Donnerstag, 21. November 2024
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Die neue EU-Mode: Weniger statt mehr Europa

Bevorstehende Wahlen bewirken Erstaunliches: Plötzlich nehmen Politiker weit mehr Rücksicht auf die Haltung der Wähler als normalerweise. Dabei entdecken sie derzeit vor allem, dass viele Europäer, insbesondere Deutsche, der EU heute viel kritischer gegenüberstehen als noch vor ein paar Jahren. Daher beeilt sich viele Politiker, über Nacht den eigenen Standpunkt neu zu justieren. Das zeigt der deutsche Wahlkampf; aber auch jener fürs EU-Parlament wirft schon ähnliche Schatten voraus. In Österreich merkt man freilich noch kaum etwas davon; die Europakritik der Bürger wird von der Politik noch nicht aufgegriffen.

[[image1]]Spannend und signifikant, wenn auch wie immer ein wenig verschwurbelt ist etwa der Tonwechsel bei der deutschen Bundeskanzlerin. Während Angela Merkel früher eine klare Verfechterin des Ziels Vereinigter Staaten von Europa und der Alternativlosigkeit dieses Ziels war – soweit halt bei Merkel etwas wirklich „klar“ ist –, so findet sie jetzt ganz andere Töne.
Zwar verlangt sie weiterhin, dass die EU von den Mitgliedsstaaten die eindeutige Einhaltung präziser ökonomischer Vorgaben erzwingen kann. Das Verlangen bedeutet zweifellos noch mehr Macht für Europa. Jedoch ist es kaum vorstellbar, dass sich etwa Franzosen oder Spanier von der EU zu irgendetwas wirklich Substantiellem in der nationalen Politik zwingen lassen werden, ob das nun Defizit, Pensionsalter, Arbeitsmarktflexibilität oder sonst etwas betrifft.

Offenbar für diesen Fall hat Merkel nun plötzlich auch den Retourgang im verbalen Repertoire: Sie spricht nämlich erstmals davon, dass Kompetenzen von Europa wieder an die Mitgliedsstaaten zurückgehen können und sollen. Zwar tut sie so, als ob das gleichzeitig mit dem „Mehr Macht für Europa“ ginge. Aber kein Zweifel: Die eine Strategie führt in die absolute Gegenrichtung von der anderen.

Dahinter stecken gleich drei Motive:

• Erstens erkennt Merkel, dass ohne solchen Kompetenztransfer nach unten keinerlei Chance mehr besteht, die Briten in der EU halten zu können. Dazu ist das diesbezügliche Forderungspaket von Premier Cameron für die von ihm angekündigte EU-Volksabstimmung viel zu eindeutig. Merkel will aber die Briten unbedingt in Europa halten.

• Zweitens spürt sie mit ihrem politischen Instinkt eine ganz neue Gefahr aus einer bisher ignorierten Ecke, nämlich durch die Euro-skeptische „Alternative für Deutschland“. Diese könnte der schwarz-gelben Koalition zumindest so schaden, dass sich dann wider alle Umfragen doch eine Linksregierung ausgeht. Diese „Alternative“ kritisiert jedenfalls scharf die Hunderte Milliarden schweren Hilfen und Haftungen für die Krisenländer, die Deutschland wohl nie zurückbekommen wird.

• Drittens aber sollte man den Merkelschen Kurswechsel nicht automatisch nur als taktisch ansehen. Sie scheint in der Tat erkannt zu haben, dass sich die EU tatsächlich schon zu viele Kompetenzen arrogiert hat. Merkel dürfte also das bisher nur papierene Wort „Subsidiarität“ diesmal wirklich ernst meinen. Das macht uns Europas mächtigste Politikerin zumindest glauben.

Oettinger: Der „Sanierungsfall“

In der CDU gibt es andere Politiker, welche die Kritik an der Entwicklung der Union noch viel schärfer formulieren als Merkel. Dazu gehört vor allem der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger.

Er macht der EU – obwohl dort selbst hoher Funktionsträger! – unglaublich harte Vorwürfe: Die EU sei ein „Sanierungsfall“. Sie leide an „Gutmenschentum“. Mitgliedsländer wie Bulgarien, Rumänien und auch(!) Italien seien „im Grund kaum regierbar“. Und zu Frankreich fand Oettinger die kompromisslose Formulierung: Dieses sei „null vorbereitet auf das, was nötig ist“. So deutlich hat wohl noch nie ein EU-Exponent selber die Probleme der EU beim Namen genannt.

Nachdem solche deutlichen Worte bisher nur in der CSU und bei unabhängigen Kritikern wie Thilo Sarrazin oder Hans-Werner Sinn zu hören gewesen sind, zeigt das, dass sich auch das Schlachtschiff CDU zu wenden beginnt.

Martin Schulz, der plötzliche EU-Kritiker

Noch mehr überrascht, dass auch der sozialdemokratische Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, plötzlich zu ähnlichen Worten findet. Der scharfzüngige SPD-Mann stand bisher wie seine ganze Partei an der Spitze der europäischen Hilfs- und Interventionswilligen. Aber ganz offensichtlich unter dem Einfluss des eindeutig in der wirtschaftsorientierten Mitte stehenden Spitzenkandidaten Peer Steinbrück hat sich Schulz zu kritischen Positionen durchgerungen.

Und das heißt weit über Deutschland hinaus etwas: Denn Schulz gilt als der aussichtsreichste Kandidat der gesamteuropäischen Sozialisten für die Wahl eines EU-Kommissionspräsidenten. Offensichtlich kann sich auch ein Sozialdemokrat wie Schulz nur noch als Integrationskritiker, nicht mehr als Integrationsfanatiker Chancen für die nächstjährigen EU-Wahlen ausrechnen.

Schulz ist jedenfalls mit folgendem Satz über die EU – wenn auch bei einem innerdeutschen Vortrag – aufgefallen: „So wie sie heute organisiert ist und geführt wird, wird sie scheitern.“ Er verlangte ähnlich wie Merkel und der Briten-Premier Cameron, dass Aufgaben von der europäischen an die lokale, regionale und nationale Ebene zurückdelegiert werden. „Wir müssen das Subsidiaritätsprinzip ernster nehmen.“ Was lokal zu machen sei, müsse auch lokal gemacht werden. Viele Menschen wenden sich von der EU ab, weil sich Brüssel aus ihrer Sicht zu stark in ihr Alltagsleben einmische, wie Schulz beklagt.
Schulz und Oettinger zusammen: Das ist eine dramatische, nicht mehr zu überhörende Entwicklung in beiden großen deutschen Parteien. Der Positionswechsel ist gewiss auf die Wahlen hin orientiert, aber er zeigt jedenfalls auch: Es ist – wenn auch mit Verspätung – „oben“ angekommen, dass die Menschen „unten“ sehr EU-kritisch denken. Was freilich noch keineswegs ein Austrittsszenario bedeutet.

Österreich verzichtet auf jede EU-Debatte

Freilich kann man diesen Haltungswechsel nur in Deutschland beobachten. Nicht im zweiten deutschsprachigen Land. Die beiden österreichischen Spitzenleute im EU-Parlament, Swoboda und Karas, sind – noch immer – flammende Fahnenträger eines „Immer noch mehr Europa“. Aber da deutsche Entwicklungen irgendwann immer auch in Österreich ankommen, wird sich auch bei den beiden mit hoher Wahrscheinlichkeit demnächst etwas ändern.

Einzige minimale Entwicklung in Österreich: Die neuantretenden Neos, die vor einem Jahr noch alle anderen an Europabegeisterung übertreffen wollten, sind inzwischen ein wenig von dieser Haltung abgerückt. Ansonsten aber keine Änderung: Die ÖVP hat offensichtlich unter dem Druck industrieller Geldgeber eine bei ihr zeitweise aufblitzende EU-Skepsis wieder abgestreift. Die SPÖ und die Grünen fordern am lautesten: Noch mehr Europa, noch mehr Geld aus Europa (wo auch immer das herkommen soll) zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaats. Lediglich die FPÖ und Stronach sind auf Distanz zu Europa, aber beide ganz offensichtlich deshalb, weil das Meinungsumfragen so empfehlen, und nicht aus irgendeiner eingehenden Beschäftigung mit der EU heraus oder gar aus einer sachkundigen Expertise in Integrationsfragen. Es ist jedenfalls absolut erstaunlich, dass bisher im österreichischen Wahlkampf die EU so gut wie überhaupt nicht vorgekommen ist.

Klaus: Das Salz in der Europa-Suppe

Interessantes tut sich dafür in einem ganz anderen Land: Der soeben abgetretene tschechische Präsident Vaclav Klaus dürfte nun ebenfalls ins Rennen um die Rolle als EU-Kommissionspräsident gehen. Er hat zwar wenige Chancen zu gewinnen; dazu ist er zu tschechisch-national.

Auf Grund seiner hohen Intelligenz, seiner ökonomischen Brillanz, seiner ungebremsten Konfliktlust und vor allem seiner scharfen Zunge (sowie seine perfekten Deutsch- und Englisch-Kenntnisse) könnte Klaus aber mit Sicherheit den Wahlkampf thematisch dominieren. Er würde das zweifellos mit intensiver Kritik an allzu starker Integration und am Euro sowie an den hemmungslosen Hilfspaketen tun.

Klaus könnte solcherart gerade als Chancenloser die Diskussion der EU sehr vorantreiben. Er wird jedenfalls eines schaffen: Seine Gegner werden gegen ihn nicht mit den üblichen hohlen Politikerphrasen davonkommen können.

Wir können uns schon auf ein spannendes 1914 vorbereiten. Denn kampflos werden sich die Zehntausenden Eurokraten jedenfalls nicht mehr zurückdrängen lassen. Wer gibt denn schon freiwillig Macht aus der Hand …

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