Die gruppendynamische Meisterleistung bei der Suche nach dem Faymann-Nachfolger grenzte an ein Wunder: Nachdem sich acht SP-Landesgremien zügig für Christian Kern ausgesprochen haben, blieb auch Michael Häupl, der eigentlich seinen Uralt-Spezi Gerhard Zeiler ins Rennen hatte schicken wollen, nichts mehr anderes übrig, als sich ebenfalls hinter den bisherigen ÖBB-Generaldirektor zu stellen.
Dieser wird seit Tagen in den meisten heimischen Printmedien über den roten Klee gelobt, wobei Adjektiva wie smart, cool, locker, clever, höflich, sachlich, selbstbewusst, intelligent oder recht sympathisch am häufigsten Verwendung fanden. Dem neuen SPÖ-Boss und Bundeskanzler werden unter anderem Führungsqualität, Dynamik, Kompetenz, Zielstrebigkeit, Ehrgeiz, soziale Intelligenz, akkurates Styling, rhetorisches Talent, geschliffene Ausdrucksweise und ein gewinnendes Wesen attestiert. Dieser Fülle an Vorschusslorbeeren ist es zuzuschreiben, dass Kern laut einer vom „Kurier“ in Auftrag gegebenen OGM-Umfrage recht gut rüberkommt: Von 500 Befragten haben immerhin 41 Prozent von ihm eine gute Meinung; 21 Prozent hingegen sind alles andere als begeistert; und für die restlichen 38 Prozent ist er auf Grund seines geringen Bekanntheitsgrades noch ein unbeschriebenes Blatt.
Der karrierebewusste Quereinsteiger, der „aussieht wie Humphrey Bogart („Kurier“), wird als „machtbewusster Manager“ („Standard“), „versierter Netzwerker“ („Kleine Zeitung“), „Roter mit Wirtschafts-kompetenz“ („Österreich“) bzw. „Pragmatiker mit Linksdrall“ („Presse“) dargestellt – und bekam bislang nur ganz wenige Schrammen ab: Etwas arrogant wirke der Newcomer ohne Polit-Erfahrung bisweilen, hieß es da und dort, vielleicht sogar ein bisschen überheblich, auch ziemlich eitel soll er sein, und Kritik an seiner Person möge er halt so gar nicht. Schließlich, reporterten besonders aufmerksame Journalisten, sei ihm ein Faible für elegante Maßanzüge und kostspielige Armbanduhren nicht abzusprechen. Ob seine politischen Karriere-Ambitionen irgendwie auch etwas mit Illoyalität oder einem Hang zu Intrigen zu tun haben konnten, wurde freilich nirgendwo thematisiert.
Jedenfalls ist Christian Kern, der Mann, der offenbar immer schon Kanzler werden wollte, auch wenn er das immer wieder in Abrede gestellt hat, für‘s Erste am Ziel angelangt. Und obzwar sich in die geradezu lobeshymnische Beurteilung seiner sechsjährigen Amtszeit bei der Bundesbahn auch gewisse Zweifel mischen, ob er denn als oberster Weichensteller wirklich so gut war, wie viele glauben, steht ihm ab sofort die mit Abstand größte Bewährungsprobe seines Lebens bevor. Mit einem riesigen, ihm von der SPÖ umgehängten Rucksack voller Probleme, Aufgaben und Erwartungen am Buckel steht dem erprobten Manager, der die Österreicher im Vorjahr immerhin 460 Millionen Mal per Zug und Bus an ihre Ziele transportieren ließ, an der Spitze der Regierung ein veritabler Quantensprung mit letztlich ungewissem Ausgang bevor. Ein paar Eckdaten zur Illustration:
Als ÖBB-Boss für 40.000 MitarbeiterInnen verantwortlich, wird Kern als Kanzler in Zukunft ein Land mit 8,7 Millionen Einwohnern managen müssen. Die Bundesbahn setzte zuletzt 5,2 Milliarden Euro um und schaffte mit einem EBIT von 193 Millionen Euro das beste Ergebnis der ÖBB-Geschichte; die Bundesregierung hingegen wird im heurigen Jahr rund 77 Milliarden ausgeben und lediglich 72 Milliarden einnehmen, was auf ein Defizit von rund fünf Milliarden hinausläuft. Zwei Horrorzahlen noch: Während die Staatsbahn bei Verbindlichkeiten von fast 24 Milliarden Euro hält, betragen die Staatsschulden der Republik derzeit nahezu 293 Milliarden. Kern, der künftig mit nicht einmal 300.000 Euro Jahresgage nicht einmal halb so viel verdienen wird wie bisher, wird also angesichts dieser Fakten in einer anderen Liga tätig sein, wobei die Rahmenbedingungen keineswegs besser sind – im Gegenteil.
„Reiter ist neu, aber Pferd tot“
Als Generaldirektor hat er seinen Job in der ÖBB Holding mit nur einem Kollegen – Josef Halbmayr – erledigt. Überdies assistierten ihm bei den diversen Tochterfirmen mehr als 20 Vorstandsdirektoren bzw. Geschäftsführer, von denen übrigens 14 eine höhere Gage als der Kanzler beziehen. Kern kontrollierte seine Führungsclique zumeist aus der Vogelperspektive des Aufsichtsrats, hatte dabei natürlich stets das letzte Wort, sodass alles nach seinem Gutdünken gelaufen ist, wie auf Knopfdruck funktioniert hat, weil ihm kaum jemand widersprach. Künftig wird das ganz anders laufen: Als Bundeskanzler dirigiert er ein zweifärbiges Regierungsteam, dem der Vize, 12 Minister und zwei Staatssekretäre angehören. Kern muss sich darauf gefasst machen, dass ihm zwar die roten Minister treu ergeben sein werden – die schwarzen Kollegen jedoch wohl auch weiterhin gerne diametrale Auffassungen vertreten dürften. Eine Art „Durchgriffsrecht“ wie bei der Bahn gibt es nicht, weil die Regierungskollegen ihr Ressort eigenständig führen und ihr Regisseur einfach nicht in tausend Sachgebieten firm sein kann. Nur: Wenn die Regierung nichts weiterbringt, wird automatisch der Kanzler dafür verantwortlich gemacht – Werner Faymann kann aus eigener Erfahrung das bestätigen.
Neu für Kern, der bislang selbst mit der Eisenbahner-Gewerkschaft ein äußerst gutes Einvernehmen schaffte, wird noch etwas sein: Bei seinem Versuch, den politischen Stillstand endlich zu beenden, kann er nicht damit rechnen, dass sich alle anderen Player ewig an eine Art Stillhalteabkommen gebunden fühlen. Daher könnte es zum einen passieren, dass es in der eigenen Partei wieder zu rumoren anfängt, sobald er sich mit zwei, drei klaren Wortmeldungen etwa den Zorn des linken SPÖ-Flügels zuzieht. Dass es ihm zum anderen der Koalitionspartner nicht leicht machen und das Feld kampflos überlassen, sondern ihn ziemlich unter Druck setzen wird, ist ebenfalls höchstwahrscheinlich. Drittens wird er von den Oppositionsparteien laufend konträre Meinungen und herbe Kritik zu hören bekommen. Jede Wette, dass er vor allem von HC Strache, der ihn bereits als „Schaufensterpuppe mit neuem Gesicht, aber altem Programm“ verulkt hat, so oft wie möglich verbal geohrfeigt werden wird. Der originellste Sager gelang Neos-Chef Matthias Strolz: „Es gibt zwar einen neuen Reiter, aber das Pferd – das rot/schwarze Machtkartell – ist tot“.
Schließlich könnte es noch von Seiten der – insbesonders schwarzen – Landeshauptmänner oder aufmüpfiger Bürgermeister geballte Einwände gegen seine Person bzw. seine Strategie geben – ein gewaltiger Unterschied zum ÖBB-Job. Das heißt also, dass der neue Kanzler, dem Kritik ohnedies zutiefst zuwider ist, ab sofort mit – wenn auch teilweise irrationalen – Widerständen konfrontiert sein wird, weil er am Ballhausplatz nicht mehr alleine die Richtung vorgeben kann. Bei der Bahn hatte er es zwar im Güterverkehr mit exakt 28 Wettbewerbern zu tun, doch in der Politik könnten ihm wesentlich mehr Rivalen das Leben schwer machen.
Wie politiktauglich ist Kern?
Es ist allerdings kein Geheimnis, dass Christian Kern exzellentes Marketing in eigener Sache beherrscht wie kaum ein anderer – doch auch diesbezüglich beginnt für ihn eine neue Zeitenrechnung. Was war bisher? Im Vorjahr war sein Name rund 1000 Mal in rot-weiß-roten Printmedien zu finden, vor allem deshalb, weil er sich beim Durchschleusen von zigtausend Flüchtlingen medienwirksam in Szene setzen konnte bzw. monatelang als potenzieller Faymann-Nachfolger im Gespräch war. Kern durfte es u.a. genießen, dass ihn Franz Vranitzky oder Franz Voves für „politiktauglich“ hielten, ihn ÖBB-Aufsichtsratschefin Brigitte Ederer öffentlich lobte, weil er „die Kultur der ÖBB positiv verändert“ habe oder dass ihn das „Industrie-magazin“ zum „mächtigsten Manager Österreichs“ kürte. Ansonst war seine mediale Präsenz nicht gerade mit weltbewegenden Dingen verbunden, aber durchwegs positiv besetzt: Da ging es beispielsweise um Nachrichten wie: ÖBB kauft 200 Güterloks, ÖBB präsentiert neue Fahrpläne, ÖBB verbessert Handyempfang in Zügen oder aber Kern tauft gemeinsam mit Marcel Koller einen Railjet, Kern besucht die Grazer Opern-Redoute oder Kern taucht beim Geburtstagsempfang zu Reinhold Mitterlehners Sechziger auf.
Und wie sieht‘s künftig aus? In neuer Rolle wird der jetzt noch hochgelobte Kern, so wie sein glückloser Vorgänger, praktisch täglich x Mal in den Zeitungen stehen und sich damit permanent im Visier der Öffentlichkeit befinden – über Werner Faymann wurde im Vorjahr in 400 Medien an die 24.000 Mal berichtet, über die SPÖ gleich 150.000 Mal. Auf seine Pressereferenten, die Kern vermutlich von der Bahn ins Kanzleramt mitnehmen wird, wartet jedenfalls Schwerarbeit: Es wird nicht mehr reichen, dass sie Tag für Tag, nicht selten sogar bis zu drei – wenn auch nicht atemberaubend spannende – PR-Texte fabrizieren; außerdem geht es künftig um völlig andere, teilweise nicht so einfach zu verkaufende Materien. Bislang nützten selbst 08/15-Meldungen etwa über die Renovierung eines kleinen Bahnhofes, das 40. Dienstjubiläum eines Lokführers oder die Ausstattung von Nahverkehrszügen mit Design-Toiletten schlussendlich auch dem Image des Bahn-Generals. Künftig dürfte das mediale Echo, wenn er etwa ständig nach Brüssel fliegt, am Dienstag beim Pressefoyer auftritt, diverse Staatsbesucher empfängt, Professoren-Titel vergibt, bei Festakten eine Rede hält, Kasernen besucht, an irgendwelchen Konferenzen teilnimmt oder einfach nur an seinem Schreibtisch sitzt, beileibe nicht automatisch so positiv ausfallen – in der Politik geht‘s diesbezüglich eben eindeutig rauer zu als in der Wirtschaft.
Mit perfekter Selbstvermarktung allein ist das Match für den Quereinsteiger, der hoffentlich auch ein Querdenker ist, freilich noch nicht zu gewinnen. Auch eine blendende Rhetorik wird ihm eben so wenig die erwünschten politischen Erfolge sichern. Kern wird letztlich nur an Taten gemessen – ob er beispielsweise die gespaltene SPÖ wieder auf Vordermann und zugleich frischen Wind in die Koalitionsregierung bringen kann. Nur wenn er diesen doppelten Kraftakt halbwegs schafft und dabei ähnlich souverän wie seinerzeit Franz Vranitzky agiert, lebt die Chance, dass die Roten bei den nächsten Wahlen – wann immer die auch stattfinden – nicht hochkant aus der Regierung fliegen. In diesem Worst Case wäre seine Polit-Karriere auch schon wieder vorbei: Als roter Oppositionsführer würde ein Alphatier wie Kern nämlich eine glatte Fehlbesetzung sein.