Deutschland funktioniert. Wiewohl derzeit noch die alte Regierung die Geschäfte führt und zwei Monate nach der Bundestagswahl niemand weiß, wie die neue Regierung aussehen wird. Dazu kommt, dass von den fünf Parteien, die für eine Regierungsbildung in Frage kommen, gleich vier Spitzenrepräsentanten ein Ablaufdatum haben.
Die Regierungsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2013 dauerten gerade einmal einen Monat. Dann stand die Koalition der CDU/CSU mit der SPD fest. Damals hatte Angela Merkel noch das Heft in der Hand. Diesmal wurde vier Wochen in Berlin nur „sondiert“, um nachher festzustellen, dass es zwischen CDU/CSU, der FDP und den Grünen keinen gemeinsamen Nenner gibt. Hätte der Bundespräsident sich nicht den SPD-Vorsitzenden zur Brust genommen, dann wäre wohl zunächst der Weg in Richtung einer Minderheitsregierung eingeschlagen worden. Ein Experiment, bei dem sich die Regierung für jedes Gesetz erst Mehrheiten hätte suchen müssen. Stabilität hätte damit Deutschland – und das in einer Zeit, da gerade in der EU wichtige Weichenstellungen vorzunehmen sind – nicht vermittelt. Die Bundeskanzlerin macht in dieser Situation den Eindruck, als würde sie die Entwicklung laufen lassen, aber nicht wirklich steuern. Nun eben in Richtung einer Neuauflage der alten Koalition. Dass neue Köpfe notwendig sind, lässt sich nicht mehr ganz von der Hand weisen.
Seehofers Glück und Ende
Ganz oben auf der Liste der Ablösekandidaten steht der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, an dessen Sessel schon seit längerem gesägt wird. Nachdem 2008 die CSU erstmals bei Wahlen im Freistaat Bayern die absolute Mehrheit verloren hatte, wurde Seehofer auf das blau-weiße Schild gehoben. Bei den Landtagswahlen 2013 gelang es ihm, der Partei wieder die volle Machtfülle zu bringen. Jetzt, bei der Bundestagswahl und ein Jahr vor der nächsten Landtagswahl, sackte die CSU wieder ab, worauf der Ruf nach einem neuen Gesicht laut wurde. Vorgedrängt hat sich auch schon Finanzminister Markus Söder, der aber sofort Gegenwind zu spüren bekam. Gibt es doch eine Reihe qualifizierter Kandidaten, die vielleicht sogar mehr Sympathien genießen, wie etwa die Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner oder Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament.
Die verpasste Chance einer schwarz-grünen Regierung
Abschied nehmen will im kommenden Frühjahr auch der populäre Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir. Er bekleidet diese Funktion bereits seit 2008 und denkt schon laut über seinen Nachfolger nach. Mit dem Platzen des Traums von einer Jamaika-Koalition ist seine politische Gruppierung aller Voraussicht nach für eine weitere Legislaturperiode weg vom Regierungsfenster. Feindbild der Grünen ist der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, weil dieser die Jamaika-Verhandlungen zum Abbruch brachte. Was wohl eine zu einfache Ausrede ist. Denn tatsächlich haben die Grünen vor vier Jahren die Chance ausgeschlagen, eine Koalition mit der CDU/CSU zu bilden, die schon zuvor auf verschiedenen Ebenen gedanklich vorbereitet worden war. Worauf der damals siegreichen Angela Merkel nur die Bildung einer GroKo, also einer Großen Koalition mit der SPD übrigblieb.
Der 100-Prozent-Mann im Kreuzfeuer der Kritik
Mit einem ungewissen Schicksal hadert SPD-Vorsitzender Martin Schulz. Zu Jahresbeginn als Retter in der Not vom Europäischen Parlament in die deutsche Innenpolitik geholt, erzielte er bei der Bundestagswahl das schlechteste Ergebnis, das die SPD je erzielt hatte. Noch in der Wahlnacht ließ er sich zu dem Statement hinreißen, dass die Sozialdemokraten für keine Regierungsbeteiligung mehr zur Verfügung stehen und daher den Weg in die Opposition antreten. Nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche musste er sich von seinem Parteigenossen und Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier beknien lassen, im Interesse des Landes die GroKo-„Nein“-Position aufzugeben. Den Gesichtsverlust versucht er nun damit wettzumachen, dass er Bedingungen der SPD für ein Regierungsbündnis mit CDU/CSU stellt, noch ehe die Verhandlungen begonnen haben. Wenngleich Schulz am Parteitag noch mit 100 Prozent zum Vorsitzenden gewählt wurde, hat er viel Sympathie in den eigenen Reihen verloren. Fast täglich kann er in den Zeitungen lesen, dass Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz oder die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles die weit besseren Frontfiguren seien.
Die Sozialdemokratie und das Dienstleistungs-Proletariat
Das eigentliche Problem der SPD und der Sozialdemokraten überhaupt stellt freilich ein Problem des gesellschaftlichen Strukturwandels dar, der mit dem Autoritätsverlust historischer Leitfiguren der Arbeitnehmerbewegung einherging. Viele Soziologen sprechen von einem neuen, so genannten „Dienstleistungs-Proletariat“. Dazu zählen unter anderem Gebäudereiniger, Paketzusteller, Pflegekräfte. Sie verdienen gerade einmal € 1.000.- monatlich netto und haben keine Aufstiegsmöglichleiten. Für sie gibt es keinen Karl Marx mehr, der ihnen Mut zuspricht. Genau das wollte – um eine Parallele zu Österreich aufzuzeigen – Christian Kern mit seinem Sager „Holt Euch, was Euch zusteht“. Und genau das ist die Bruchstelle. Um eine Führungsrolle als Regierungspartei zu spielen, reicht es nicht, mit Klassenkampfmethoden um die Stimmen der „Fußmaroden des Wirtschaftswachstums“ zu werben, sondern es gilt, den linksliberalen Mittelstand anzusprechen. Für den aber hat man kein ideologisches Angebot.
Die sozialdemokratisierte CDU als Problemfall
Und damit kommt man zu guter Letzt zu der zentralen Figur der deutschen Politik, zu Angela Merkel. Faktum ist, dass auch sie, die so genannte „starke Frau Europas“, für die CDU am 24. September ein denkbar schlechtes Ergebnis eingefahren hat. Aber sie denkt offenbar nicht daran, daraus Konsequenzen zu ziehen. Klammert sich an die Macht. Und irgendwie schlägt sich ihre Haltung mittlerweile auch auf die politische Stimmung in Deutschland durch. Nicht einmal wird in der öffentlichen Diskussion auf Frankreich und übrigens auch auf Österreich hingewiesen, wo einerseits Emmanuel Macron und andererseits Sebastian Kurz die politische Szene aufmischten. Ähnliches würde man sich auch für Berlin wünschen. Nur wird es noch nicht so direkt artikuliert. Ähnlich wie die SPD hat auch die CDU – und zwar unter und durch Merkel – an ideologischer Substanz verloren. Der Vorwurf der Sozialdemokratisierung ist fast schon allgegenwärtig, die Gegenbewegung, die eine Besinnung auf christdemokratische Werte verlangt, zu zaghaft.
Das Denkmal Merkel
Wenn auf Parteiversammlungen der CDU Redner aufstehen, Kritik an der geschäftsführenden Kanzlerin üben, ernten sie noch einen Sturm an Buh-Rufen. Tatsächlich und das hat das Platzen der Jamaika-Gespräche gezeigt, wird aber auch schon Kritik laut. Und sei es zunächst nur von politischen Mitbewerbern, wie etwa FDP-Chef Lindner, der Merkel eine schlechte Verhandlungsführung vorwarf. Dass es sich dabei aber auch zeigte, dass eine 4-er Koalition generell keine tragfähige Basis für eine stabile Regierungsarbeit ist, steht auf einem anderen Blatt. Ähnlich wie in der SPD, wo man sich nicht sicher ist, ob Schulz der richtige Mann für eine GroKo ist, gibt es diese Zweifler auch in der CDU. Angela Merkel hat es in den mittlerweile 17 Jahren ihrer Parteiführung freilich geschafft, potentielle Konkurrenten am Wegrand stehen zu lassen.
Merz wagt sich aus der Deckung
Einer von ihnen, genau genommen der erste, der das Feld räumte, hat sich nun zu Wort gemeldet. Friedrich Merz, einst Vorsitzender der Bundestagsfraktion, heute erfolgreicher Wirtschaftsanwalt. Zitate aus seiner Rede vor dem CDU-Wirtschaftsrat in Düsseldorf werden mittlerweile herumgereicht. Rechnete doch der frühere CDU-Politiker Friedrich Merz mit der Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel ab, ohne ihren Namen zu erwähnen. An die Spitze seiner Ausführungen stellte er die Forderung nach einem Umdenken in der Partei. Für ihn bedeuten die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen nicht nur „eine tiefe Zäsur“, sondern sollten vor allem der Anlass für eine grundlegende Analyse der Ergebnisse der Bundestagswahlen sein. Die es nicht gab, weil man bewusst eine Flucht vor der Wahrheit suchte. Merz zieht daher einen drastischen Vergleich: „Der Arzt, der über die Station läuft und sagt, dem nebenan geht es noch schlechter, ist kein guter Arzt“.
Veränderung heißen die Zeichen an der Wand
Einen Wahlkampf wie im Schlafwagen zu führen, sei auch die falsche Strategie gewesen: „Die Strategie, möglichst alle Wähler auf der anderen Straßenseite ins Koma zu versetzen, dürfte sich erledigt haben.“ Zu den wesentlichen Kritikpunkten von Merz – und da sprach er auch den bayerischen Parteifreunden aus der Seele – gehört die polarisierende Grenzöffnung für Flüchtlinge im Jahr 2015. Die Tatsache, dass Deutschland eine solche Entscheidung über Nacht im Alleingang getroffen habe, sei „keine besonders überlegte europäische Politik gewesen“. Man darf gespannt, wie es nun in Deutschland wirklich weitergeht. Die Zeichen eines Veränderungs-Willens sind bereits an den Wänden abzulesen.