Die „Widerstandskraft“ der EU zu stärken, das ist eines der Ziele, die EU-Budgetkommissar Johannes Hahn mit besonderem Nachdruck als Reaktion auf die Corona-Pandemie mit all ihren wirtschaftlichen Verwerfungen verfolgen will. Europa muss in wichtigen Bereichen wieder autark werden und sich aus gewissen Abhängigkeiten in der Industriepolitik lösen, fordert er in einem Interview mit EU-Infothek.
In der öffentlichen und veröffentlichten Meinung wird in Zusammenhang mit der Corona-Krise immer wieder Kritik an der EU geübt, sie hätte die Nationalstaaten allein „fuhrwerken“ lassen und keine Koordinierungsfunktion wahrgenommen. Hat es da Versäumnisse gegeben?
Das muss ich entschieden zurückweisen. Schließlich liegt die Zuständigkeit für die Gesundheitsversorgung und den Katastrophenschutz bei den Mitgliedstaaten. Dort, wo wir Kompetenzen haben, haben wir rasch und effizient reagiert: wir haben die kontraproduktiven Alleingänge einiger Mitgliedstaaten gestoppt und dadurch das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes sichergestellt. Dadurch konnten wir erreichen, dass die EU-BürgerInnen mit Lebensmitteln und dem so wichtigen medizinischen Material versorgt waren. Auch im regulativen und koordinierenden Bereich haben wir auf die Krise sofort durch Lockerung der Defizit- und Beihilferegeln reagiert und nebenbei auch noch an die 100 Mrd Finanzmittel aus dem EU-Budget zur Unterstützung der Mitgliedstaaten locker gemacht.
Seitens der populistischen Parteien – wie etwa der FPÖ – wird diese Stimmung zum Anlass genommen, um gleich ein „Abwracken“ der EU zu verlangen. Soll heißen, Wirtschaftsgemeinschaft JA, politische Union NEIN. Steckt da ein Gefahrenpotential drinnen?
Diese Reflexe gibt es immer und besonders in Zeiten der Krise, obwohl es paradox ist. Denn gerade in Krisenzeiten zeigt sich, wie wichtig gemeinsames Handeln ist. Das gilt für alle Herausforderungen unserer Zeit: von Umweltkrisen bis zu Terrorismus, Klimawandel und Flüchtlingswellen, die sich noch verstärken werden. Laut Eurobarometer- Umfragen wollen die EU-BürgerInnen in all diesen Bereichen mehr und nicht weniger gemeinsames Handeln. Ich sehe daher kein Gefahrenpotential. Mit einem gewissen Populismus wird man immer leben müssen. Wichtig ist es, dies nicht zu tolerieren, sondern mit guten Argumenten zu kontern. Die Populisten haben noch nie etwas geschaffen, in der Regel zerstören sie etwas.
Wäre es denkbar, dass die Kommission aufgrund der aktuellen Erfahrungen mehr Koordinierungskompetenzen in der Gesundheitspolitik einfordern wird?
Es liegt nicht an uns, mehr Kompetenzen einzufordern, dies wird durch die Verträge geregelt, über welche die Mitgliedstaaten entscheiden. Ich finde es außerdem auch durchaus sinnvoll, dass etwa die Gesundheitsversorgung in nationaler Kompetenz ist, denn man kann vor Ort am besten beurteilen, welche Maßnahmen notwendig sind. Man stelle sich die Reaktion vor, würde in Brüssel über Verordnungen wie das Tragen von Masken oder Ausgangssperren entschieden. Das Subsidiaritätsprinzip macht also durchaus Sinn, aber es muss auch gelebt werden: im Falle des Gesundheitsschutzes muss eben auf nationaler oder sogar regionaler Ebene entschieden und gehandelt werden. Die EU kommt ins Spiel, wenn es um die europaweite Koordinierung der Maßnahmen geht, etwa gemeinsame Beschaffung von medizinischer Ausrüstung oder bei den Rückführungsflügen von EU-BürgerInnen.
Kritisiert wird auch, dass Ursula von der Leyen zu wenig Präsenz gezeigt habe, wodurch der Eindruck einer führungsschwachen Union entstand.
Diese Kritik kann ich nicht nachvollziehen. Es verging kaum ein Tag, an dem sich die Präsidentin nicht an die Öffentlichkeit gewandt hat, sie – und ihr ganzes Team von KommissarInnen – arbeiten Tag und Nacht daran, die EU aus der Krise zu führen und gleichzeitig die Schiene für die dringend benötigte wirtschaftliche Erholung zu legen. Es ist klar, dass diese wirtschaftliche Erholung bei der engen Verflechtung unserer Märkte nur gemeinsam gelingen kann.
Anstelle bloß Überlegungen bzgl. eines Marschallplans für Europa zu wälzen, wäre es z.B. nicht angebracht gewesen, gleich einen konkreten Plan auf den Tisch zu legen?
Diese Krise betrifft alle, hat aber in den einzelnen Mitgliedstaaten höchst unterschiedliche Folgen. Und die Mitgliedstaaten sind unterschiedlich für die Krise gerüstet – Österreich ist da übrigens dank des resoluten Krisenmanagements der Regierung sehr gut aufgestellt. Andere Länder sind viel stärker betroffen. Daher kam man nicht einen einheitlichen Plan aus der Schublade ziehen. Wir arbeiten an einer Strategie, welche die Widerstandskraft der Länder und damit der ganzen Union gegen Krisen erhöht. Im Zentrum dieser Strategie steht unser mehrjähriges EU-Budget, bei dem wir eine rasche Einigung brauchen, um handlungsfähig zu bleiben.
Die Corona-Krise hat auch auf die Abhängigkeit so mancher Wirtschaftsbereiche (wie etwa bei Medikamenten, Schutzausrüstung) von Multis und Großkonzernen aufmerksam gemacht. Wird es da ein Umdenken geben?
Seit ich mein neues Ressort (Budget und Verwaltung) übernommen habe, ist einer meiner Leitsätze, dass die EU eine stärkere Autonomie benötigt, nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Das ist auch eine der Lehren, die aus der Krise zu ziehen ist. Wir haben deswegen z.B. Leitlinien herausgegeben, um starke europäische Firmen vor ausländischer Übernahmen zu schützen. Wir brauchen in Europa eine moderne und leistungsfähige Industriepolitik, um lebenswichtige Produkte wie eben Medikamente oder Schutzausrüstungen, aber auch IT-Geräte in der benötigten Qualität selbst herzustellen. Unsere neuen politischen Schwerpunkte wie Digitalisierung und der „Green Deal“, Forschung und Innovation sowie die Stärkung und Modernisierung unserer Wirtschaft spielen hier eine wichtige Rolle. Denn sie werden das nötige Potential dafür schaffen, dass wir in neue Technologien investieren und dadurch unsere Abhängigkeit verringern.