Sonntag, 24. November 2024
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Die Schwellenländer als Opfer der europäischen Notenpresse

Die Weltwirtschaft scheint wieder das alte Bild zu zeigen, das schon lange vergessen war: gute Nachrichten aus Europa und Amerika, heftige Turbulenzen in der Dritten Welt. Deren Währungen haben einen wilden Schlingerkurs begonnen, die Börsenkurse stürzen ab, während sie Europa ganz gut gehen. Wenn sich die Europäer und Amerikaner darüber aber wirklich freuen sollten, dann wären sie Opfer einer extremen Selbsttäuschung.

[[image1]]Faktum ist, dass auch die freundliche und überraschende Konjunkturentspannung der letzten Wochen den Europäern nur sehr bescheidene Wachstumsraten beschert. Diese sind zwar gewiss besser als die vielen Minus-Bilanzen der letzten Rezessionsjahre. Das europäische Wachstum macht aber weiterhin nur einen Bruchteil der Raten des Wachstums der Schwellenländer aus. Und Europa ist vor allem – bis auf Deutschland – weit weg von jenen Wachstumsraten, die für einen Stopp der Arbeitslosenzahlen nötig wären.

Ebenso ist Faktum, dass vor den deutschen Wahlen zwar alle negativen Nachrichten möglichst unter den Teppich gekehrt werden. Aber dennoch ist klar: Europa ist mehr als jede andere Weltregion von den Turbulenzen im Nahen Osten bedroht. Dabei geht es keineswegs nur um Syrien oder das Palästinenserproblem, sondern noch um einen viel größeren Bogen: Der reicht von Libyen (mit seinen seit Monaten der Konflikte wegen weitgehend ungenutzt bleibenden Energieschätzen) über Ägypten (mit seinem halben Bürgerkrieg), Iran (mit seinen Nuklearentwicklungen) bis Afghanistan (wo nach dem bevorstehenden Abzug der Westmächte ein weitgehender Triumph der Taliban droht).

Europa kann zwar auf einige Reformen verweisen, die durch die Krise mancherorts in Gang gesetzt worden sind. Aber kein Ökonom hält sie wirklich für ausreichend. Österreich übrigens hat seit Krisenausbruch laut EU-Kommission weitaus am wenigsten Reaktionen und Reformen gesetzt. Das spiegelt sich ja auch im laufenden Wahlkampf wider. Aber auch in den meisten anderen Staaten der EU gleichen die derzeit beruhigenden Signale mehr einem Pfeifen im Wald als einem Startschuss zu neuer europäischer Stärke.

Das Geld kehrt nach Europa und Amerika heim

Dennoch zeigt sich der Euro an den internationalen Märkten seit längerem sehr stark, und fast alle Drittweltwährungen sind im Trudeln. Das scheint ein ziemlicher Widerspruch. Dafür gibt es aber doch durchaus Erklärungen. Die wichtigste Erklärung: Bei Signalen der globalen Unsicherheit flüchtet man noch immer am liebsten in altvertraute Häfen. Und das sind nun mal Europa und Nordamerika.

Zugleich gibt es erste zarte Zwischentöne, dass in beiden Regionen die Zentralbanken mit dem hemmungslosen Gelddrucken aufhören könnten. Zart. Vielleicht. Und irgendwann einmal, wenn das Wachstum kräftig genug ist: Aber schon solche vagen Perspektiven genügen offensichtlich, um die Ängste zu zerstreuen, dass Europas und Amerikas hemmungsloses Gelddrucken am Ende in eine Inflation führen muss. Daher glauben Europäer wie Nichteuropäer offensichtlich sofort, dass man dort wieder sicherer anlegen kann.

Zugleich würde bei einer auch nur leichten Verknappung der europäischen und amerikanischen Geldmenge wieder weniger Geld für Investitionen in den einige Jahre von Dollars und Euros überschwemmten Schwellenländern zur Verfügung stehen. Daher ziehen viele Investoren Geld jetzt schon aus diesen Ländern ab, also noch vor irgendeiner echten Verknappung.

Es ist in der Tat zumindest möglich, dass Deutschland nach der Wahl die Politik der fast unbegrenzten Haftungen für Griechenland & Co beenden oder abbremsen könnte. Das würde Investitionen in Europa wieder sinnvoll machen. Vor der Wahl konnten Angela Merkel und Wolfgang Schäuble zwar nicht gut zugeben, dass das ein großer Fehler war, was sie seit 2010 an Krediten und Haftungen alles unterschrieben haben. Aber nach den Wahlen ist ein Politikwandel zumindest denkbar.

Zwar scheint ein solcher Kurswechsel nach wie vor nicht sehr wahrscheinlich. Aber die Investoren und Devisenmärkte reagieren offensichtlich auch schon, wenn eine Denkmöglichkeit bloß einmal ausgesprochen wird.

Pubertäre Wachstumsstörungen

Genauso wichtig sind aber auch die Turbulenzen in den einzelnen Schwellenstaaten. Wenn man es biologisch vergleicht: Diese Turbulenzen ähneln schweren pubertären Wachstumsstörungen. Diese sind ja auch bei Menschen oft sehr heftig. Nur sind sie in der Dritten Welt in aller Regel eben mit kräftigem Wachstum – und nicht mit Stagnation verbunden.

Neben den skizzierten globalen Trends hat fast jedes der pubertierenden Schwellenländer auch sehr spezifische eigene Wachstumsstörungen.

In China ist es etwa die Notwendigkeit, sich erstens auf eine rasch alternde Bevölkerung umzustellen, die logische Folge von Jahrzehnten der Einkindpolitik. Zweitens versucht China, die einseitige Abhängigkeit von billigen Industrieproduktionen abzubauen und sich in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft zu entwickeln. Drittens muss es dringend die – noch immer großen – Überreste der alten und nicht wettbewerbsfähigen Staatsindustrie abbauen, in der Unmengen fauler, jedoch noch nicht abgeschriebener Kredite stecken. Und viertens steht China vor der unabdingbaren Mega-Aufgabe, die Korruption nicht nur verbal, sondern wirklich zurückzudrängen. Was ja vor allem bedeutet, eine unabhängige Justiz aufzubauen, die auch gegen mächtige Parteisekretäre vorgehen darf, welche sich bisher über das Recht meist hemmungslos hinweggesetzt haben.

Indien als Opfer des eigenen Populismus

Ganz anders, aber in Wahrheit noch viel schlimmer sind Indiens Wachstumsprobleme. Indien ist nämlich unter dem populistischen Druck vieler Politiker noch weniger in der Marktwirtschaft angekommen als China. Indische Aktien werden derzeit massenweise verkauft. Indien hat ein gewaltiges, politisch verursachtes Leistungsbilanzdefizit.

Indien hat im Gegensatz zu China eine sehr junge und rasch wachsende Bevölkerung. Daher müsste es dringend etwas für die vielen Jungen tun. Denn das eindrucksvolle Wachstum des Mittelstandes alleine ist sicher zu wenig, um die nachdrängenden Massen zu beschäftigen.

Nur eine echte Öffnung für ausländische Unternehmen – auch im Handel und bei Dienstleistungen – kann die benötigten Arbeitsplätze schaffen. Aber die vielen kleinen heimischen Händler und sonstigen Betriebe bekämpfen das bis aufs Messer. Denn sie fürchten – wohl zu Recht – dass ihnen die Konkurrenz wehtun wird.

Die verzweifelt um eine Wiederwahl kämpfende indische Regierung hat in dieser Situation die völlig falschen Maßnahmen gesetzt. Sie hat als Reaktion auf die Turbulenzen die wirtschaftlichen Freiheiten eingeschränkt, statt sie auszubauen: Der Geldtransfer ins Ausland wurde limitiert, ebenso der Import von Gold.

Am schlimmsten ist die jüngste Maßnahme: Künftig haben 820 Millionen Inder Anspruch auf ein paar Kilo Getreide zu Billigpreisen. Freilich nur auf dem Papier. Denn in der Geschichte hat noch jede Preisregulierung unter dem Marktpreis zu Verknappungen geführt. In Indien ebenso wie anderswo.

Indien hat außerdem eine große Tradition, dass staatlich subventionierte Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt oder in korrupten Kanälen landen, aber nicht bei den Armen – genauer gesagt: Wählern. Nichts wird auch gegen die großen Probleme bei der Lagerung und beim Transport von Getreide getan. Niemand kümmert sich, ob überhaupt genug Getreide produziert wird. Aber trotz des mutmaßlichen Scheiterns wird das Nahrungsprogramm den schwer verschuldeten indischen Staat jedenfalls viele Milliarden kosten.

Argentinien hängt noch die alte Schuldenkrise nach

Ähnlich kann man auch für andere große Staaten wie Indonesien, Brasilien, Argentinien oder Thailand jeweils spezifische nationale Probleme analysieren. Argentinien etwa wird jetzt noch von seiner alten Schuldenkrise knapp nach der Jahrtausendwende eingeholt, die nur in der Rhetorik der Politik schon überwunden war: Das Land ist von US-amerikanischen Gerichten verurteilt worden, in Amerika gemachte Schulden auch voll zurückzuzahlen, sofern kein freiwilliger Teilverzicht stattgefunden hat.

Jenseits ihrer Spezifika ist allen Schwellenländern gemeinsam, dass Währungen und Börsenkurse den ganzen Sommer über steil gefallen sind, dass viele Investitionen reduziert worden sind, dass viel zu wenig neue kommen.

Diese Entwicklungen sind vor allem für die Demokratien ein Problem: Denn das Wissen um weltwirtschaftliche Zusammenhänge fehlt bei den meisten Wählern komplett. Daher ist jede notwendige Reform zumindest anfangs sehr unpopulär.

Bei allen Problemen Europas und Amerikas zeigt sich nun überraschenderweise, dass die Schwellenländer trotz der gewaltigen Erfolge in den letzten Jahren noch keineswegs eine selbsttragende Wirtschaftskraft geworden sind. Sie hängen in hohem Maße weiterhin von den beiden weißen Kontinenten ab. Die Schwellenländer haben oft nur einen Scheinboom erlebt, der lediglich auf europäisch-amerikanischen Notenpressen basiert ist.

 

Bild: Manfred Schütze / pixelio.de/ © www.pixelio.de

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