Sonntag, 22. Dezember 2024
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EU-Kommission droht Großbritannien mit Klage

Wegen angeblicher Diskriminierung von ausländischen EU-Bürgern bei der Zuteilung von Sozialleistungen will die Kommission das Vereinigte Königreich vor den Europäischen Gerichtshof verklagen. Der Fall ist Wasser auf den Mühlen der britischen Euroskeptiker.

[[image1]]Der Streit zwischen Großbritannien und der EU hat eine neue Eskalationsstufe erreicht, nachdem der EU-Kommissar für Arbeit und Soziales, László Andor, das Vereinigte Königreich wegen der Diskriminierung von Ausländern aus der restlichen EU verklagen will. Er wirft der Regierung in London vor, Bürgern die keinen britischen  oder irischen Pass  besitzen, bestimmte Sozialleistungen zu verweigern, die Briten automatisch zustehen und damit gegen geltendes EU-Recht zu verstoßen. Damit droht Großbritannien ein mehrjähriger Rechtsstreit vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg.

Tests für Ausländer

Um bestimmte Sozialleistungen wie Arbeitslosenhilfe, Wohngeldzuschüsse oder Kindergeld zu beziehen, die an Einkommensgrenzen beziehungsweise Bedürftigkeit gekoppelt sind,  müssen ausländische EU-Bürger in Großbritannien einen Test absolvieren. Diskriminierend ist das aus Sicht der EU-Kommission deshalb, weil Briten und Iren sich diesem Test entweder gar nicht unterziehen müssen oder ihn automatisch bestehen. Damit sei eine Ungleichbehandlung von Briten und Bürgern aus anderen EU-Staaten gegeben, argumentiert Andor. Die Kommission hatte Großbritannien schon vor rund zwei Jahren aufgefordert, diese einseitige Praxis zu beenden, denn sie verstoße gegen die Regeln des EU-Binnenmarktes. Die Regeln für die Gewährung von Sozialleistungen seien 2009 von den EU-Mitgliedstaaten – und damit auch von Großbritannien – beschlossen worden.

Öl ins Feuer

Wie nicht anders zu erwarten, folgte der Klage-Ankündigung in Großbritannien ein Aufschrei der Empörung. Im April hatte Großbritannien zwar selbst beim Europäischen Gerichtshof gegen die Finanztransaktionssteuer geklagt, doch normalerweise gehört der EuGH zu den europäischen Institutionen, die die meisten Briten rundheraus ablehnen weil sie ihm das Recht absprechen, auf die britische Innenpolitik Einfluss zu nehmen.
Sozialminister Iain Duncan Smith erklärte,  er werde nicht tatenlos zusehen, wie die Kommission versuche, Schutzmaßnahmen gegen den Missbrauch des britischen Sozialsystems zu „verwässern“. Er werde daher „Schritt für Schritt gegen Brüssel kämpfen“. Sein Parteifreund Peter Lilley, der einst unter Margaret Thatcher Sozialminister war, kritisierte die Intervention der Kommission als „teuer, nicht erwünscht und undemokratisch“.

Die EU wage sich damit in Bereiche vor, die in den bestehenden EU-Verträgen ausdrücklich ausgeklammert worden seien. „Jeder, der gerade aus dem Flugzeug gestiegen ist kann Sozialhilfe in Anspruch nehmen“, heißt es in Regierungskreisen. Der Chef der euroskeptischen UK Independence Party (UKIP), Nigel Farage, konnte der Versuchung nicht widerstehen, Öl ins Feuer zu gießen und propagierte erneut den sofortigen Rückzug Großbritanniens aus der EU : die Klage-Drohung der EU-Kommission zeige deutlich, „dass wir den Kampf gegen die Europäische Union einfach nicht gewinnen können“, erklärte er. Der britische Premier David Cameron will seine Landsleute nach den nächsten Parlamentswahlen in einer Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft entscheiden lassen.

Sozialleistungs-Tourismus

Der Konflikt mit der EU hat in Großbritannien deshalb große politische Sprengkraft, weil der emotional aufgeladene Begriff „Sozialleistungs-Tourismus“ – auf Englisch „Benefits Tourism“ – das Blut vieler Briten in Wallung bringt. Dahinter steckt die weitverbreitete Kritik, dass Ausländer aus der restlichen EU nur deshalb nach Großbritannien kommen, um dort Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, die ihnen eigentlich nicht zustehen. Leidtragende seien die Einheimischen, weil die Ausländer die ohnehin knapp bemessenen öffentlichen Ressourcen weiter schmälern, so das Argument. Horror-Stories von Osteuropäern, die einreisen um das staatliche Gesundheitssystem NHS in Anspruch zu nehmen und sich kostenlos aufwendigen Behandlungen unterziehen obwohl sie eigentlich nicht in Großbritannien leben, werden von der britischen Boulevardpresse seit langem mit Gusto ausgeschlachtet. Ebenso beliebt sind Artikel über europäische Sozialhilfeempfänger, die mit britischen Steuergeldern ihre Familie im Ausland finanzieren. Nun da die britische Regierung die Sozialleistungen drastisch kürzt und die Bevölkerung unter der Sparpolitik ächzt, lösen derartige Fälle bei den einst toleranten Briten zunehmend Ärger aus. UKIPs Anti-Einwanderungsrhetorik ist so erfolgreich, weil sie existentielle Ängsten anspricht: die Befürchtung, dass die Ausländer den Briten nicht nur Arbeitsplätze wegnehmen sondern auch eine Verschlechterung der medizinischen Versorgung und eine Überlastung des öffentlichen Schulsystems verursachen könnten.

Nach der Öffnung der Grenzen für Bulgaren und Rumänen im kommenden Jahr drohe dem britischen Sozial-, Gesundheits- und Schulwesen der Kollaps, warnen Kritiker. Angesichts der Erfolge von UKIP bei den Kommunalwahlen und des wachsenden Drucks vom rechten Flügel seiner eigenen Partei will   Premier David Cameron weitere Maßnahmen gegen Einwanderer ergreifen. So plant er beispielsweise Vermieter zu zwingen, künftig den Einwanderungsstatus potentieller Mieter zu überprüfen und Ausländer, die erst kurz im Lande sind, bei Arztbesuchen zur Kasse bitten. Jonathan Portes vom renommierten Think Tank „National Institute of Economic and Social Research“ gibt allerdings zu bedenken, dass Zuwanderer aus der EU in Großbritannien deutlich seltener Sozialleistungen in Anspruch nähmen als britische Staatsbürger. Studien des University College London hätten gezeigt, dass die Ausländer mindestens 30 Prozent mehr an Steuern einzahlten als sie an Leistungen beanspruchten.

System begünstigt Missbrauch

Da es in Großbritannien aber kein Meldegesetz und keine Ausweispflicht gibt  ist das System in der Tat leichter zu missbrauchen als in anderen Ländern. Das staatliche Gesundheitswesen NHS wird nicht über Krankenkassenbeiträge sondern über eine Art Steuer finanziert, ebenso verhält es sich bei der Staatsrente, die allen Briten eine minimale Sockelrente garantiert. Kindergeld steht allen zu, die unterhalb einer bestimmten Einkommensgrenze verdienen, Wohngeld und andere Stützen sind an Bedürftigkeit gekoppelt. Könnten nur diejenigen Leistungen in Anspruch nehmen, die den Nachweis erbringen können, dass sie schon eine bestimmte Zeit eingezahlt haben, wäre auch der Missbrauch leichter zu verhindern. Das allerdings würde eine fundamentale Reform des britischen Sozialsystems voraussetzen und müsste für Briten und EU-Ausländer gleichermaßen gelten.

 

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