Dienstag, 5. November 2024
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Die EU darf sich nicht als Papiertiger aufführen

Das EU-Parlament in Straßburg / Bild © Creative Commons Mcruetten/Pixabay (Ausschnitt)

Dass die EU derzeit gleich an mehreren Fronten mit krisenhaften Erscheinungen und Entwicklungen zu kämpfen hat, ist ein Faktum. Die zentrale Frage ist, wie kann es weitergehen, welche Lösungsmöglichkeiten bieten sich an?

Einige Antworten dazu liefert in einem Interview mit EU-Infothek Andreas Khol. Er war unter anderem von 1974 bis 1994 Exekutivsekretär der Europäischen Demokratischen Union und damit einer der Baumeister der Zusammenarbeit christlich-demokratischer und konservativer Parteien Europas. Von 2000 bis 2006 war er Präsident des Nationalrates und das in der Zeit, da eine ÖVP-FPÖ-Regierung das Land regierte und Zielscheibe (nicht nur) linker Kreise war.

Die EU-Wahlen in einem Jahr bekommen fast schon den Charakter von Schicksalswahlen. Ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, eine Europa-Mobilisierung zu starten? Welches Europa gilt es anzusteuern? Jenes von Macron mit mehr zentralen Kompetenzen oder jenes von Kurz mit einer Aufgabenteilung zwischen Brüssel und den einzelnen Staaten?

Jetzt ist nicht die Zeit für große Sprünge nach vorne im Sinne des Europäischen Bundesstaats. Ich selbst bin seit eh und je ein Anhänger einer solchen Europavision und erkenne in der heutigen EU einen unfertigen Bundesstaat, also „in statu nascendi“. Bis wir ihn erreichen können, wird aber noch ein Jahrhundert vergehen. Die europäische Entwicklung seit 1945 ist immer wieder in Phasen erfolgt: einmal war die Zeit reif für weitere Schritte der Integration, dann folgten Zeiten der Ermüdung und der nötigen Konsolidierung. Mit der Einführung des Euro und der großen Erweiterung der EU um die neuen mittel- und osteuropäischen Demokratien wurde ein gewaltiger Integrationsschub ausgelöst, der bis heute noch nicht wirklich verdaut ist.

Was müsste daher jetzt vordringlich getan werden?

Die nächsten Jahre müssen zur Konsolidierung der Erweiterung und der gemeinsamen Währung im Zeichen des Subsidiaritätsprinzips genützt werden. Auf der Grundlage der geltenden Verträge also Korrekturen anbringen: Aufgaben, die nur die Union erfüllen kann ausbauen, Fleißaufgaben unterlassen, die Staaten in ihren Aufgaben unterstützen und nicht konkurrenzieren oder gar verdrängen – Stichwort Sozialunion.

Wir erleben gerade, dass insbesondere Frankreich nach dem Ausscheiden der Briten auf eine Reform der EU drängt und dafür Deutschland gewinnen wird. Stichwort zum Beispiel Europäischer Finanzminister. So sehr viele andere sehr wohl um den Reformbedarf wissen, so gibt es doch Bedenken gegen viele der Reformideen.

Realisten müssen doch erkennen, dass Änderungen der EU-Verträge heute nicht die geringste Chance haben, erfolgreich durch die notwendigen 27 staatlichen Ratifikationsprozesse zu kommen. In vielen Ländern bedarf es dazu der Volksabstimmung – in vielen Ländern sind solche heute nicht zu gewinnen. Wir sind in den wenigen Jahrzehnten seit Gründung der heutigen Union schon so weit gekommen, dass wir Geduld haben können und müssen. Eine EU, der man heute zumutet, weit zu springen, gerät in die Gefahr sich als Papiertiger zu erweisen. Dies gilt im Übrigen auch für die bevorstehende Auseinandersetzung im Handelskrieg mit Donald Trump.

Durch Europa zieht sich schon seit längerer Zeit ein Trend zur Stärkung populistischer und nationalistischer Parteien. Vor allem linke Parteien, die dabei geschwächt wurden, kritisieren laut die Entwicklung. Andere Experten sehen darin einfach einen gesellschaftspolitischen Wandel? Retrospektiv gesehen, was waren eigentlich die Ursachen dafür? Hat man es verabsäumt, gegenzusteuern? Oder war man einfach ratlos? Hängt das auch mit der ideologischen Krise vieler Traditionsparteien zusammen?

Hier kommt Vieles zusammen: In fast allen Staaten Europas ist das gesamte Parteiensystem im Umbruch. Die bewährten, alt gewordenen Volksparteien der linken und rechten Mitte sind vom jahrzehntelangen Regieren ausgelaugt: Personell und vor allem auch ideologisch. Aus dem Zweiparteiensystem der Nachkriegszeit wurde zuerst ein Vierparteiensystem durch den Einzug der Grünen und durch Parteigründungen am rechten oder linken Rand. Inzwischen bröckelt auch dieses System, die alten und gleichbleibenden Parteien verlieren Unterstützung, immer neue Parteien entstehen als Absplitterungen von ihnen. Daher werden die Regierungsbildungen auch immer schwieriger.

Gehen wir ins Detail. Die so genannten Traditionsparteien haben sich in den letzten Jahrzehnten entideologisiert. Sie sind gewissermaßen Allerweltsparteien geworden und halten dem Konkurrenzdruck mit neuen Bewegungen nicht stand.

Sozialdemokratie und Christdemokratie sind unter gewaltigem Druck. In den Niederlanden, in Frankreich, in Italien sind sie fast verschwunden, oder bedeutungslos geworden. In anderen Ländern wie Spanien kommen sie schwer unter Druck. Entweder sie erneuern sich selbst personell und organisatorisch, überprüfen ihre Programme, geben sich neue zukunftsweisende Ziele, oder sie werden abgewählt. In allen Mitgliedsländern der Union und darüber hinaus hat ein Phänomen alle Entwicklungen verschärft, den Druck vergrößert, die Spannungen erhöht: die Migration nach Europa, in der es die EU zugelassen hat, dass das Asylrecht der Genfer Konvention und die weiter gehenden Regeln der EU zu einer ungesteuerten und vielfach unsteuerbaren oft illegalen Masseneinwanderung umgestaltet wurde. In allen betroffenen Staaten das Gleiche: Drei Viertel der Bevölkerung sehen die ungesteuerte Massenmigration als das wichtigste, alles überschattende Problem, das die Regierungen nicht lösen wollen und oft nicht können. Alle Wahlen der letzten Jahre, auch die verhängnisvolle Brexit Abstimmungen waren davon geprägt.

Machen es sich viele nicht zu leicht, Parteien, die derzeit Stimmen gewinnen, gleich als populistisch gewissermaßen abzuqualifizieren?

Die Politik, die den Ängsten und Wünschen der Bevölkerung Rechnung trägt, einfach als Populismus und Nationalismus zu bezeichnen ist zu simpel. Damit wird oft nur das eigene Versagen und die eigene Hilflosigkeit schön geredet. In der Demokratie entscheidet das Volk an den Wahlurnen. Nur wer seinen Beitrag leistet, dass die Menschen nicht um ihre Identität und Existenz fürchten müssen, und ihre Angst verlieren können, wird gewählt.

Wenn man so die Reaktionen der EU in den letzten Tagen in Zusammenhang mit der Regierungsbildung in Italien verfolgt und mit früheren Reaktionen gegenüber anderen Staaten vergleicht, ist die EU nicht lahm und müde geworden?

Die EU hat jahrelang zugesehen, wie große Länder, vor allem Frankreich, Spanien und Italien die Grundbedingungen des Maastrichter Vertrags nicht eingehalten haben, die für die Einführung des Euro verbindlich vereinbart waren. Die EU Kommission und der Europäische Rat haben den kleineren Ländern wie Österreich immer sofort auf die Finger geklopft, bei den großen vorbeigeschaut und eklatante Vertragsverletzungen einfach geduldet.

Wie soll die EU aber wirklich vorgehen?

Die EU muss erst eine neue Strategie entwickeln und darf nicht noch einmal den Fehler begehen, den in den Medien wiedergegebenen Absichten einer Regierung gleich den Prozess machen. Also erst einmal mit den neuen Leuten reden, in den Organen der EU mit ihnen diskutieren. Polen und Ungarn sind im Übrigen unterschiedliche Fälle. Viktor Orban hat letztlich Vorgaben der EU immer wieder, wenn auch manchmal zähneknirschend erfüllt. In Polen reagiert die Regierung völlig ablehnend und nimmt die EU nicht wirklich ernst. Eine vorsichtige, aber entschlossene Haltung der Union ist die einzig zur Verfügung stehende Strategie.

Blenden wir 17 Jahre zurück. Als im Jahre 2000 in Österreich die ÖVP eine Regierung mit der FPÖ einging, wurde sofort ein so genanntes Sanktionenregime EU über Österreich – wenn auch nur kurzfristig – verhängt. Was war aufgrund Deines heutigen Wissens damals der Grund, dass die EU so scharf gegen Österreich vorging?

Die EU selbst ging nicht gegen Österreich vor. Die so genannten Sanktionen waren eine konzertierte Aktion der anderen Mitgliedstaaten, wobei der Anstoß dazu aus Österreich kam. Bei einer Sitzung der Sozialistischen Internationale anlässlich der Holocaust – Konferenz der Sozialistischen Internationale von 24. bis 26. Jänner 2000 berichtete der damalige glücklose Bundeskanzler Viktor Klima am Abend von der bevorstehenden Koalition der ÖVP mit der FPÖ. Die dort vertretenen führenden Sozialisten und Sozialdemokraten beschlossen eine gemeinsame Aktion der Staats- und Regierungschefs außerhalb der Organe der EU als vorbeugende Maßnahme gegen weitere Machtübernahmen und Regierungsbeteiligungen rechtsextremer Parteien.

Was war aber für den konservativen französischen Präsidenten Jacques Chirac das Motiv, bei der SI-Kampagne eine tragende Rolle zu spielen?

Darüber kann nur spekuliert werden, aber der rechtsextreme Front National entwickelte sich in Frankreich zu einer großen politischen Kraft, der damit begegnet werden sollte. Chirac rief mich persönlich am 27. Jänner in aller Früh an und wirkte auf eine große Koalition hin, andernfalls würde es Maßnahmen gegen Österreich geben. Im Übrigen war die gaullistische Partei breit unterstützt durch die große, bedeutende und stets staatstragende israelitische Gemeinde in Frankreich und stets glaubwürdig im Kampf gegen den Antisemitismus

Im Gegensatz zum Jahre 2000 ging diesmal die Koalitionsbildung der ÖVP mit der FPÖ national wie international relativ ruhig über die Bühne. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen der FPÖ von damals und der FPÖ von heute?

Die FPÖ von heute hat sich ein neues Parteiprogramm gegeben, an die Stelle des schillernden Jörg Haider trat Hans Christian Strache. Dieser neue Parteiobmann ging in den letzten Jahren systematisch und regelmäßig gegen nationalsozialistisches Gedankengut und davon nicht freie Funktionäre vor. Diese Grundhaltung hat er verfestigt und durch Parteiausschlüsse und öffentliche Stellungnahmen immer wieder verdeutlicht. Seine Anstrengungen, die FPÖ von allfälligen Restbeständen dieses verwerflichen Gedankenguts zu befreien, sind glaubwürdig. Selbst der offenkundig FPÖ kritische Dichter Michael Köhlmeier hat dies unlängst öffentlich festgestellt, ebenso der beeindruckende Arik Brauer. Es gibt aber einen Teil von Gesellschaft und Politik in Österreich, die ganz dem „antifaschistischen Karneval“ (Rudolf Burger) verfallen sind, und dies nicht zur Kenntnis nehmen und glauben wollen. Dazu kommen jene, die aus taktischen Gründen die FPÖ als Feindbild brauchen.

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