2015 war ein schreckliches Jahr – unerfreulich wie schon lange nicht mehr. Die Flüchtlingswelle, Terroranschläge in allen Teilen der Welt, Bürgerkrieg in Syrien und im Irak, Bootskatastrophen im Mittelmeer, Schuldendebakel in Griechenland, abgestürzte Passagierflugzeuge – das waren die markantesten Ereignisse, die uns alle noch lange beschäftigen und beunruhigen werden.
Obendrein die wachsende politische Instabilität in vielen Staaten, verbunden mit einem klaren Ruck nach Rechts, neue Krisenherde wie etwa die Türkei, autoritäre Staatsmänner wie Putin, Erdogan oder Orban am Vormarsch, null Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, ebenso ratlose wie untätige Weltorganisationen – alles in allem ein Horrormix der dramatischen Sorte.
Für die Europäische Union war‘s ein besonders schlimmes Jahr: Hatte sie zunächst wenigstens noch die Griechenland-Krise im letzten Moment und mit Ach und Krach bis auf Weiteres in den Griff gekriegt und den Grexit verhindert, so verschwand sie in der zweiten Jahreshälfte praktisch völlig von der Bildfläche. Auch wenn sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mehrmals mit Vorschlägen für eine möglichst gerechte Aufteilung von hunderttausenden Flüchtlinge zu Wort meldete, versagt die Union diesbezüglich bis heute kläglich. Der Bruch zwischen Westeuropa und Mittelosteuropa, der sich zur bereits traditionellen Spaltungslinie zwischen Nord und Süd, etwa in der Fiskalpolitik, gesellte, hat die Handlungsfähigkeit Brüssels nicht bloß in Frage gestellt, sondern sogleich beantwortet: Mit derartigen Gegensätzen innerhalb der Union ist deren Exitus – wenn das so weiter geht – beileibe nicht mehr auszuschließen.
Mit einer einzigen Ausnahme – Deutschlands Ikone Angela Merkel – haben Europas rat- und tatenlos wirkende Spitzenpolitiker im abgelaufenen Jahr allesamt dramatisch an Reputation eingebüßt: Francois Hollande und David Cameron wirken bereits wie taumelnde Boxer, die gerade angezählt werden. Von Italiens Matteo Renzi, dem strahlenden Shooting-Star von gestern, ist schon lange nichts mehr zu hören. Kollegen wie Helle Thorning-Schmidt (Dänemark) oder Pedro Passos Coelho (Portugal) sind sogar gänzlich in der Versenkung verschwunden, weil sie ebenso abgewählt wurden wie die bisherigen Regierungschefs in Finnland, Kroatien und Polen. Witzigerweise hat es lediglich Alexis Tsipras, im Jänner 2015 strahlender Wahlsieger in Griechenland, trotz aller Turbulenzen geschafft, erneut zu siegen und sich an der Macht zu halten – Spaniens Mariano Rajoy hingegen muss nach der jüngsten Wahlschlappe noch vehement um sein Amt kämpfen. Der Kahlschlag unter den europäischen Regierungschefs dürfte sich 2016 jedenfalls bei Urnengängen in Irland, Zypern, Slowakei, Niederlande, Litauen und Rumänien fortsetzen.
Auf extrem unangenehme Weise haben sich zuletzt, vor allem im Hinblick auf die Flüchtlingsfrage, amtierende Politiker wie Ungarns Viktor Orban bemerkbar gemacht, der sein Land mit einem Stacheldrahtzaun vom südlichen Nachbarn Serbien abschottete. Mit entbehrlichen Äußerungen meldeten sich zum Thema Nummer Eins auch hochrangige Politiker aus Tschechien, der Slowakei und Polen zu Wort: Der tschechische Präsident Milos Zeman, sein Premierminister Bohuslav Sobotka, der sozialdemokratische Regierungschef der Slowakei, Robert Fico, oder der starke Mann der rechtspopulistischen Regierungspartei Polens, Jaroslaw Kaczynski, haben sich damit als personifizierte Spaltpilze entlarvt, die zusehends die Einigung Europas zu torpedieren versuchen. Besonders enttäuschend dabei ist, dass diese nationalistisch gesinnten Populisten durchwegs Staaten repräsentieren, die erstens im Krisenphasen selbst auf Nachbarschaftshilfe angewiesen waren und zweitens seit Jahren als eifrige Subventionsempfänger zu den größten Profiteuren der EU zählen.
Vier Kernthemen für 2016
Ohne Geschlossenheit und Solidarität – das steht fest – wird die Union die Flüchtlingsproblematik jedoch nicht stemmen können, ja daran kläglich scheitern. Der Brüsseler Führung unter Kommissions-präsident Juncker wurde im zu Ende gegangenen Jahr jedenfalls deutlicher als je zuvor klar gemacht, dass ihr lediglich eine Statistenrolle zukommt. Obwohl sie möglichst rasch Probleme zu lösen hätte, um existenzielle Bedrohungen abzuwenden. Sie kann das nicht für alle Ewigkeit an die deutsche Kanzlerin delegieren, weil auch deren Kreativität in Sachen Troubles-Shooting irgendwann erlahmen muss, was bereits live zu beobachten ist.
Die EU-Kommission sollte sich daher ab sofort nicht mehr überwiegend mit tausenden, an sich nebensächlichen Details befassen. Es ist beinahe rührend, dass sie beispielsweise, wie vor wenigen Tagen den Medien zu entnehmen war, die europäischen Flughafenbetreiber aufgerufen hat, Mineralwasser für Reisende nach den Sicherheits-kontrollen günstiger anzubieten als bislang – schließlich sollen Passagiere im Flieger ja möglichst viel davon trinken. Es wäre freilich wesentlich sinnvoller, sich im Jahr 2016 auf die wenigen wirklich brennenden Problembereiche zu konzentrieren – Polit-Konflikte, Flüchtlinge, Migration und Terrorismus -, hierfür rasch patente Lösungen auszuarbeiten und in weiterer Folge umzusetzen versuchen.
Für die Europäische Union wird 2016 jedenfalls das Jahr der großen Bewährungs-, ja der Zerreißprobe sein. Brüssel muss sich daher, abgesehen von den zahlreichen überfälligen To do‘s, die teilweise schon seit Jahren unerledigt sind, um die zentralen Themen kümmern – wobei übrigens die Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, besonders gefordert sein wird, nachdem sie sich 2015 nicht allzu sehr ausgezeichnet hat:
O Die EU sollte ihre Positionen etwa im Syrien-Bürgerkrieg, aber auch im bislang immer noch nicht restlos gelösten Ukraine-Konflikt sowie für die Beziehungen zur Türkei, endlich präzisieren. Es geht nicht an, dass sie Mitgliedsstaaten wie Frankreich oder Großbritannien mit Kampfjets vorpreschen lässt, aber selbst so gut wie keine eigenen Schritte Richtung Friedensverhandlungen setzt. Es ist zwar enorm schwierig, 28 Länder auf eine einzige Meinung einzuschwören, aber eine Strategie der leeren Floskeln kann‘s auf Dauer auch nicht sein.
O Die Union müsste jene Staaten, die sich als widerspenstig erweisen, dazu zwingen, endlich das vereinbarte Kontingent an Flüchtlingen aufnehmen – wenn‘s nicht anders geht, mit Hilfe von finanziellen Sanktionen. Obendrein ist es inakzeptabel, dass die EU nicht im Stande ist, ihre Außengrenze wirksam zu sichern. Die deutsche Kanzlerin wird jedenfalls die Flüchtlingswelle, die 2016 mit Sicherheit ihre Fortsetzung findet, gewiss nicht im Alleingang meistern können, die Unterstützung seitens engagierter Länder wie Österreich und Schweden ist ebenfalls enden wollend. Das absehbare Fiasko wird nur dann nicht stattfinden, wenn alle EU-Mitgliedsstaaten an einem Strang ziehen.
O Brüssel wäre weiters gut beraten, sein Verhältnis zu Russland und den USA zu überdenken. Wladimir Putin, den die inzwischen mehrfach verlängerte Wirtschaftssanktionen eben so brutal trafen wie die politische Isolation, hat nämlich trotz aller harten Strafen im Ukraine-Konflikt nicht klein beigegeben, sondern sich mit seiner militärischen Intervention zugunsten des syrischen Machthabers Bashar al-Assad wieder als Big Player ins Spiel gebracht. Es wäre daher an der Zeit, dass die EU ihre starre Abneigung gegenüber Russland evaluiert – eine Normalisierung der Beziehungen zum Kreml wäre schließlich auch im Interesse der europäischen Wirtschaft. Zugleich würde eine stärkere Distanz zu den Vereinigten Staaten, die Europa bevorzugt im Schlepptau sehen und bevormunden möchten, keinesfalls schaden;
O Die EU-Kommission hat schließlich schleunigst taugliche Maßnahmen gegen den Terrorismus einzuleiten, weil der Kampf gegen IS-Attentäter und andere Wahnsinnige nur auf internationaler Ebene effizient geführt werden kann. Es wäre eine dringliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass etwa die Geheimdienste aller EU-Länder optimal koordiniert kooperieren und sich nicht wie bisher vielfach in Einzelaktionen ergehen. Es geht nicht an, dass sich Brüssel zwar um unzählige Nebensächlichkeiten kümmert, aber nicht – oder jedenfalls zu wenig – um die Sicherheit der immer unzufriedeneren und verängstigten Bürgerinnen und Bürger.
Nur wenn Jean-Claude Juncker & Co. die Hausübungen gut erledigen und damit schon eine Art Wunder schaffen, wären diverse drohende Szenarien vom Tisch, darunter eine endgültige Spaltung in ein Kern- und ein Rest-Europa. Die Kommission bräuchte jedoch für eine überzeugende Performance im neuen Jahr zweifellos mehr Selbstbewusstsein, mehr Mut bei ihren Entscheidungen, mehr Entschlossenheit und mehr Fingerspitzengefühl in heiklen Situationen. Freilich wären noch weitere Voraussetzungen nötig, die Brüssel gar nicht selbst beeinflussen kann – Geschlossenheit, Solidarität sowie Kooperationsbereitschaft innerhalb der Mitgliedsstaaten und natürlich auch mehr Kompetenzen für die EU-Führung. Dass alle gemeinsam an einem Strang ziehen müssen, wenn ihr einstiges Lieblingsprojekt, der Traum von einem geeinten Europa, nicht den Bach runter gehen soll, müsste wohl selbst dem dümmsten der europäischen Politiker einleuchten. Wenn dem nicht so ist, dann gute Nacht, Europa…