einem derzeit noch nicht quantifizierbaren Verlust an Arbeitsplätzen. Manche Branchen würden so wie Automobilindustrie oder der Tourismus mehr leiden, andere wieder weniger. Die allgemeine Unsicherheit, die ganz Europa justament zu einem Zeitpunkt befallen hat, an dem es nach der großen Finanzkrise wieder allmählich aufwärts gehen könnte, wird allerdings die gesamte Wirtschaft noch lange lähmen – das ist bombensicher.
XVIII.
Nachdem sich nicht einmal annähernd abzeichnet, welchen Kurs Großbritannien einschlagen möchte, können sämtliche Prognosen, wie es in Detailbereichen weitergeht, bloß Spekulation sein. Eines ist jedoch schon sicher: Angela Merkel wird – wie immer – die EU rausreißen müssen, weil Deutschland künftig 2,5 Milliarden Euro mehr nach Brüssel überweisen muss, um den britischen Ausfall zu kompensieren. Frankreich hat knapp 1,9 Milliarden zusätzlich zu berappen, Italien wird rund 1,4 Milliarden drauflegen müssen, und von Spanien wird erwartet, dass es etwa 900 Millionen aufbringt, damit die Union weiterhin ein stattliches Budget zu verwalten hat. Es ist daher verständlich, dass diese Länder derzeit auf Großbritannien gar nicht gut zu sprechen sind – und daran wird sich auch so bald nichts ändern.