217 Millionen Europäer, jene die am 26. Mai zur EU-Wahl gingen, dürfen sich getäuscht vorkommen. Wieder einmal.
Es war ein langes Ringen, aber schließlich hatten sich die Parteien zu einem sogenannten Spitzenkandidaten-System durchgerungen. Soll heißen, dass jede der Fraktionen einen Spitzenkandidaten aufstellt. Alle spielten damals mit, nur einer schon damals nicht, nämlich Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Er wollte dies nicht, offenbar weil ihm keiner der Kandidaten ins Gesicht stach. Vor allem Manfred Weber nicht, den die deutsche CDU/CSU ins Rennen schickte.
Bereits nach der Wahl war alles anders
Doch weiter in der Vorgeschichte. Aus den Reihen der Spitzenkandidaten sollte schließlich jener Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident nachfolgen, dessen Fraktion die Mehrheit erhält. Schon das war freilich nur noch Wunschdenken. Denn als das Ergebnis feststand, mit der Europäischen Volkspartei am ersten, den Sozialdemokraten am dritten, den Liberalen am vierten und den Grünen am vierten Platz, ging es schon los. Die EVP pochte auf das Mehrheitsprinzip und Weber. Die S&D beharrte trotz schlechten Abschneidens auf Frans Timmermans. Die Grünen und die Liberalen wollten sich ihre Zustimmung schlichtweg abkaufen lassen.
Spitzenkandidaten müssen europaweit kandidieren
Ein wesentliches Handikap dieses Systems war von allem Anfang, dass zwar alle Parteien mit den Kandidaten ihrer Fraktion warben, aber Weber nur in Deutschland und Timmermans nur in den Niederlanden gewählt werden konnte. Eine europaübergreifende Kandidatur ist derzeit noch tabu. Viele Wähler quer durch Europa trauten dennoch den Versprechen der Parteien. Und sehen sich nun getäuscht. Die Spitzenkandidaten hatten plötzlich gar keine Chance, Kommissionspräsident zu werden und mussten sich geschlagen geben, weil die sogenannten „Großkopferten“ zu keinem Konsens kamen und daher das Versprechen, das man den Wählern vor der Wahl gegeben hatte, schlichtweg ignorierten.
In Japan wurde Merkel von Macron übe den Tisch gezogen
Begonnen hatte es bereits beim G-20-Gipfel in Japan. Dort begann die Mauschelei. Allen voran zwischen der deutschen Kanzlerin und dem französischen Präsidenten. Merkel, von allem Anfang kein wirklicher Fan des Bayern Müller, ließ sich überreden, auf ihn zu beharren. Im Hinterkopf hatte sie die Rettung der Koalition mit der SPD daheim in Deutschland. Hinter Macron verschanzt hatten sich die Benelux-Staaten, worauf plötzlich Timmermans Chancen auf die Juncker-Nachfolge stiegen und den Belgiern ein anderer Spitzenjob im EU-Himmel angeboten wurde.
Kleine und Ost-Staaten als Verlierer
Vor und beim EU-Gipfel ging dann das Ringen um das Personalpaket weiter. Einmal mehr machten sich die großen Staaten die Entscheidung unter sich aus. Die einstigen Oststaaten ließ man im Winkerl stehen. Kleine Staaten durften gewissermaßen kuschen. Wobei im Falle von Österreich hinzukommt, dass die Interimskanzlerin Brigitte Bierlein zwar vor Ort war, aber in den Vorbesprechungen der Fraktionen und den Couloir-Gesprächen zwischen den Regierungschefs nicht dabei sein konnte, weil sie ja kein Parteileiberl und damit kein politisches Mandat hat.
Paris und Berlin geben in Brüssel den Ton an
Das was jetzt dem Parlament zur Abstimmung vorliegt, ist ein französisch-deutsches Diktat. Mit von der Leyen als Kommissionspräsidentin und Christine Lagarde als EZB-Chefin wird die Achse Berlin-Paris die nächsten Jahre auch noch das Geschehen in Brüssel bestimmen. Dass der belgische Ministerpräsident Charles Michel künftighin als Ratspräsident und der spanische Außenminister Josep Borrell als Außenbeauftragter der EU fungieren soll, ist auch nicht gerade ein Zeichen von Stärke. Das betrifft vor allem Borrell, der ja gewissermaßen als Außenminister der EU fungieren soll und nicht gerade als ein politisches Schwergewicht gilt.
Begehrlichkeiten schwächen die Proteste
Das letzte Wort hat nun das Parlament, das dem Personalpaket seine Zustimmung geben soll. Gleich nachdem die Entscheidung des EU-Rats bekannt geworden war, gab es fast einen Sturm der Entrüstung. Da wurde die Hinterzimmer-Politik kritisiert, von einer Missachtung der Wähler gesprochen. Je länger die Diskussion läuft, umso ruhiger werden die Proteste. Schließlich bereitet man sich schon auch darauf vor, welche Posten man von den Neuen verlangen kann, als Gegengeschäft dafür, dass sie gewählt werden. So heißt es zum Beispiel schon, dass man den Grünen einen interessanten Kommissarsjob zuschanzen will.
Wie kann sich der Wähler aber wehren?
Eine wesentliche Frage ist sicher, wie kann sich nur der Wähler gegen diese Art von Politik zur Wehr setzen. Auf die nächste Wahl in fünf Jahren zu warten, das kann man vergessen. Sehr wohl aber könnte man sich ein Beispiel an so manchen Bewegungen nehmen. So erst kürzlich als es um die Seawatch-Kapitänin Carola Rackete ging. Da organisierte sich binnen kurzem ein Sturm der Entrüstung, der den Italienern gar nichts anderes übrig ließ, als sie freizusetzen und des Landes zu verweisen. Von einem ähnlichen Sturm der Wähler ist jetzt nichts zu merken. Sie resignieren und verlieren wieder einmal die Achtung vor den Politikern. Was bleibt ist, dass der Wähler Druck auf seinen EU-Mandatar ausübt. Aber wer macht das schon?
Mehr Macht dem Parlament als Mindestforderung
Eine Reform der EU ist notwendig. Und nicht nur, was die Kompetenzen zwischen Brüssel und den einzelnen EU-Staaten – Stichwort Subsidiarität – betrifft. Es geht vor allem jetzt um die Rechte des Parlaments. Dieses muss zwar abstimmen über jede Gesetzesvorlage, die von der EU-Kommission vorgelegt wird, kann aber selbst nicht mit eigenen Initiativanträgen aktiv werden. Sie hat zwar über die Personen abzustimmen, die die Spitzenjobs in der EU einnehmen sollen, sie hat aber keine Möglichkeiten durchzudrücken, dass die Spitzenkandidaten, nur sie und keine, die wie ein Kaninchen aus dem Hut gezogen waren, auch die Führung der EU übernehmen. Das muss jetzt geändert werden.
Österreich ist in dieser wichtigen Phase der Entscheidungen in der EU durch Ibiza-Gate gelähmt und von allen wichtigen Planungen ausgeschlossen.
Auch deshalb müssen alle Personen zur Verantwortung gezogen und ins Licht der Öffentlichkeit gestellt werden, die Ibiza-Gate eingefädelt und umgesetzt haben. Der Republik Österreich, aber auch der Bevölkerung, ihrer Erwartungshaltung und ihrem Selbstverständnis und auch ihrem Selbstbewusstsein in der EU wurde ein unvorstellbar hoher, nachhaltiger Schaden zugefügt. Die ausgewählten Hauptdarsteller in diesem Drama verbüßen bereits ihre Strafe.
Zur Umsetzung der Gerechtigkeit für alle handelnden Aktivisten dieses Schurkenstückes fehlen nur noch wenige Informationen. Bis dahin können sie sich noch heimlich, manche auch ganz öffentlich, über ihre Untat freuen.