Der neue Bundeskanzler wird in jüngster Zeit wohl einige Aha-Erlebnisse gehabt haben. Christian Kern dürfte etwa rasch erkannt haben, dass es einen riesigen Unterschied ausmacht, ob man Generaldirektor der Österreichischen Bundesbahnen oder aber Regierungschef der Republik Österreich ist.
Er wird vermutlich bereits begriffen haben, dass es ungleich einfacher ist, wie früher praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit seinen Job zu erledigen, als ständig in der medialen Auslage zu stehen. Er wird höchstwahrscheinlich schon zur Einsicht gelangt sein, dass 40.000 ÖBB-Bedienstete – auch wenn es sich dabei nicht unbedingt um die unkomplizierteste Spezies von Werktätigen handelt – viel einfacher zu führen sind als eine notorisch zerstrittene Koalition samt einer gespaltenen roten Partei. Und als ein Mann mit rascher Auffassungsgabe wird ihm mittlerweile auch klar sein, dass er als Spitzenmanager der Bahn ohne nennenswerte Widerstände schalten und walten konnte, als Kanzler jedoch von der ÖVP so gut wie täglich sekkiert wird und als Draufgabe noch eine ziemlich unkooperative Opposition im Genick sitzen hat.
Der erste Monat seiner Amtszeit war in der Tat alles andere als unkompliziert: Kanzler Kern, dem gewiss eine gewisse Einarbeitungsphase am Ballhausplatz einzuräumen wäre, tauchte zunächst einmal ziemlich ab. Mit Ausnahme hübscher offiziöser Fotos, die in den sozialen Medien zu bewundern sind, war von ihm wenig zu bemerken. Die obligaten Antrittsinterviews mit den Tageszeitungen boten erwartungsgemäß keine nennenswerten Sensationen, ja nicht einmal wirklich neuartige Aus- und Ansagen. Seine Eloquenz inszeniert der Newcomer zwar an jedem Dienstag nach dem Ministerrat in neuem Ambiente, stets mit einem unveränderten Reinhold Mitterlehner an seiner Seite, doch dabei standen inhaltliche Stärken bislang nicht im Vordergrund. Nur einmal – mit dem Vorschlag, zwecks neuartiger Finanzierung des Sozialstaats eine Maschinensteuer anzudenken, konnte Kern auffallen, leider überwiegend unangenehm.
Seine erste Auslandsreise führte den Ex-Eisenbahner zur Eröffnung des Gotthard-Eisenbahntunnels in die Schweiz, wo er die Gelegenheit fand, sich gemeinsam mit Angela Merkel, Francois Hollande und Matteo Renzi ablichten zu lassen – viel mehr war wegen zeitlicher Engpässe nicht möglich. Beim Jubiläumsmeeting der Oesterreichischen Nationalbank im Wiener Rathaus war der Neo-Kanzler ebenfalls zugegen, wurde dort allerdings vom leicht verwirrten OeNB-Gouverneur Nowotny als „Christian Kurz“ vorgestellt. Schließlich hat er noch das rot-weiß-rote Fußballnationalteam auf routiniert-herzliche Weise verabschiedet und ihm viel Erfolg für Frankreich gewünscht – das war‘s auch im wesentlichen schon an öffentlichen Auftritten. Ziemlich blöd ist für ihn die Wahl der neuen Rechnungshof-Präsidentin gelaufen, weil er dabei gegenüber der ÖVP klein beigeben und für deren in der Steiermark entdeckte Favoritin Margit Kraker votieren musste.
Wo ist ein „Signal gegen Stillstand“?
Die bislang sieben Presseaussendungen aus dem Kanzleramt entpuppten sich überdies auch nicht gerade als das Gelbe vom Ei, was die in den Überschriften enthaltenen Zitate eindrucksvoll belegen: „Der Hoffnungslosigkeit eine Politik des Zukunftsglaubens gegenüberstellen“, hieß es da am Tag der Kanzler-Premiere, worauf programmatische Kern-Sätze folgten wie „Wir werden die künftigen Auseinandersetzungen über konkrete Politik führen“, „Wir müssen gemeinsames Signal gegen den Stillstand setzen“ und „Wir können nur vorankommen, wenn wir gemeinsam Probleme lösen“. Auf der Homepage seiner neuen Wirkungsstätte lässt Kern auch gleich die relativ wenigen Zeitungsinterviews bewundern, die ihm „Kronen Zeitung“ und „Österreich“ angedeihen ließen. Eine der Headline lautet „Regierung ist ein Marathon, kein Sprint“ – wie wahr, obzwar nicht wirklich neu…
So hart es auch sein mag, dass ihm nicht die obligaten 100 Tage Schonfrist gewährt werden, so brutal ist klar geworden, dass Christian Kern die in ihn gesetzten Erwartungen nicht im Blitztempo zu erfüllen im Stande ist. Man sollte freilich nicht von einem veritablen Fehlstart sprechen, weil das alles erstens noch reparabel ist und zweitens gar so abgedroschen klingt – ein Frühstart war es allemal: Der anfangs mit riesigen Vorschusslorbeeren ausgestattete Kanzler wurde trotz seines anfänglichen Elans von der politischen Realität eingebremst, ja beinahe zurückgepfiffen. Das wird ihn selbst wohl genauso enttäuschen wie viele seiner Sympathisanten: In den Meinungsumfragen, die man naturgemäß nicht tierisch Ernst nehmen sollte, baute er laut Gallup von Woche zu Woche ab. Laut neuesten Daten sind 49 Prozent mit ihm zufrieden und 31 Prozent unzufrieden. Das Schlimme daran ist allerdings, dass er deutlich hinter dem schwarzen Außenminister Sebastian Kurz rangiert, der bei den nächsten Wahlen neben HC Strache sein zweitgrößter Rivale sein dürfte. Die SPÖ liegt in der genannten Umfrage jedenfalls mit 25 Prozent auf Rang Zwei, deutlich hinter den Blauen – womit sich Kern zumindest in dieser Hinsicht etwas von der drittplatzierten ÖVP (21 Prozent) absetzen konnte.
Jetzt lautet die große Frage, wann der Zug endlich abfährt: Der neue Kanzler muss sich jedenfalls schleunigst einarbeiten und so bald wie möglich viel mehr bieten als sein charmantes Lächeln und wohlformulierte No-na-Statements. Die Bürgerinnen und Bürger sind etwa schon neugierig, wie sein angekündigter „New Deal“ genau aussieht und wann die ersten Reformmaßnahmen starten. Erst wenn Bewegung reinkommt in die Regierung, wird man eine erste Bilanz über die Arbeit von Christian Kern ziehen können…