Dienstag, 5. November 2024
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Ein Gedenkjahr, das nachdenklich stimmen sollte

Der Anschluss Österreichs. Wagenkolonne Hitlers am Wiener Praterstern, März 1938. Foto: © CC-BY-SA Deutsches Bundesarchiv/Wikimedia (Ausschnitt)

„Die Geschichte lehrt ständig, findet aber keine Schüler“. Dieses Zitat der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann hat sich die politische Führung Österreichs zu Herzen genommen und zelebriert geradezu die Aufarbeitung der Geschichte.

Schon seit Wochen kommentieren Historiker aller Couleurs die Ereignisse der Vergangenheit, versuchen Vorgänge zu erklären, Wegweisungen für die Zukunft zu formulieren. Was dabei übersehen wird, ist, dass das Gedenkjahr 2018 viele Sichtweisen hat aber auch viele Marksteine kennt.

Von 53 auf 6 Millionen geschrumpft

Zunächst: Um den 4. März 1933 und den 11. März 1938 besser zu begreifen, muss man bis 1918 zurückgehen. Damals, am 3. November unterzeichnet Kaiser Karl in der Villa Giusti bei Padua den Waffenstillstand, am 11. November verzichtet er auf jegliche Teilnahme an den Staatsgeschäften, am Tag darauf wird in Wien die Republik „Deutsch-Österreich“ ausgerufen. Ein Name, in dem sich die Hoffnungslosigkeit widerspiegelt, als ein von fast 53 auf sechs Millionen geschrumpfter Kleinstaat zu überleben, der aber mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von St. Germain verboten wird, sodass ab Oktober 1919 nur noch von der „Republik Österreich“ die Rede ist. Mit dem Eintritt der USA und der Sowjetunion in den Ersten Weltkrieg sind zwei neue Weltmächte aufgetreten, die zunächst das alte Europa abgelöst haben, schließlich aber auch zur West-Ostkonfrontation führen sollen. Für Österreich beginnt mit dem Zerfall der Monarchie, die 636 Jahre das Land, den Kontinent und seine Menschen prägte, ein Überlebenskampf, der auch zu einer innenpolitischen Konfrontation führt.

Von der Radikalisierung zur Parlamentsausschaltung

Ein Gipfelpunkt dieser Entwicklung ist zunächst der 4. März 1933. Sechs Jahre nach dem Brand des Wiener Justizpalastes wird eine tragende Säule der demokratischen Ordnung ihrer Funktion beraubt. Ein Streit über das Streikrecht im März 1933 führt zum Rücktritt der drei Natio­nalratspräsidenten und damit zur Selbst­ausschaltung des Parlaments. Mit eine Rolle, dass es dazu kam, spielte nach Ansicht vieler Historiker auch die Radikalisierung eines Flügels der Sozialdemokraten, der eine kommunistische Diktatur nach sowjetischen Vorbild anstrebte. Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, noch 1932 in einem demokratischen Wahlgang gewählt, ergreift die Macht, lässt die Regierung mit Notver­ordnungen weiterarbeiten und proklamiert schließlich eine neue Verfassung. Die Parteien werden aufgelöst, ein sogenannter Ständestaat wird gegründet. Das Land wird au­toritär regiert. Die Zeit des „Austrofaschismus“ ist angebrochen.

Die Vorgeschichte zur Katastrophe

Ludwig Jedlicka, einer der profiliertesten Zeithistoriker: „Die Entwicklung des Jahres 1933 in Österreich kann nur aus der Vorgeschichte dieses europäischen Schicksalsjahres verstanden werden.“ Und tatsächlich, die gravierenden sozialen Folgeer­scheinungen der ersten globalen Wirtschaftskrise sind der Nährboden für radikale politische Strömungen, lassen Bewegungen, wie den Natio­nalsozialismus, entstehen und anwachsen. Durch ganz Europa geht eine faschistische Welle. In Italien tritt Benito Mussolini mit seiner faschistischen Partei zum „Marsch auf Rom“ an. In Spanien kommt es zum Bürger­krieg zwischen Links und Rechts. In Deutschland gründet Adolf Hitler die NSDAP, die Nationalsozialisti­sche Arbeiterpartei. Die Weltöffentlichkeit verkennt die Gefahr. Die Zersplitterung der Parteienlandschaft, die Verkennung des Ernstes der Situation, auf die das Land zusteuert, begünstigt die Machtergreifung. Hitler wird am 30. Jänner 1933 Reichskanzler und schafft innerhalb von zwei Monaten eine Ein-Partei-Diktatur.

Österreich weicht der Gewalt

Der erste Versuch Hitlers, einen Umsturz in Österreich herbeizuführen scheitert. Am 25. Juli 1934 unternehmen die Nazis einen Putschversuch und be­setzen das Bundeskanzleramt. Bun­deskanzler Engelbert Dollfuß wird erschossen. Die Revolte aber niedergeschlagen. Kurt Schuschnigg übernimmt die Regierungsgeschäfte im autoritär regierten Österreich. Mit der Zeit sucht er das Gespräch mit den Sozial­demokraten und versucht vor allem, die „braune Gefahr“ abzuwehren. Zu spät und nicht entschlossen genug. Österreich kann dem Druck von Nazi-Deutschland nicht mehr standhalten und muss eine für den 13. März anberaumte Volksabstimmung absagen. Der amtierende Bundeskanzler Kurt Schuschnigg schließt das Kapitel der Ersten Republik in seiner Radioansprache mit den legendären Worten: „Gott schütze Österreich“. Am Tag darauf marschiert Adolf Hitler ein. Hunderttausende jubeln ihm zu. Viele, zu viele haben über Nacht das Hemd gewechselt. Nicht wenige ahnen aber auch, dass eine noch unvorstellbare Leidensgeschichte beginnt. Diese wird etwas mehr als sieben Jahre dauern.

Es gab Opfer, aber auch Täter

Vor 75 Jahren – am 30. Oktober 1943 – wird mit der Moskauer Deklaration Österreich zugestanden, erstes Opfer des Nationalsozialismus zu sein. Allzu lange vergisst man hierzulande den Folgesatz, nämlich, dass das Land nicht nur Opfer war, sondern auch Täter hatte. Kurt Waldheim, angesehener UNO-Generalsekretär, dessen 100ster Geburtstag am 21. Dezember ansteht, bekommt im Präsidentschaftswahlkampf die ganze Last der Aufarbeitung der Vergangenheit zu spüren. Er, der sich wie Hunderttausende nicht wehren konnte in den Krieg gezogen zu werden, wird mit der Frage „Warum habt ihr das zugelassen“ konfrontiert. Und muss die Antwort schuldig bleiben. Oder doch nicht. In seiner Neujahrsansprache als Bundespräsident am 1. Jänner 1988 stellt er unmissverständlich klar: „Es gibt Österreicher, die Opfer, und andere, die Täter waren. Erwecken wir nicht den Eindruck als hätten wir damit nichts zu tun.“

Partnerschaft siegt über den Klassenkampf

Es gibt allerdings im großen Gedenkjahr noch eine Reihe anderer Ereignisse, die es verdienen, beachtet zu werden.

Vor 200 Jahren – am 3. September 1818 – kommt in Schlesien Karl von Vogelsang zur Welt. Er zieht durch deutsche Lande, ehe er nach Wien kommt und hier zu einem Wegbereiter der christlichen Arbeitnehmerbewegung wird. Der von ihm geprägte politische Begriff der „Partnerschaft“ ist das Gegenmodell zum „Klassenkampf“. Ein Begriff von dem der SP-Ideologe Norbert Leser einmal sagen wird, dass die Volksparteien um ihn zu beneiden sind, weil er aus dem ideologischen Wettstreit als Sieger hervorgegangen ist..

Angesichts der Revolution von 1848 flieht der Wiener Hof im Oktober nach Olmütz und der Reichstag nach Kremsier. Hier wird eine neue, fortschrittliche Verfassung konzipiert, die Volkssouveränität festgeschrieben. Sie trat aber nie in Kraft. Wäre das geschehen, hätte die Geschichte des Habsburgerreiches wohl einen anderen Lauf genommen. So aber erfüllte sich das Wort von Franz Grillparzer: „Auf halben Wegen und zu halber Tat, mit halben Mitteln zauderhaft zu streben“. Eine beinahe österreichische Kennmelodie.

Ende eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz

1968 ist nicht nur das Jahr der Studentenrevolten. Es ist auch das Jahr, da der Traum von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz platzte. Nach Ostberlin 1953, Ungarn 1956 versucht eine weitere Volksdemokratie sich von den Fesseln einer kommunistischen Diktatur zu befreien. Der Aufstand wird am 21. August mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen niedergewälzt. Es war übrigens der ORF, der damals mit seiner Echtzeit- Berichterstattung, die Welt an der Authentizität dieser Ereignisse teilnehmen ließ und Bewusstsein schuf. Für die vielen Dissidenten, die sich nicht unterkriegen ließen.

Ein Papst stellt Weichen ins neue Europa

Am 16. Oktober 1978 wird der polnische Bischof Karl Woytila zum Papst gewählt. Viele rätseln, wie es dazu wohl kam, dass ein Mann aus dem Ostblock an die Spitze der Kirche gewählt wird. Er wird alsbald zum Hoffnungsträger von Millionen Menschen, inspiriert zur Gründung der unabhängigen polnischen Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“, die schließlich zum Bazillus wird, dem die KP-Regime im Osten Europas reihenweise zum Opfer fallen. Und Österreich vom Rand in die Mitte Europas rücken lassen. Das demokratische Europa reicht zwar (noch) nicht vom Atlantik bis zum Ural, ist aber weit in den Osten Europa vorgerückt.

Wenn man sich die aktuelle Entwicklung in und rund um Europa ansieht, die Vielzahl der Konflikte, die Uneinigkeit und Uneinsichtigkeit innerhalb der EU Revue passieren lässt, dann müsste, genau genommen, ein Blick in die Vergangenheit genügen, um ein politisches Um- und Neudenken herbeizuführen. Aber, siehe Ingeborg Bachmann…….

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