Zu glauben, Großbritannien nach dem Exodus aus der EU auf sich alleine gestellt, werde nun an Einfluss und Bedeutung verlieren, könnte sich auch als Fehleinschätzung herausstellen.
Bis Ende des Jahres ändert sich am Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien noch wenig. Sieht man davon ab, dass die größte europäische Inselwelt weder in der Kommission noch im Parlament vertreten ist. In den nächsten Monaten muss der Brexit-Vertrag, der die künftigen Beziehungen im Detail erst regelt, ausgehandelt werden und bis dahin gilt weitestgehend EU-Recht. Theoretisch ist auch möglich, dass es ab 1. Jänner 2021 zu einem vertragslosen Zustand kommt, weil Brüssel und London keinen gemeinsamen Nenner in den Verhandlungen finden. In diesem Fall würde wohl Schottland mit Nachdruck ein Unabhängigkeitsreferendum verfolgen und durch die Wiedererrichtung einer harten Grenze zwischen Nordirland und Republik Irland ein neuer Problemherd in Europa entstehen.
Die EU ist durch den Brexit schwächer geworden.
Heißt es von manchen Seiten, seien wir doch froh, die Briten losgeworden zu sein, nachdem sie immer wieder auf Sonderregelungen und Ausnahmen beharrten, so gibt es sehr wohl auch ernsthafte Stimmen, die nicht nur eine große Herausforderung auf Brüssel zukommen sondern auch ein Gefahrenmoment sehen. Denn durch den Brexodus wurde die Union – wenngleich noch immer einer der drei größten Volkswirtschaften – nicht nur erheblich kleiner geworden, sondern mit Großbritannien verließ auch nicht irgendein Land die Gemeinschaft. Immerhin entspricht die Wirtschaftskraft des Vereinigten Königreichs der Summe der Wirtschaftsleistung der 20 kleinen EU-Länder. Die kommende Übergangszeit darf daher nicht glauben machen, es wird schon irgendwie gut gehen. Kurz- und mittelfristig werden sowohl die Briten als auch die Europäische Union die Nachteile der Trennung zu spüren bekommen. Das zeigen die schwierigen Verhandlungen der Kommission mit den verbliebenen 27 Mitgliedsstaaten ebenso wie die Abwanderungen vieler Institutionen sowie Finanzdienstleister von der britischen Insel aufs Festland.
Eine Sonderwirtschaftszone vor den Toren der EU
Langfristig könnte sich der Brexit allerdings, so meinen mehrere Wirtschaftswissenschaftler, auch für das Vereinigte Königreich auszahlen. Zwar ist das Pfund erheblich schwächer geworden, dadurch aber wurden Exporte gefördert und Importe verteuert. Was sich wiederum vorteilhaft auf die Handelsbilanz auswirkt, die von einem hohen Defizit gekennzeichnet und auf Dauer ohnedies nicht tragbar ist. Für die britische Regierung eröffnet sich nun die Möglichkeit, das bisherige Wirtschaftsmodell infrage zu stellen und auf eine Reindustrialisierung zu setzen. Tatsächlich hat London zu sehr auf Dienstleistungen, etwa auf dem Finanzsektor gesetzt und Industriebetriebe abwandern lassen. Nachdem man nun aber nicht mehr an die strengen Vorgaben der EU gebunden ist, wird es denkmöglich, dass London vor den Toren Europas eine Sonder-Wirtschaftszone und einen neuen attraktiven Finanzplatz schafft. Niedrigere Steuern sollen ausländische Investoren anziehen. Gut möglich also, dass der Brexit-Schock die Grundlage für einen mittelfristigen Aufschwung Großbritanniens bildet..
Die Spitzenbildung als Asset Großbritanniens
Und es gibt noch einen weiteren Aspekt, der nicht zu unterschätzen ist. Zwar hat die Zuwanderung der letzten Jahre auch zur Brexit-Stimmung beigetragen, aber es wird immer wieder übersehen, dass die Befürworter des Brexits keineswegs gegen jede Einwanderung sind. Im Gegenteil, man überlegt, ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild zu schaffen, womit das Land für qualifizierte Zuwanderer sehr wohl attraktiv bleiben würde. Dazu kommt, dass Länder, die sich die Migranten aussuchen können, weniger Zuwanderung in Sozialsysteme haben und daher deutlich mehr Erfolg bei der Integration erzielen. Was zur Folge hat, dass die Lasten der Umverteilung geringer werden, das Wirtschaftswachstum neue Impulse erfährt. Ein Asset bleibt zudem in jedem Fall für Großbritannien, dass es in Sachen Spitzenbildung viel zu bieten hat. Im aktuellen Ranking der 100 besten Universitäten der Welt ist es immerhin mit elf Unis vertreten. Die EU bringt es (ohne Großbritannien) auf 20. Eine neue Wirtschafts- und Finanzoffensive, eine gesteuerte Einwanderung, ein herausragendes Bildungssystem und die geringe Sprachbarriere könnten so sogar zu einem Wettbewerbsvorteil werden.
„Aufpassen“ heißt es für die EU bei den Verhandlungen
Daher heißt es jetzt erst recht für die EU bei den Verhandlungen: „Aufpassen“. Denn ansonsten läuft man Gefahr, noch seine Wunder zu erleben. Und Boris Johnson war schon bisher in der Politik für viele Überraschungen gut. Sollte es Großbritannien gelingen, einen erfolgreichen neuen Weg einzuschlagen, so könnten damit auch noch andere „sperrige“ EU-Mitgliedsstaaten auf den Geschmack kommen. Eine Warnung, die nicht in den Wind geschlagen werden darf. Und eine besondere Herausforderung für Ursula von der Leyen und ihr Kommissionsteam. Die nächsten elf Monate werden so zur Nagelprobe.