Einführung
Als Jemand, der sich seit über zehn Jahren kontinuierlich mit der Frage eines möglichen Ausscheidens des Vereinigten Königreichs (UK) aus der EU (sog. „Brexit“) beschäftigt hat, hat mich die Information, dass der ehemalige britische Premierminister David Cameron, der Mitte Juli 2016 zurückgetreten war, Mitte November dieses Jahres zum Außenminister der aktuellen Regierung Sunak ernannt wurde, zutiefst verwundert, war er es doch, der für den „Brexit“ kausal verantwortlich war, und damit dem Vereinigten Königreich (UK) nicht nur große finanzielle Belastungen auferlegt, sondern dieses auch wirtschafts- und außenpolitisch enorm geschwächt hat.
Im Rahmen der Regierungsumbildung im Zuge der Entlassung der umstrittenen Innenministerin Suella Braverman war es am 13. November 2023 in Großbritannien zu einem außerordentlichen Vorgang gekommen, mit dem eigentlich niemand gerechnet hatte. Nachdem Premierminister Rishi Sunak den bisherigen britischen Außenminister James Cleverly als neuen Innenminister installiert hatte, ernannte er David Cameron zum neuen Außenminister, der zuvor noch, und zwar im Schnellverfahren, von König Charles III. zum Mitglied des Oberhauses (House of Lords) – als „Lord Cameron of Chipping Norton“ – ernannt werden musste, da in Großbritannien traditionell nur Mitglieder des Parlaments zu Ministern ernannt werden können.[1]
Über die Gründe, die Premier Sunak veranlasst haben könnten, ausgerechnet David Cameron in sein Kabinett als Außenminister aufzunehmen, wird in der einschlägigen Berichterstattung heftig diskutiert, dafür aber keine einheitliche Erklärung gefunden. Dementsprechend soll nachstehend versucht werden, zunächst die Verantwortlichkeit von David Cameron für den „Brexit“ darzustellen, um danach die für die „Kompensation“ des Brexit vereinbarten Abkommen aufzulisten, sowie anschließend den Konsequenzen des Brexit kurz nachzugehen. Zuletzt soll auf die Motive eingegangen werden, die Premier Sunak veranlasst haben könnten, David Cameron aus seinem Ruhestand zu aktivieren und ihn in seine Regierung als Außenminister zu berufen. In einem kurzen Nachtrag soll noch ein Blick auf die Wahrscheinlichkeit des Wiedereintritts des UK in die EU geworfen werden.
Wie David Cameron den „Brexit“ verursachte
Unter dem Druck der Wahlerfolge der euroskeptischen UK Independence Party (UKIP) – unter ihrem Vorsitzenden Nigel Farage – geriet der britische Premierminister David Cameron immer stärker in Zugzwang, sodass er am 23. Jänner 2013 Verhandlungen zur Reform der EU und – anschließend daran – einen britischen Volksentscheid über den Verbleib des Vereinigten Königreichs (UK) in der EU ankündigte. Obwohl ihm der Europäische Rat in der Folge am 27. Juni 2014 – im Hinblick auf die schon früher geforderte Eliminierung der Verpflichtung, innerhalb der EU eine „immer engere Union der Völker Europas“[2] anzustreben – mit einer kompromissartigen Formulierung, dass nämlich das UK „in Anbetracht seiner Sonderstellung nach Maßgabe der Verträge nicht zu einer weiteren politischen Integration in die EU verpflichtet ist“,[3] entgegengekommen war, gab sich Premierminister Cameron damit aber nicht zufrieden.[4]
Dementsprechend sahen sich die im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten auf ihrer Tagung vom 18./19. Februar 2016 veranlasst, sowohl einen „Beschluss über eine neue Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union“[5], als auch sechs weitere einschlägige Erklärungen zugunsten des UK[6] zu verabschieden. Cameron akzeptierte diese Zusagen – als nicht weitgehend genug – aber nicht und kündigte am 20. Februar 2016 für den 23. Juni 2016 die Abhaltung des erwähnten Volksentscheides über den Verbleib des UK in der EU an.
Bei diesem „Referendum“ – das in Wahrheit bloß eine rein konsultative Volksbefragung darstellte, die damit weder für die britische Regierung, noch für das Parlament bindend war – wurde dem Wahlvolk folgende Frage zur Beantwortung vorgelegt: „Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union“?
Unverständlicher Weise wurde mit dieser Formulierung zunächst der Eindruck erweckt, dass es sich dabei nur um den Verbleib bzw. den Austritt des UK aus der EU handle. Damit wurde aber das britischen Elektorat nicht über die negativen Folgen des damit unter Umständen ebenfalls verbundenen Austritts aus der EAG (EURATOM) befragt. Gem. Art. 3 des Protokolls (Nr. 2) zur Änderung des EAG-Vertrags iVm Art. 106a Abs. 1 EAGV[7] gelten nämlich die Bezugnahmen auf die EU auch als solche auf die EURATOM-Gemeinschaft und den EAG-Vertrag, was ua auch auf die Austrittsbestimmungen des Art. 50 EUV zutrifft. Ein Austritt aus EURATOM würde aber die aktuellen britischen Atomkraft-Pläne des Baues zweier neuer Atomreaktoren der „dritten Generation“ (ERP) in Hinkley Point C massiv gefährden.[8]
Leider existieren keine zugänglichen Materialien, aus denen hervorgehen würde, ob die Regierung Cameron sich bei der Formulierung der Frage für die Volksbefragung über diese Mitbetroffenheit von EURATOM bewusst verschwiegen oder die Problematik überhaupt nicht erkannt hätte, was aber nur schwer vorstellbar wäre.
Der Ausgang der Volksbefragung
Obwohl die Wettbüros die Wahrscheinlichkeit eines „Brexit“ mit lediglich 25% veranschlagt hatten[9], ging die Volksbefragung am 23. Juni 2016 zur allgemeinen Überraschung aber (knapp) negativ aus: Bei einer Wahlbeteiligung von 72,2% votierten 51,89% der Wähler – das waren 17,4 Mio. Briten – für einen Austritt des UK aus der EU, und 48,11% – das waren 16,1 Mio. Briten – für einen Verbleib in der EU. Damit stimmten nur 37,44%, also ein gutes Drittel, der Wahlberechtigten für einen Brexit.[10] In Summe stimmten insgesamt nur knapp mehr als 1 Mio. Bürger für ein „Leave“ im Vergleich zu einem „Remain“, wobei in den vier Ländern des Vereinigten Königreichs (UK) – bestehend aus England (55 Mio. Einwohner), Schottland (5,3 Mio.), Wales (3 Mio.) und Nordirland 1,8 Mio) – die entsprechenden Prozentsätze durchaus unterschiedlich ausgeprägt waren: In England stimmten 53,4% für einen Brexit, in Wales waren es 52,5%, in Nordirland 44,2% und in Schottland 38%.
Es ist daher eine mehr als verständliche Vermutung, dass dann, wenn die britischen Wähler auch nach den Konsequenzen eines damit verbundenen Austritts aus der EAG (EURATOM) gefragt worden wären, die fehlenden knapp 2% der Stimmen für ein „Remain“ mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufgebracht worden wären.[11] Damit hätte aber der Ausgang der Volksbefragung eine völlig andere Richtung genommen und es wäre zu keinem Brexit gekommen.
In diesem Zusammenhang muss auch auf die irreführende Bezeichnung des Vorgangs des Ausscheidens des UK aus der EU durch den Begriff „Brexit“ hingewiesen werden, der ja darauf hindeutet, dass es sich dabei lediglich um einen Austritt von „Great Britain“ iSe „British Exit“ handelt, was aber völlig falsch ist. Es ist nicht nur Großbritannien, sondern das gesamte „Vereinigte Königreich“ („United Kingdom“, UK) – bestehend aus Großbritannien, Wales, Schottland und Nordirland – aus der EU ausgetreten, sodass es sich im Grunde um einen „UK-Exit“ und nicht um einen bloßen „Brexit“ gehandelt hat. Wie vorstehend festgestellt, haben sich ja auch die einzelnen Länder des UK an der Volksbefragung beteiligt und dabei unterschiedlich abgestimmt.
Rücktritt von David Cameron
Sechs Jahre lang, von Mai 2010 bis Juli 2016, war der Konservative David Cameron britischer Premierminister, zunächst an der Spitze einer Koalitionsregierung mit den Liberaldemokraten, seit 2015 aber mit einer absoluten Mehrheit seiner konservativen Partei im Unterhaus.
Am 23. Juni 2016 ordnete David Cameron die vorstehend erwähnte Volksbefragung an, die mit denkbar knapper Mehrheit für den Austritt des UK aus der EU ausging. Als Reaktion auf das negative Abstimmungsergebnis trat Cameron am 13. Juli 2016 als britischer Premierminister zurück und seine Nachfolgerin, Theresa May, wurde in der Folge durch den am 13. März 2017 erlassenen „European Union (Notification of Withdrawal) Act 2017“[12] dazu ermächtigt, die Austrittsabsicht des UK gem. Art. 50 Abs. 2 EUV dem Europäischen Rat mitzuteilen, was diese am 29. März 2017 auch vornahm. Damit begann die in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene zweijährige Übergangsfrist – bis zum 29. März 2019 – zu laufen, die im Jahr 2019 durch den Europäischen Rat aber noch dreimal verlängert und erst Ende 2020 definitiv beendet werden sollte.[13]
Das „Austrittsabkommen“
Die Verhandlungen wurden am 19. Juni 2017 offiziell aufgenommen, wobei die EU von Michel Barnier als Chefunterhändler vertreten wurde. Im November 2018 einigte man sich auf einen ersten Entwurf des Abkommens, aber erst am 24. Jänner 2020 konnte das „Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft“[14] (Austrittsabkommen) unterzeichnet werden, das in der Folge am 30. Jänner 2020 – gem. Art. 50 Abs. 2 EUV iVm Art. 106a EAGV – durch den Rat im Namen der EU und der EAG genehmigt wurde.[15] Im Austrittsabkommen wurden – reziprok – Rechte von Unionsbürgern und Bürgern des UK garantiert, eine britische Einmalzahlung zur Abgeltung ihrer finanziellen Verpflichtungen als EU-Mitgliedstaat vereinbart und Regelungen zur Vermeidung einer „harten“ Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland getroffen.
Bezüglich der Kosten für den Austritt aus der EU gab es zwischen der EU und Großbritannien einen längeren Streit. Nachdem im EU-Haushaltsbericht für 2020 eine Summe von 47,5 Mrd. Euro genannt wurde, erklärte die britische Regierung, dass sie diese Verbindlichkeit nicht anerkenne, da diese, ihres Erachtens nach, nur zwischen 41 und 45,6 Mrd. Euro liegen würde.[16]
Das Austrittsabkommen ist gem. Art. 50 Abs. 2 EUV von einer „Politischen Erklärung zur Festlegung des Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich“[17] begleitet, die den Rahmen für die künftigen Beziehungen des UK zur EU festlegt. Damit trat das UK, nach einer nunmehrigen 47-jährigen Mitgliedschaft, am 31. Jänner 2020, sowohl aus der EU als auch aus EURATOM aus[18] und das Austrittsabkommen trat am 1. Februar 2020 in Kraft.
Um dem Ausstieg des UK auch aus dem EAG-Vertrag nachzukommen, wurde ein eigenes „Abkommen im Bereich der sicheren und friedlichen Nutzung der Kernenergie“[19] abgeschlossen, das gemeinsame Standards für die zukünftige Kooperation im Nuklearbereich festlegt. Erst damit wurde korrekterweise auch dem vorerwähnten parallelen Austritt des UK aus der EAG (EURATOM) Rechnung getragen.
Das „Handels- und Kooperationsabkommen“
Mit dem Austritt aus der EU galten für das UK sämtliche Rechte und Pflichten, die ihm als EU-Mitgliedstaat, und während des Übergangszeitraums im Rahmen des vorerwähnten Austrittsabkommens, zustanden, nicht mehr. Dementsprechend wurden am 2. März 2020 Verhandlungen über ein geplantes „Handels- und Kooperationsabkommen“ offiziell aufgenommen.[20]
In Umsetzung der vorerwähnten „Politischen Erklärung“ wurde in der Folge – auf der Basis der beiden Art. 217 AEUV und Art. 101 EAV – am 30. Dezember 2020 das „Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits“ (Handels- und Kooperationsabkommen)[21], als reines EU-Abkommen („EU only“-Abkommen), unterzeichnet, das nach erfolgter Ratifikation durch alle 27 EU-Mitgliedstaaten am 1. Mai 2021 in Kraft treten konnte.[22]
Thematisch lässt sich das „Handels- und Kooperationsabkommen“ in folgende vier Hauptbereiche aufgliedern und systematisieren, nämlich in ein
a) (ambitioniertes) Freihandelsabkommen, eine
b) weitreichende Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Umweltschutz und Fischerei, eine
c) enge Partnerschaft für die Sicherheit der Unionsbürger, sowie eine
d) horizontale Vereinbarung über Governance.[23]
Die andauernden Streitigkeiten über die ordnungsgemäße Umsetzung sowohl des „Austrittstabkommens“, als auch des „Handels- und Kooperationsabkommens“, zwischen der Europäischen Kommission und der britischen Regierung konnten in der Folge erst durch die „Windsor Political Declaration“ vom 27. Februar 2023 beigelegt werden.
Obwohl das UK mit dem Brexit vom 1. Jänner 2021 den Binnenmarkt und die Zollunion sowie alle Politikbereiche und internationalen Übereinkünfte der EU verlassen musste, konnten mit dem „Handels- und Kooperationsabkommen“ die wichtigsten handelspolitischen Nachteile abgefedert werden. Es wurde dadurch nämlich eine ehrgeizige Freihandelszone geschaffen, die für beide Seiten wesentlich vorteilhafter ist, als ein Handel bloß nach den Regeln der WTO. Das „Handels- und Kooperationsabkommen“ umfasst nicht nur den Handel mit Waren und Dienstleistungen, sondern auch eine Reihe anderer Materien, wie zB Investitionen, Wettbewerb, staatliche Beihilfen, Steuertransparenz, Transport, Energie, Datenschutz, Koordinierung der Sozialversicherungen uam.
Das Abkommen geht über die jüngsten Freihandelsabkommen der EU mit anderen Drittländern, wie zB Kanada oder Japan, insofern hinaus, als es keinerlei Zölle oder Kontingentbeschränkungen für Waren vorsieht, die den Ursprungsregeln entsprechen. Eine gute Übersicht über die zukünftige Zusammenarbeit zwischen dem UK und der EU bietet die von der Kommission veranstaltete Zusammenstellung: „Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem UK. Eine neue Beziehung – mit großen Veränderungen“.[24]
Durch das „Handels- und Kooperationsabkommen“ wurde ein „hard Brexit“ vermieden, der zu jährlichen Wohlfahrtsverlusten im UK in Höhe von 57 Mrd. Euro und in den 27 EU-Mitgliedstaaten in Höhe von 40 Mrd. Euro geführt hätte.[25]
Konsequenzen des „Brexit“
Was das neue Kräfteverhältnis nach dem Brexit betrifft, so steht dem Block der 27 EU-Mitgliedstaaten mit 450 Mio. Einwohnern und einer Wirtschaftsleistung von 15,5 Billionen Euro, das UK, als nunmehriger Drittstaat, mit 67 Mio. Einwohnern und einem BIP von 2,25 Billionen Euro gegenüber.
Zuvor war die wirtschaftliche Verflechtung zwischen dem UK, der zweitstärksten Volkswirtschaft in der EU, und der EU beachtlich, gingen 2015 doch 44% (im Wert von 169 Mrd. Euro) der britischen Exporte in die EU, während knapp 10% (im Wert von 276 Mrd. Euro) der Gesamtexporte der EU das UK zum Ziel hatten. Was die Investitionen betraf, so wurde 2014 aus den EU-Mitgliedstaaten ein Gesamtvolumen von insgesamt 496 Mrd. Pfund im UK investiert.[26]
Nach dem Brexit sind die Exporte Großbritanniens in die EU aber um 23% niedriger und die Importe aus der EU ebenfalls um 13% geringer.[27] War Großbritannien vor dem Brexit noch fünftwichtigster Handelspartner Deutschlands, so ist das Königreich jetzt nicht einmal mehr unter den Top Ten. Langfristig wird die Produktivität in Großbritannien um vier Prozent niedriger sein, als es ohne Brexit der Fall wäre. Bis Dezember 2021 hatte der Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion den britischen Warenhandel um 14,9%, oder 12,9 Mrd. Pfund, reduziert.[28]
Besonders nachteilig wirkte sich der Brexit auf den Finanzplatz London aus, da dieser die größte Verschiebung im europäischen Börsenhandel seit 20 Jahren brachte. Am 4. Jänner 2021, dem ersten Handelstag im neuen Jahr, verlor die „City“, wie das Londoner Finanzzentrum genannt wird, die Krone als größter Aktionshandelsplatz in Europa und war auf einmal kleiner als Amsterdam. Geschätzte 44% der am Finanzplatz London etablierten Unternehmen kündigten an, auf den Kontinent samt ihrer Belegschaft zu übersiedeln.[29] Im September 2021 wurden in Amsterdam täglich Aktien im Wert von 10,3 Mrd. Euro gehandelt, in London waren es aber nur noch 9,6 Mrd. €; zum Vergleich: Frankfurt erreichte 5,4 Mrd. € und Zürich 3,2 Mrd. €. Dazu hatten britische Finanzdienstleister rund 7.600 Mitarbeiter in die EU verlagert[30].
Die gesamtwirtschaftlichen Folgen des Brexit-Entscheids für das Vereinigte Königreich werden zB vom Londoner Ökonomen Jonathan Portes auf 2 bis 3 Prozent geschätzt. Die Studie des Londoner National Institute of Economic and Social Research kommt auf die gleiche Größenordnung, was einer Einbuße von 850 Pfund pro Einwohner und Jahr entspricht. Bis 2025 könnte diese Einbuße aber auf rund 2.300 Pfund/Einwohner steigen.[31] Das britische „Office for Budget Responsibility“ (OBR) wiederum geht davon aus, dass der Brexit das britische Bruttoinlandsprodukt, wie vorstehend erwähnt, langfristig um vier Prozentpunkte drücken wird. Großbritannien wird demzufolge auf Sicht weniger Wohlstand haben, als es hätte, wenn es in der EU geblieben wäre.[32]
Der Fraktionschef der schottischen Nationalpartei SNP, Stephen Flynn, brachte die gegenständliche Problematik während einer Debatte im britischen Unterhaus am 21. Juni 2023 auf den Punkt: „Großbritannien pfeift aus dem letzten Loch. Wird der Premier sieben Jahre nach dem Brexit-Referendum endlich zugeben, dass der Brexit daran schuld ist?“.[33] Premier Sunak wich in seiner Antwort aus. Auch die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) nennt den Brexit „ein wirtschaftliches Desaster für beide Seiten des Kanals“.
Gründe für die Ernennung Camerons zum Außenminister
Premier Sunak versuchte mit der Ernennung Camerons nichts weniger, als einen „Big Bang“, einen Urknall, von dem an alles anders werden soll. Cameron ist ein politisches Schwergewicht, dem zuzutrauen ist, dass er Sunak und damit Großbritannien außenpolitisch nützt. In Sunaks Regierung sitzen nun drei Minister, die auch schon Mitglieder von Camerons erstem Kabinett vor 13 Jahren waren, nämlich Michael Gove, Jeremy Hunt und eben David Cameron. Cameron und Hunt standen damals für „Remain“, für den Verbleib in der EU. Und das, so ist offenbar das Kalkül Sunaks, soll nun jene Wähler besänftigen, die sich von den zwischenzeitlich im Amt tätig gewesenen Regierungen von Theresa May, Boris Johnson und Liz Truss nicht ordentlich vertreten gefühlt haben.[34]
Ein weiterer Grund wird laut „Times“ darin gesehen, dass Sunak mit der Personalie Cameron die Schlagzeilen bestimmen und damit vom Streit mit der Ministerin Braverman ablenken wollte.[35]
Sunak geht dabei von einem innenpolitischen Kalkül aus. David Cameron steht für das begüterte Bürgertum, das den Tories unter Boris Johnson den Rücken kehrte. Diese verlorenen Stammwähler muss Sunak für die für Oktober 2024 vorgesehene Unterhauswahl unbedingt zurückholen.[36]
Ganz anders sieht dies der renommierte Politologe Tim Bale, der bemerkte, dass der Umstand, dass Cameron wieder Mitglied der Regierung sei, „nur als Ausdruck der Verzweiflung, die diese Regierung umgibt“ verstanden werden kann. Befürworter des Brexit empfänden für Cameron Verachtung wegen dessen Werben für einen Verbleib in der EU, die Gegner, weil er das verlorene EU-Referendum abgehalten habe.[37] In der einschlägigen Literatur wird sogar schon von einem „Brexit aus Versehen“ gesprochen.[38]
Fazit
Wie komplex die gegenständliche Situation ist, lässt sich am besten an der Beantwortung der Frage veranschaulichen, wer denn eigentlich der „Verantwortliche“ für die Herbeiführung des „Brexit“ war. Im Rahmen der in der einschlägigen Literatur darauf gegebenen Antworten – die ganz unterschiedlich ausfallen – kristallisiert sich eindeutig der Vorsitzende der United Kingdom Independent Party (UKIP), Nigel Farage, als „Mr. Brexit“ heraus, der als prominentestes Zugpferd der „Anti-EU – Kampagne“ und Begründer der „Brexit Partei“[39] den EU-Ausstieg zu seiner „absoluten Besessenheit“[40] machte. Farage war es auch, der Cameron darin heftig unterstützte, das „EU-Referendum“ anzukündigen.
Versucht man aber, die Frage der „Verantwortlichkeit“ korrekt im Sinn der Kausalität – als „Ursache-Wirkungs – Zusammenhang“ – für die Herbeiführung des Brexit zu lösen, dann bleibt lediglich eine Person übrig, nämlich David Cameron. Er allein hat durch die Anordnung des EU-Referendums die Möglichkeit eröffnet, dass es in der Folge zu einem „Brexit“ kommen konnte, wenngleich er den Ausgang desselben keineswegs so gewollt hatte. Er war dafür aber „kausal“ verantwortlich und nicht die Briten, die in der Folge mit hauchdünner Mehrheit das EU-Referendum mit einem „Leave“ abschlossen und damit sowohl ihrem Heimatstaat, als auch der EU, milliardenschwere Kosten und wirtschaftliche Nachteile verursachten.
Dass David Cameron mit der Anordnung des „EU-Referendums“ den „Brexit“ kausal überhaupt erst ermöglicht hat, wird bei der Suche nach einem Verantwortlichen dafür immer wieder vernachlässigt bzw. bewusst übersehen. Nur so ist es möglich, dass Cameron im Schnellverfahren in das britische Oberhaus als Lord kooptiert und in der Folge zum Außenminister der Regierung Rishi Sunak ernannt werden konnte – ein Vorgang, der unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen nur sehr schwer nachvollziehbar ist.[41]
Nachtrag: Wiedereintritt des UK in die EU?
Lässt man die vorstehend erwähnten politischen und wirtschaftlichen Nachteile des Brexit Revue passieren, stellt sich automatisch die Frage, wie die britische Öffentlichkeit denn über einen möglichen Wiedereintritt in die EU denkt. Diesbezüglich wurden einige einschlägige Erhebungen gemacht, auf die abschließend kurz verwiesen werden soll.
In der Woche vor der Volksbefragung am 23. Juni 2016 wurde eine repräsentative Umfrage des Thinktanks „More in Common“ veröffentlicht, in der die Briten gefragt wurden, ob und wann das Vereinigte Königreich – im Falle eines Austritts – wieder in die EU eintreten sollte. Dabei antworteten 27% nie, insgesamt 60% antworteten aber: innerhalb der nächsten ein bis zehn Jahre.[42]
Mitte Juli 2023 wiederum hatte das Forschungsinstitut YouGov eine Umfrage veröffentlicht, laut der 63% der Bevölkerung fanden, der EU-Austritt habe mehr negative als positive Folgen gehabt. Selbst unter den Briten, die 2016 für den Ausstieg aus der EU gestimmt hatten, erklärten 58%, dass die Regierung den Brexit „vermasselt“ habe. Dieselbe Umfrage kommt zu dem Schluss, dass 57% der Bevölkerung den Brexit für einen Fehlentscheid halten – so viele, wie noch nie zuvor.[43]
Ganz allgemein führen Meinungsforschungsinstitute regelmäßig Umfragen durch, um die öffentliche Meinung zu einem potentiellen Wiedereintritt des UK in die EU zu untersuchen.[44] Die dabei erzielten Erkenntnisse lassen sich in aller Kürze wie folgt zusammenfassen: die Briten bedauern zwar den Brexit, doch ein baldiger Wiedereintritt in die EU ist mehr als unwahrscheinlich.
Das negative Votum muss zunächst im Kontext der vergangenen 40 Jahre gesehen werden, in denen das Gefühl einer europäischen Identität im UK auffallend schwach war. Es herrschte stets die Meinung vor, dass die Bestimmung des UK eher im Globalen, als auf dem Kontinent liegt. Dazu kam, dass es im Kontext der Volksbefragung von 2016 einige Politiker gab, die sehr effektiv für den Brexit geworben haben, wie zB Nigel Farage und Boris Johnson.
Sieben Jahre nach der Volksbefragung sprachen sich knapp 60% der Briten im UK für einen Wiedereintritt in die EU aus. Mit dem Status quo ist nur gut ein Drittel der Befragten einverstanden: 36% wollen hingegen nicht zurück in die EU und 34% finden den Brexit nach wie vor richtig, wie eine von Deltapoll durchgeführte Erhebung ergab. Selbst bei denjenigen, die für den Austritt gestimmt hatten, zeigten sich aber nur 18% mit dem Ergebnis zufrieden.[45]
Gemäß der letzten, vom schottischen Meinungsforschungsinstitut Savanta ComRes in Glasgow am 12. November 2023 durchgeführten Umfrage unter mehr als 2.000 Personen, würden 47-53% der Briten für einen Wiedereintritt in die EU stimmen. Es würden auch 82% derjenigen, die bei der Volksbefragung im Juni 2016 nicht mitgestimmt haben, für einen erneuten Beitritt zur EU stimmen. Die Umfrage zeigt auch, dass trotz der Brexit-Müdigkeit zwei von fünf britischen Erwachsenen ein Referendum über einen erneuten EU-Beitritt innerhalb der nächsten fünf Jahre befürworten würden, während nur ein Drittel diese Idee ablehnt. Die Mehrheit für eine erneute EU-Mitgliedschaft ist vor allem unter den jungen Wählern zu finden, von denen 77% für einen erneuten Beitritt stimmen würden. 49% der Wähler zwischen 18 und 34 Jahren wünschen sich ein neues Referendum innerhalb der nächsten fünf Jahre. Es ist daher unwahrscheinlich, dass die Frage eines erneuten Beitritts des UK zur EU im Vereinigten Königreich in absehbarer Zeit vom Tisch sein wird.[46]
Obwohl damit eine Mehrheit der Briten den Brexit nicht nur für einen Fehler hält, sondern sogar einen Wiedereintritt in die EU befürwortet, sind die Chancen dafür in der aktuellen Debatte kein Thema. Namhafte Experten, wie der britische Politologe Anand Menon, sind diesbezüglich aber der Meinung, dass eine Rückkehr Großbritanniens in die EU in den nächsten 15 Jahren ausgeschlossen ist.[47]
[1] Vgl. Nuspliger, N. Überraschungscoup in London: Rishi Sunak schickt Innenministerin Braverman in die Wüste und holt Ex-Premierminister Cameron ins Boot, nzz.ch, vom 13. November 2023.
[2] Erwägungsgrund 2 der Präambel des EWGV, Erwägungsgrund 13 der Präambel und Art. 1 Abs. 2 des EUV sowie Erwägungsgrund 1 der Präambel des AEUV.
[3] EUCO 79/14, S. 11; vgl. Hummer, W. Die Zusagen an das Vereinigte Königreich zur Abwehr eines BREXIT, integration 2/2016, S. 144 ff.
[4] Für die „Opt-out“-Alternativen des UK vgl. Hummer, W. Vom „Opt-out“ zum „Brexit“ – Großbritannien testet seine Alternativen in der EU, EU-Infothek vom 23. Juli 2013, S. 1 ff. (Teil 1) und EU-Infothek vom 30. Juli 2013, S. 1 ff. (2 Teil).
[5] ABl. 2016, C 69 I, S. 3 ff.; vgl. auch EUCO 1/16, Anlage I, S. 8 ff. sowie Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 5 (2021), S. 535 ff.
[6] EUCO 1/16, Anlagen II bis VII, S. 25 ff.
[7] ABl. 2010, C 84, S. 43.
[8] Vgl. Hummer, W. Hinkley Point C – Der Kampf Österreichs gegen Bau und Betrieb von Atomkraftwerken, ÖGfE Policy Brief 36‘2015.
[9] Vgl. businessinsider.com vom 22. Juni 2016.
[10] Neudecker, M. Cameron wieder in der Regierung. Ausgerechnet er kehrt zurück, Tagesanzeiger vom 13. 11. 2023.
[11] Hummer, W. Der „Brexit“ und seine Auswirkungen auf die EU, in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 5 (2021), S. 8 f.
[12] 2017 c. 9.
[13] Hummer, W. Erster Durchbruch in den „Brexit“-Verhandlungen, EU-Infothek, vom 25. Jänner 2018, S. 1 ff.
[14] ABl. 2020, L 29, S. 7 ff.
[15] Beschluss (EU) 2020/135 des Rates (ABl. 2020, L 29, S. 1); vgl. Schusterschitz, G. The two Brexit Agreements of 2019 and 2020: Negotiation and Post-Negotiation Dynamics and Challenges, in: Jaeger/Lehmann/Somek/Waibel (Hrsg.), Consolidating Brexit (2023), S. 6 ff.
[16] Kafsack, H. – Plickert, P. Streit um Brexit-Austrittsrechnung, faz.net, vom 9. Juli 2021, S. 1; vgl. Becker, P. Der Brexit und die Folgen für den Europäischen Haushalt, SWP, vom 24. April 2017, S. 3 Fn. 1.
[17] ABl. 2020, C 34, S. 1 ff.
[18] Vgl. Hummer, W. Bewirkt der „Brexit“ auch den automatischen Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus EURATOM? Gegenseitige Bedingtheiten zwischen EU und EURATOM, ÖGfE Policy Brief 29/2016, S. 1 ff.
[19] ABl. 2021, L 150, S. 1 ff.
[20] Qanda/20/2532, vom 24. Dezember 2020.
[21] ABl. 2020, L 444, S. 14 ff.; neue Fassung im ABl. 2021, L 149, S. 10 ff.
[22] Parallel dazu wurde auch ein „Abkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland betreffend Sicherheitsverfahren für den Austausch und den Schutz von Verschlusssachen“ abgeschlossen (ABl. 2021, L 149, S. 2540 ff.).
[23] Vgl. Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/20/2531, vom 24. Dezember 2020; vgl. Köhler, U. Overview of the Agreements: What’s in, what’s out, what’s left, in: Jaeger/Lehmann/Somek/Waibel (Hrsg.), Consolidating Brexit (2023), S. 35 ff.
[24] Europäische Kommission, Dezember 2020; vgl. auch European Commission, EU-UK Relations: A new relationship, with big chances, December 2020.
[25] Vgl. Mion, G. – Ponattu, D. Estimating the impact of Brexit on European countries and regions, Policy Paper der BertelsmannStiftung vom März 2019, S. 3.
[26] Vgl. Chalmers, D. – Menon, A. Getting Out Quick and Playing the Long Game, Open Europe, Briefing 07/2016, S. 12; Hummer, W. Der “Brexit” und seine Auswirkungen auf die zukünftige Ausgestaltung der Beziehungen der EU zum Vereinigten Königreich, EuZ 6/2016, S. 168 ff.
[27] Köhler, I. Drei Jahre nach dem Brexit. „Großbritannien pfeift aus dem letzten Loch“, tagesschau.de, vom 23. Juni 2023, S. 3.
[28] Vgl. Springford, J. Die Kosten des Brexit: Dezember 2021, Zentrum für europäische Reform (CER), vom 10. März 2022, S. 1.
[29] European Parliament, Report on the implementation of the EU-UK Trade and Cooperation Agreement (2022/2188 (INI)) (A9-0331/2023), vom 3. November 2023, S. 22, 50.
[30] Vgl. Triebe, B. Der Brexit kostet den Finanzplatz London die Krone – aber nicht die Zukunft, nzz.ch vom 16. Oktober 2021, S. 3.
[31] Schöchli, H. Was der Brexit bisher bewirkt hat – die Bilanz des EU-Parlaments enthält auch Botschaften für die Schweiz, nzz.ch vom 24. 11. 2023, S. 6.
[32] Vgl. Köhler, I. Der Brexit hat einen hohen Preis, tagesschau.de, vom 31. 12. 2021, S. 8.
[33] Zitiert nach Köhler, Drei Jahre nach dem Brexit. „Großbritannien pfeift aus dem letzten Loch“ (Fn. 27), S. 2.
[34] Neudecker, Cameron wieder in der Regierung (Fn. 10).
[35] Vgl. Manning, J. Großbritannien – Kabinettsumbildung: Braverman entlassen – Cameron wird Außenminister, deutschlandfunk.de, vom 13. 11. 2023.
[36] Vgl. Nuspliger, N. Zurück in die Zukunft – warum David Cameron ein politisches Comeback sucht und warum ihn Rishi Sunak zurückholt, nzz.ch, vom 14. 11. 2023.
[37] Zitiert nach Steinbock, H. David Cameron kehrt als Außenminister zurück, Nachrichten.at, vom 13. November 2023, S. 2; vgl. Bale, T. The Conservative Party After Brexit (2022).
[38] Welfens, P. BREXIT aus Versehen, 2. Aufl. (2018).
[39] Stäuber, P. Mister Brexit zieht in das Dschungelcamp, Die Presse vom 15. November 2023, S. 5.
[40] Bauer, A.-M. Zuerst Cameron, dann Farage: Die Brexiteers kehren ins Rampenlicht zurück, Kurier, vom 15. November 2023, S. 8.
[41] Für die Rückkehr eines Premierministers in das Kabinett eines Nachfolgers gibt es nur das Vorbild des konservativen Kurzzeit-Regierungschefs Alec Douglas-Home (1963-1964), der in den 70er Jahren dem Premierminister Edward Heath als Außenminister diente; vgl. Rain, A. Britischer Ex-Premier Cameron feiert Comeback als Außenminister, derstandard.at, vom 13. 11. 2023.
[42] Neudecker, M. Cameron wieder in der Regierung (Fn. 10).
[43] Stäuber, P. Stimmung gekippt: So denken die Briten heute über den Brexit, Berliner Morgenpost vom 10. 8. 2023, S. 4.
[44] Vgl. dazu Meinungsumfragen zum Wiederbeitritt des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union (2020-heute), wikipedia.
[45] Vgl. Mehrheit der Briten wünscht sich zurück in die EU, handelsblatt.com.
[46] Fox, B. Umfrage: Mehrheit der Briten würde bei neuer Abstimmung wieder der EU beitreten, EURACTIV.com, vom 12. November 2023.
[47] Brexit-Experte: Rückkehr Großbritanniens in die EU in den nächsten 15 Jahren ausgeschlossen, rnd.de, vom 31. 1. 2023; Grobe, S. – Murray, S. Briten bereuen Brexit – doch EU-Wiedereintritt unwahrscheinlich, Euronews, vom 28. 9. 2023.