Nicht nur beim Rechts- sondern auch beim Politikverständnis fühlt man sich beim türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ins Mittelalter zurück versetzt.
Der jugoslawische Diktator Slobodan Milosevic hatte einmal – in Bezug auf das Amselfeld im heutigen Kosovo, wo 1389 ein Heer unter der Führung eines serbischen Fürsten von einer osmanischen Armee vernichtend geschlagen wurde – den Besitzanspruch auf andere Länder damit begründet, dass überall wo serbische Gräber sind auch Serbien ist. Bei Erdogan lautet offenbar das Motto, dass überall wo Türken leben sich auch die Türkei befindet. Von daher leitet er auch für sich, seine Minister und Parteifunktionäre das Recht ab, Wahlkampf nicht nur daheim zwischen Gaziantep und Istanbul sondern auch in Europa betreiben zu dürfen. Das ist im Grunde genommen, die politische Besitznahme eines fremden Landes.
Uneinigkeit im Verhalten gegenüber der Türkei
Die Versuche der AKP und von Präsident Recep Tayyip Erdogan den Wahlkampf für die Abstimmung über die türkische Verfassungsreform nach Europa zu tragen, sorgen daher berechtigterweise für heftige Diskussionen. Den derzeitigen Zustand der EU kann man daran ermessen, dass es keinen Generalstabsplan und schon gar keine akkordierte, gemeinsame Vorgangsweise gibt, wie man dem Treiben Erdogans auf der europäischen und internationalen Bühne begegnen kann. Wie bei der Flüchtlingskrise so sind auch vom Türken-Problem nur einige Staaten insofern wirklich betroffen, als sie einen erheblichen Anteil an der Bevölkerung stellen. Dazu kommt, dass es sich die EU – aufgrund des Flüchtlingsdeals – nicht mit der Türkei verscherzen will. Daher gibt es auch kein klares „Ende“ zu den Beitrittsverhandlungen. Und nicht zuletzt will man die Türkei aus strategischen Gründen fest bei der Stange halten. Nicht einmal hat Ankara deutlich gemacht, sich mit Moskau zu verbünden.
Klare Worte anstelle schwacher Ausreden
Das Resultat dieser Situation ist, dass die Politik wieder einmal nicht entschlossen Erdogan die Stirne bietet, sondern auch noch ständig auf eigene offene Flanken aufmerksam macht, indem zum Beispiel die Verantwortung von der höheren auf die unterste mögliche Ebene abgeschoben wird. In den Niederlanden und in Deutschland versucht man daher derzeit, politische Kundgebungen mit türkischen Politikern dadurch zu verhindern, dass man mit Hinweis auf fehlende Sicherheitseinrichtungen oder andere Vorwände die bestellten Räumlichkeiten für Veranstaltungen nicht freigibt. Das ist schlichtweg nicht professionell.
Wahlkampf daheim, nicht im Ausland führen
In Österreich hat man, wie seit Monaten auch schon in der Flüchtlingskrise, durchaus klare Worte gefunden, was zwar kritische Bemerkungen in Brüssel hervorrief, die aber angesichts des Nicht-Agierens der EU-Spitzen durchaus vernachlässigbar sind. So hatte sich Außenminister Sebastian Kurz bereits vor einer Woche dafür ausgesprochen, keine Wahlkampfauftritte türkischer Politiker zuzulassen. Jeder Politiker, auch Erdogan, sei zu einem Staatsbesuch willkommen, aber das müsse im Rahmen der üblichen diplomatischen Gepflogenheiten erfolgen. Davon, dass man die Absage an Bürgermeister delegiert oder irgendwelche technischen Mängel vorschiebt, hält Kurz nichts. Und er erwartet sich derzeit auch keine Lösung von Brüssel.
EU-Merkmale: Zerrissenheit und Unentschlossenheit
Einmal mehr zeigen die letzten Tage, dass man innerhalb der Europäischen Union in durchaus sensiblen aber wichtigen Fragen nicht imstande ist, einen gemeinsamen Nenner zu erzielen. Der Vorschlag von Bundeskanzler Christian Kern, ein EU-weites Auftrittsverbot für türkische Politiker zu beschließen, wurde erst gar nicht näher in Betrachtung gezogen. Die Zerrissenheit und Unentschlossenheit innerhalb der 28 EU-Länder hat jeder aufmerksame Beobachter, nicht zuletzt auch der türkische Premierminister mitbekommen. Und er legte daher noch nach, indem er Deutschland der an den Haaren herbeigezogenen Nazi-Methoden bezichtigte. Anstelle eines solidarischen Aufschreis der Empörung beeilten sich eine Reihe von Politikern zu beschwichtigen. Das wird Ankara nicht beeindrucken.
Drei besonders betroffene Länder
Faktum ist, dass in zumindest drei EU-Ländern, nämlich in Deutschland, den Niederlanden und Österreich, eine große türkische Community lebt. Viele der in den letzten Jahren und Jahrzehnten zugewanderten Türken haben zudem auch noch eine Doppelbürgerschaft. Schon bei den letzten Parlamentswahlen 2015 hat sich gezeigt, dass die in Europa lebenden Türken überdurchschnittlich für die Erdogan-Partei stimmen. Da der Wahlausgang des am 16. April anstehenden Referendums eine offenbar nicht so sichere Angelegenheit ist, will man nun insbesondere hier Stimmungsmache erzeugen. Kurzum, man will den Wahlkampf aus der Türkei ins Ausland tragen.
Leben wie daheim in Anatolien
Dagegen regen sich nun ernsthafte Stimmen. Zeigt sich doch in vielen Studien aber auch in der Praxis, dass die Integration der Türken in die europäische Gesellschaft schleppend vor sich geht. Versuchen sie doch, ihre gewohnte Umgebung aus der Heimat mit nach Deutschland, den Niederlanden und Österreich zu bringen. Anstatt sich in die neue Gesellschaft einzufügen, gehen viele den Weg der Abkapselung. Das kann man in den Wohnvierteln vieler Städte augenscheinlich erleben. Baut man sich doch hier eine Welt auf, die sich nur wenig von der alten Heimat unterscheidet. Man hört türkisches Radio, sieht türkisches Fernsehen, liest türkische Zeitungen, kauft beim türkischen Greißler ein, geht zum türkischen Friseur, isst das Lamm im türkischen Gasthaus, verkehrt nur in türkischen Freundeskreisen und so weiter. Nur den Arbeitsplatz teilt man mehr oder weniger mit anderen Arbeitern aus Österreich, anderen Ländern und anderen Kulturkreisen.
Gettobildungen statt Integration
So kann und wird Integration nicht erfolgen. Wobei die Fehler schon weiter zurückliegen, indem man unter anderem nicht bei der Wohnungsvergabe und auch der Städteplanung darauf geachtet hat, dass hier geradezu eine Gettobildung im Gange ist. Mehr noch, es hat sich in manchen Gegenden geradezu ein Staat im Staate herangebildet. Erdogan und seine Gefolgsleute sehen es daher geradezu als selbstverständlich an, auch hier, wenngleich an sich Ausland, um Stimmen unter den „Heimatflüchtlingen“ zu werben. Faktum ist und das wurde fast zu spät erkannt, dass die Entstehung eines „Staates im Staat“ so freilich nicht geduldet werden kann.
Statt Solidarität ist Hilfe durch Selbsthilfe gefragt
Nur wie soll man das einem Politiker erklären, der gerade vom Allmachtstrieb besessen ist, der sich am Liebsten eine Präsidialherrschaft auf Lebenszeit mit Erbrecht für seine Familie schaffen möchte und der zu allen Mitteln greift, um Gegner mürbe zu machen, die auch schon im Mittelalter Usus waren. Von der wahllosen Verhaftung bis hin zur Todesstrafe.
Hilfe durch Selbsthilfe ist daher der einzige Weg, der derzeit innerhalb der EU offenbar weiterführt. Die Worte von Innenminister Wolfang Sobotka „wir brauchen eine wehrhafte Demokratie“ darf sich Brüssel daher ins Stammbuch schreiben. Geht es doch bei der ganzen Diskussion auch darum, dass innerstaatliche Konflikte eines Landes – und das trifft auf das türkische Referendum zu – nicht auf fremden Boden ausgetragen werden können. Umso mehr als es dabei durchaus zu einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit kommen kann, die frühzeitig zu unterbinden ist. Die jüngste Kriminalstatistik, die insbesondere auf den Anstieg bei gewalttätigen Auseinandersetzungen hinweist, ist der beste Beleg dafür, dass rechtsstaatliche Maßnahmen zu treffen sind.