Das Ziel, das es nach der blutigen Revolution in der Ukraine zu erreichen gilt, ist klar – doch ob das Land den richtigen Weg dorthin einschlägt, wird sich erst in den nächsten Wochen und Monaten, vielleicht sogar Jahren weisen. Die Absetzung des autoritären Präsidenten Viktor Janukowitsch war jedenfalls nur der erste erfreuliche Schritt – jetzt kommt es darauf an, ob die nächste Führung tatsächlich in der Lage sein wird, den so gut wie bankrotten Staat aus den Fesseln Russlands zu befreien, von Grund auf zu reformieren und mit ausländischer Finanzhilfe in eine demokratisch geprägte Zukunft zu lenken.
[[image1]]Die dramatischen Ereignisse am Kiewer Maidan und anderen Landesteilen könnten, sollten, müssten ein Bazillus sein, der auf andere totalitär geführte Länder in dieser Region übergreift. Denn in mehreren ex-sowjetischen Satellitenstaaten sind autokratische, korrupte und menschenverachtende Diktatoren wie Janukowitsch an der Macht, die teilweise schon jahrzehntelang ihr Unwesen treiben: In Weissrussland etwa, dem nördlichen Nachbarn der Ukraine, regiert der erst 59-jährige Alexander Lukaschenko bereits seit 20 Jahren autoritär – er wird von westlichen Medien längst als „Europas letzter Diktator“ bezeichnet, weil er die Bevölkerung seines isolierten, total von Russland abhängigen Landes brutal unterdrückt. Eben so lange amtiert der 62-jährige Emomalii Rahmon als Präsident von Tadschikistan, wiewohl er auf internationaler Ebene häufig wegen Verletzungen von Menschenrechten und der Pressefreiheit angeprangert wurde. Bereits seit 1990 behauptet sich in Kasachstan der 73-jährige Nursultan Nasarbajew im Amt, der sich „Führer der Nation“ bezeichnet und samt seiner Familie lebenslange Immunität vor Strafverfolgung genießen darf. Auch der zentralasiatische Binnenstaat Usbekistan ist seit seiner „Unabhängigkeit“ im Jahr 1991 auf Gedeih und Verderb einem maßlosen Despoten ausgeliefert: Der 76-jährige, stets Moskau-hörige Staatspräsident Islam Karimov bekämpfte Regimegegner wie islamisch orientierte Freiheitskämpfer, denen er gerne ein Nahverhältnis zu Al-Quaida bescheingte, schon mehrmals mit Foltermethoden, die laut UNO in Usbekistan „institutionalisiert, systematisch und weit verbreitet“ sein sollen.
Die teils europäischen, teils zentralasiatischen Staaten, die unter der Fuchtel derartiger Diktatoren stehen, sind in dem von der Zeitschrift „The Economist“ regelmäßig publizierten „Demokratieindex“ unter 167 Ländern nicht zufällig auf hinteren Rängen gelistet – noch miserabler werden nur noch Saudi Arabien, Syrien, Tschad und Schlusslicht Nordkorea eingeschätzt. Und es kommt auch nicht von ungefähr, dass diese Staaten auch im „Korruptions-Index“ der weltweiten Organisation Transparency International katastrophal schlecht abschneiden: Unter 175 erfassten Ländern rangieren sie allesamt im letzten Drittel. Weissrussland beispielsweise liegt, wie Togo, auf Platz 123, Tadschikistan gleichauf mit Burundi auf Rang 154, und Turkmenistan sowie Usbekistan finden sich ex aequo an der 168. Stelle und damit auf dem Niveau von Irak und Syrien.
Clans missbrauchen Macht
Ganz und gar nicht überrascht schließlich, dass es in den meisten der genannten Staaten – mit Ausnahme von Kasachstan – auch um das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf schlecht bestellt ist: Laut Schätzungen des Internationalen Währungsfonds liegt etwa die Ukraine mit einem Wert von 3.862 US-Dollar (2013) – ähnlich wie Albanien, die Mongolei und die Republik Kongo – noch im statistischen Mittelfeld auf Platz 112, doch Usbekistan und insbesonders Tadschikistan zählen zu den weltweit abgeschlagenen Armenhäusern, wie Ghana, Laos, Tschad, Myanmar und der Südsudan. Folglich gab es aus sozialen Motiven bereits Demonstrationen gegen das Regime, etwa im Mai 2005 in der usbekischen Stadt Andijon, doch das Militär feuerte sogleich auf die Aufständischen und tötete rund 500 Menschen. Präsident Islam Karimov hat damals übrigens vehement bestritten, den Schießbefehl erteilt zu haben.
Dass Karimov und sein Clan das Land schamlos auszubeuten pflegen, um permanent ihren Reichtum zu vermehren, ist den Behörden allerdings nicht entgangen. Präsidententochter Gulnara Karimova, zugleich Businesslady, Modedesignerin, Popstar und Ex-Diplomatin, ist seit Jahren mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert, weil eines ihrer Unternehmen von der schwedischen TeliaSonera angeblich 230 Millionen Dollar Schmiergeld erhalten habe. Die 41jährige Jetsetterin muss sich nunmehr trotz ihrer politischen Ambitionen, dem Vater nachzufolgen, mit behördlichen Ermittlungen herumschlagen. Kürzlich wurden drei ihrer Geschäftspartner in Haft genommen. Präsident Karimov gilt deshalb als Auslaufmodell und dürfte nach den nächsten Wahlen den Hut nehmen.
Wie selbstherrlich und maßlos Potentaten wie er agieren, lässt sich auch in Aserbaidschan beobachten: In dem am Kaspischen Meer gelegenen Land, das dank seines Erdölreichtums einen beachtlichen Wirtschafts-aufschwung feiern konnte, herrscht seit langem eine einzige Familie: Nachdem sich Geidar Alijev zwanzig Jahre an der Macht bereichert und das Land wie eine Quasi-Monarchie geführt hatte, übernahm 2003 Sohn Ilham Aliyev das Präsidentenamt. Der heute 52jährige plünderte das Land ebenso systematisch aus, riss mitsamt geldgierigen Vertrauten Banken, Telekomgesellschaften und Bauunternehmen an sich und erfreut sich mittlerweile eines imposanten Firmenimperiums, das teilweise auf den Britischen Jungferninseln domiziliert ist. Überdies wurde bekannt, dass sein damals 11jähriger Sohn Inhaber von neun Strandvillen in Dubai sei, die insgesamt 44 Millionen Dollar wert sind. Im Herbst 2012 wurde Aliyev, dessen Landsleute großteils in Armut leben, von der Organisation OCCRP (Organized Crime and Corruption Reporting Project) zum „korruptesten Mann des Jahres“ gekürt wurde.
Protzbauten statt Renten
An einen gerade absurden Größenwahn des Machthabers, verbunden mit totalem Realitätsverlust, ist die Bevölkerung der Präsidialrepublik Turkmenistan ebenfalls gewöhnt: Bis 2006 hatte dort der einstige Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Saparmurat Nijasow, mit Hilfe des Militärs und eines gnadenlosen Geheimdienstes als Staats- und Regierungschef seines Amtes gewaltet. Als „Führer der Turkmenen“, der in den nationalen Medien gerne als „Turkmenbaschi der Große“ tituliert wurde, ließ er sich vor der Jahrtausendwende vom Parlament zum Präsidenten auf Lebenszeit ausrufen, aalte sich genüsslich im selbstinszenierten Personenkult, ließ sukzessive sämtliche Oppositions-parteien verbieten und vertrieb alle gegnerischen Politiker ins Ausland. Nijasow, ein klarer Fall für einen Psychiater, verblüffte das Volk immer wieder mit grotesken Entscheidungen: Er benannte die Wochentage nach Namen aus seiner Familie, verbot Videospiele und Autoradios, sperrte reihenweise Bibliotheken zu, weil er seine Untertanen durchwegs für Analphabeten hielt, ersetzte tausende entlassene Spitalsangestellte durch Wehrpflichtige und untersagte allen männlichen Bürgern, sich einen Bart wachsen zu lassen – offenbar weil ihm das selbst nicht gelang. Weiters ließ er in der Hauptstadt Aschgabat etliche luxuriöse Repräsentations-bauten und großzügige Plätze errichten, wo er überall als Statue zu bewundern war, kürzte aber zugleich die Sozialausgaben des Staates und sparte unter anderem bei Renten und Zuschüssen für Behinderte.
Nachdem Nijasow im Dezember 2006 an Herzversagen starb, war die Stunde für Gesundheitsminister Gurbanguly Berdimuhamedov gekommen. Der ehemalige Zahnarzt ähnelt dem verstorbenen Präsidenten in vielerlei Hinsicht, sodass sich rasch das Gerücht verbreitete, er sei dessen unehelicher Sohn. Wie auch immer: Der Mann mit dem unaussprechlichen Namen trat bei den Wahlen 2007 gegen fünf Kandidaten an, die allerdings allesamt seiner Regierungspartei angehörten. Er erwarb sich zwar in der Folge im Ausland zeitweise den Ruf eines „großen Reformers“, doch erbrachte er hinlänglich den Nachweis, kein lupenreiner Demokrat, sondern eine beinharte One-Man-Show zu sein. Im Westen wird ihm das jedoch nicht angekreidet, denn wer will es sich schon mit dem Häuptling eines Landes mit derart gigantischen Gasreserven wirklich verscherzen?
Während der 56jährige Berdimuhamedov, der so aussieht wie alle Bonzen in der vergangenen Sowjetunion, seine Landsleute mit diversen Vergünstigungen halbwegs bei Laune hält – Gas, Wasser, Strom und Salz sind kostenlos – , pflegt er selbst einen luxuriösen Lebensstil: Zum 50. Geburtstag etwa ließ er sich von einer russischen Firma eine Yacht im Wert von 60 Millionen Euro schenken. Obendrein ließ er sich den eigens für ihn geschaffenen „Orden des Mutterlandes“ verleihen – eine gewisse Schrulligkeit ist auch ihm folglich nicht abzusprechen: Der turkmenische Alleinentscheider, der bei den Wahlen 2012 „offiziell“ 97 Prozent der Stimmen erhielt, darf davon ausgehen, bis zu seinem Ableben regieren zu dürfen – sofern, ja sofern nicht etwas Unvorgesehenes dazwischen kommt.
Hoffnung aus Kirgistan
In der Ukraine wird soeben vorexerziert, was alles passieren und wie rasch ein Volk, das vom totalitären System endgültig genug hat, gegen das Regime siegreich bleiben kann. Den mehr oder minder autoritären, allesamt aber untragbaren Machthabern in den genannten osteuropäischen bzw. zentralasiatischen Staaten können in absehbarer Zeit ähnliche dramatische Aufstände bevorstehen, hoffentlich ohne blutige Konsequenzen. Dass die Hoffnung lebt, der permanenten Unterdrückung zu entkommen und mit der unrühmlichen Vergangenheit und Gegenwart abzuschließen, indem wirre Potentaten einfach in die Wüste geschickt werden, das belegen zwei Fallbeispiele:
Zum einen hat es Kirgistan, der fünfeinhalb Millionen Einwohner zählende Binnenstaat an der chinesischen Grenze, geschafft, zumindest in Etappen: Im Zuge der so genannten Tulpenrevolution des Jahres 2005 – also kurz nach der Orangen Revolution in der Ukraine – musste zunächst der autoritäre Staatspräsident Askar Akajew das Amt abgeben und nach Moskau fliehen. Seinem Nachfolger Kurmanbek Bakijew erging es um nichts besser: Im April 2010 setzte ihn die Opposition nach landesweiten Unruhen ab, sodass er sich ins benachbarte Kasachstan und alsbald nach Minsk zurückziehen musste. Er nahm die weissrussische Staatsbürger-schaft an und wurde im Februar 2013 daheim vom Kriegsgericht in Abwesenheit zu 24 Jahren Haft verurteilt, sein Vermögen ist konfisziert worden. Im Juni 2010 stimmte die Bevölkerung – wiederum nach blutigen Unruhen – über eine neue Verfassung ab, seither ist Kirgistan eine parlamentarische Republik. Der heutige Staatspräsident Almasbek Atambajew, ein pro-russisch orientierter Sozialdemokrat, und der seit September 2012 amtierende Premierminister Dschantörö Satybaldijew scheinen die demokratischen Umwälzungen Ernst zu nehmen und sind zumindest bislang weitgehend verhaltensunauffällig.
Beispiel zwei: In Georgien, das 2008 nach einem militärischen Konflikt mit Russland aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten austrat, konnte ein jahrelanges politisches Tohuwanohu ebenfalls erfolgversorechend bewältigt werden. Ein kurzer Blick zurück: Swiad Gamsachurdia, der erste Präsident des in die Unabhängigkeit entlassenen Landes, war 1993 bei einem Militärputsch ums Leben gekommen. Sein Nachfolger Eduard Schewardnadse wurde im Zuge der so genannten Rosenrevolution 2003 von der Macht verjagt. Mikheil Saakaschwili hielt sich sodann trotz vieler Turbulenzen – 2007 wurde der Ausnahmezustand verhängt – immerhin neun Jahre im Amt und verbrauchte insgesamt sechs (!) Premierminister. Diese sind teils unter mysteriösen Umständen verstorben, teils unter ebensolchen Bedingungen wieder verschwunden – der vorletzte hieß übrigens Vano Merabischwili und wurde unlängst zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er so manche Linke gedreht hat.
Die neue Polit-Generation
Im Oktober 2012 schaffte es das Kaukasus-Land indes, erstmals freie Wahlen durchzuführen, die erstmals einen friedlichen Machtwechsel möglich machten: Mit der Regierungsbildung wurde der Milliardär Bidsina Iwanischwili von der von ihm gegründeten Partei „Georgischer Traum“ betraut, der jedoch ein Jahr später als Premier zugunsten seines Innenministers Irakli Gharibaschwili zurücktrat. Zeitgleich räumte auch der smarte Präsident Saakaschwili das Feld, nachdem Bidsinas Partei die Mehrheit erringen konnte. Saakaschwili hatte das Land unbedingt in die Europäische Union führen wollen, war allerdings jahrelang schwerer Kritik ausgesetzt – wegen vermeintlicher Sünden aus der Vergangenheit: So etwa soll der Befürworter einer westlich geprägten Demokratie in – nie restlos geklärte – Bestechungsaffären verwickelt gewesen sein, er habe, hieß es weiter, einen unliebsamen Abgeordneten der Opposition verprügeln lassen und sogar den Auftrag zur Liquidation eines georgisch-russischen Geschäftsmannes gegeben – ein Vorwurf, der allerdings auf Geheiß der Staatsanwaltschaft widerrufen wurde.
Jetzt wird es primär am aktuellen Wili, dem neuen Staatspräsidenten Giorgi Margwelaschwili, liegen, den Beweis zu führen, dass Demokratie in Georgien mehr ist als nur ein Wort. Der frühere Professor und Bildungsminister ist parteilos, kann sich dennoch auf eine absolute Stimmenmehrheit stützen und zählt mit 44 Jahren ebenso zur jüngeren Politiker-Generation wie der erst 31jährige Premier Gharibaschwili. Georgiens politischer Newcomer möchte einerseits die seit dem verlorenen Fünf-Tage-Krieg eingefrorenen Beziehungen zu Russland wieder verbessern, was völlig vernünftig ist, und anderseits die EU- und NATO-Ambitionen seines Landes nicht aufgeben, was ebenfalls alternativlos bleibt. Er scheint vom Typus her – falls der Eindruck nach rund drei Monaten Amtszeit stimmt – exakt jener Polit-Akteur zu sein, den Georgien und die übrigen post-sowjetischen Länder jetzt dringend benötigen: nicht von der Vergangenheit geprägt, nicht von uralten, gängigen Unsitten verdorben, nicht von purem Machtdenken und schnöder Geldgier geleitet, weder abgehoben noch menschenverachtend – sondern vielmehr gut ausgebildet, mit sozialem Gewissen ausgestattet, demokratischen Grundprinzipien verpflichtet, weltoffen, gerechtigkeits-liebend und letztlich gewillt, Millionen Bürgern, denen jahrzehntelang das Leben vermasselt wurde, zu einer besseren Zukunft zu verhelfen.
Ein klares Indiz, dass einges besser werden kann, ist die Tatsache, dass die Justiz in Georgien nach dem Machtwechsel unabhängiger, freier geworden ist: So wie dort nunmehr die zahlreichen Machinationen aus der Ära Saakaschwili vor Gericht aufgearbeitet werden, könnte es irgendwann, hoffentlich bald auch anderen Diktatoren in dieser Region ergehen: Sie gehören nämlich längst nicht mehr ins politische Rampenlicht, sondern – so wie Janukowitsch – hinter Gitter. Der blutige Volksaufstand in der Ukraine könnte ein Signal gewesen sein, dass sich die unterdrückten Menschen in anderen Ländern nicht länger ihrem Schicksal fügen, sondern um ihre Freiheit kämpfen.