Donnerstag, 21. November 2024
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Die Parteien rittern um 10 Milieus

Bild © CC ralph/Pixabay (Ausschnitt)

Die Wählerschaft ist unberechenbar geworden. Wahlverhalten ist nicht mehr an Herkunft, Bildung und Einkommen gebunden. Es heißt Abschied nehmen vom alten Links-Rechts-Denken.

Noch bis in die späten 1980er Jahre lag der Anteil des so genannten Wechselwählerpotentials bei etwa 15 Prozent. Bei den kommenden Nationalratswahlen in sechs Wochen rechnet man mit fast 40 Prozent Wählern, die keine Parteibindung haben und daher nach ihrem Bauchgefühl und augenblicklichem Empfinden die Stimme abgeben werden. Das macht es seriösen Meinungsforschern auch so schwer, eine wirklich präzise Datenlage abzugeben. Wissenschaftliche Expertisen, ausgearbeitet vom altbekannten Allensbach- bis hin zum Heidelberger Sinus-Institut, geben einen interessanten und vor allem aufschlussreichen Einblick in die Seelenlandschaft der Wähler.

Das Ende der alten Links-Rechts-Klassen

Die alte Klassifizierung wonach städtische Regionen mehrheitlich in Richtung SPÖ tendieren, im ländlichen Raum dafür überwiegend ÖVP-Wähler anzutreffen sind, stimmt längst nicht mehr. Das musste die Volkspartei bereits in der Ära Kreisky schmerzlich wahrnehmen. Die Umstrukturierung in der Landwirtschaft führte damals zu einer wachsenden Zahl von Nebenerwerbsbauern. Bei den Wahlen in die Bauernkammern gaben sie brav ihre Stimme für den ÖVP-Bauernbund ab. Bei Landtags- und Nationalratswahlen hatten sie schon mal ein Faible für Rot am Stimmzettel.

VP wurde vom Wandel zuerst betroffen

Den eigentlichen Wandel in der Bevölkerung bekam auch die ÖVP als erste Partei zu spüren, indem sie 1990, als Josef Riegler an der Spitze stand, von knapp über 40 auf knapp über 30 Prozent herunterrasselte. Und sich nur noch einmal kurzfristig, nämlich 2002 als Wolfgang Schüssel Bundeskanzler war, erholen durfte. Seither steht der 2er, jetzt unter Sebastian Kurz vielleicht wieder der 3er, am Beginn eines zweistelligen Ergebnisses. Beginnend mit der Ära von Jörg Haider wechselten so genannten ÖVP-Schichten zu den Freiheitlichen. Beziehungsweise im Einzugsbereich der Städte hatten sie auch Präferenzen für Grüne und vor allem liberale Parteiangebote.

Nur kurze Schadenfreude bei SP

Die Schadenfreude der SPÖ währte freilich nur kurz. Denn 1992 musste sie von Ergebnissen der 40-Prozent-und-mehr-Kategorie endgültig Abschied nehmen. Es waren vor allem Arbeiter und so genannte Wohlstandsverlierer, die in das Lager der Freiheitlichen wechselten und sich bei Haider und fast noch mehr bei Strache bestens aufgehoben fühlten. Es waren SP-Parteibuchbesitzer, die schließlich die FPÖ zur eigentlichen Arbeiterpartei machten. Markige nationalistische Sprüche gefielen ihnen besser als die alten Lehren von Karl Marx und Co.

Schwindsucht bei den Stammwählern

Eine ganze Reihe von Studien belegt mittlerweile den Wandel der Gesellschaft. Und an den Wahlergebnissen lässt sich ablesen, dass die unbeirrbaren Stammwähler immer weniger werden. Es sind vor allem einstige Stammwähler der SPÖ und der ÖVP, die sich vorstellen können, ihre Stimme auch einer anderen Partei, einem anderen Politiker zu geben. Das hängt auch damit zusammen, dass sich die politischen Gegensätze abgeschwächt haben. Nicht zuletzt, weil die SPÖ dem Austromarxismus abgeschworen hat, der vom Niedergang des realen Sozialismus (also dem Zerfall des kommunistischen Ostblocks) unmittelbar betroffen war. Und bei der ÖVP hat das „Hohe C“ heute weniger mit „christlich“ als vielmehr mit dem Fruchtsaftgetränk zu tun.

Unterschiedliche Schnittmengen

Anstelle des alten Links-Rechts-Schemas, in die Unterteilung nach sozialistisch und konservativ, werden von den Politikwissenschaftlern die Wähler bereits in fünf bis zehn Milieugruppen aufgeteilt. So spricht man von einem konservativ-etablierten, liberal-intellektuellen, sozial-ökologischen, traditionellen, adaptiv-pragmatischen, performerischen, expeditiven, hedonistischen, prekären Milieu und schließlich noch immer auch von einer bürgerlichen Mitte. Letztere ist jene Gruppe, die sich ziemlich präzise auf die Mittlere Mittelschicht einschränken lässt, für Modernisierung und Individualisierung steht. Das prekäre Milieu lässt sich auch noch eindeutig der unteren Mittelschicht, jene des liberal-intellektuellen Milieus auf die Ober- und die Obere Mittelschicht zuordnen. Alle anderen Gruppen haben mehrere Schnittmengen, sowohl was die soziale Lage als auch die Grundorientiert betrifft.

Wien hat Image der Industriestadt verloren

Umgelegt zum Beispiel auf die Großstadt Wien wird damit begründbar, warum die SPÖ hier nun von den lichten Höhen einer gut gepolsterten relativen Mehrheit Abschied nehmen musste. Ja sogar Gefahr läuft, das Primat auf das Bürgermeisteramt zu verlieren. Letztlich auch am Stadtbild selbst erkennbar, das sich weg von dem einer Industriemetropole entwickelt hat. Dementsprechend wurde für die SPÖ direkter Konkurrent im Wettlauf um Wählerstimmen in den letzten Jahren die FPÖ, nun aber auch – eine Folge der Performance von Sebastian Kurz – die ÖVP. Hier zeigt sich freilich auch, dass gerade Volkspartei und Freiheitliche vor allem im städtischen Raum und dessen Speckgürtel um mehrere gemeinsame Milieus rittern. Daher spricht man auch von einem partiellen kommunizierenden Gefäß.

60 zu 40 statt 52 zu 48

Bis zu den letzten Wahlen wurde das Potential von Mitte-Rechts gegenüber Mitte-Links auf 52 zu 48 Prozent eingeschätzt. Aufgrund der neuen Wählerempfindlichkeiten und Gesellschaftsstrukturen fischt die Volkspartei gemeinsam mit der FPÖ in einem Potential von beinahe 60 Prozent, während sich SPÖ und Grüne mit etwa 40 Prozent begnügen müssen. Wenn sich nicht noch im letzten Augenblick eine Verschiebung ergibt, sich die Gewichtung der zehn Milieus verschiebt. Das macht noch die Spannung bis zum 15. Oktober aus.

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