Ob der EU-Pakt mit der Türkei eine dauerhafte Lösung der Flüchtlingskrise bringen wird, ist mehr als ungewiss – sicher ist bloß, dass es sich um eine Notlösung handelt. Die 28 Mitgliedstaaten der Union müssen nach dem überraschend einhelligen Okay zur neuen Strategie eben zahlen, weil sie offensichtlich zum Handeln nicht fähig sind.
Zunächst sind drei Milliarden Euro fällig, und wenn die aufgebraucht sind, sollen bis Ende 2018 nochmals drei Milliarden fließen. Die Türkei hat im Gegenzug zugesagt, alle irregulären Migranten, die illegal auf griechischen Inseln landen, automatisch zurückzuführen. Für jeden davon betroffenen Syrer wird im Gegenzug ein Syrer aus der Türkei in die EU gebracht – bis zur Obergrenze von 72.000 Flüchtlingen, ein Kontingent, das relativ bald erreicht werden dürfte.
Der am letzten Sonntag in Kraft getretene Aktionsplan, den Amnesty International als „unmoralisch“ taxiert, wirft allerdings deutlich mehr Fragen auf als er konkrete Antworten gibt. Wie soll etwa der Rückstau in Griechenland, wo derzeit rund 50.000 Flüchtlinge festsitzen, bewältigt werden? Dort bahnt sich eine humanitäre – Stichwort: Idomeni – , eine organisatorische und längst auch eine finanzielle Katastrophe an. Die EU-Kommission hat zwar in der vergangenen Woche eine Unterstützung in Höhe von 30 Millionen Euro bewilligt, womit sie dem Land seit dem Vorjahr insgesamt 180 Millionen zukommen ließ, doch das reicht nur kurzfristig. Also totales Chaos in Griechenland, weil viel zu wenig Personal – Dolmetscher, Richter, Polizeikräfte etc. – vorhanden und der nationale Krisenstab ratlos ist. Die geplante Umsiedelung von Asylwerbern aus Griechenland in andere EU-Staaten ist der größte Hemmschuh: Die Länderquoten, die im September zwecks Verteilung von 160.000 Flüchtlingen beschlossen wurden, sind ein Wunschtraum geblieben – bislang haben nicht einmal 1.000 Flüchtlinge eine neue Heimat gefunden. Und die Ankündigung des für Migration zuständigen Innenkommissars Dimitris Avramopoulos, dass ab sofort lediglich 6.000 Menschen pro Monat (!) umgesiedelt werden sollen, klingt wie ein Hohn. Diese Prozedur würde nämlich selbst im Optimalfall, an den ohnedies niemand glauben kann, 27 Monate dauern – wie gesagt, nur für 160.000 Menschen.
Wer sind die Willigen?
Ob der Brüsseler Pakt mit den Türken daher tatsächlich eine Win-Win-Situation darstellt, ist fraglich – keine Frage indes ist es, dass die Flüchtlinge die Verlierer sein werden. Denn obwohl den Schleppern, nicht zuletzt durch einen NATO-Einsatz in der Ägäis, das Geschäft abgegraben werden soll, wäre es naiv zu glauben, dass die derzeit in türkischen Flüchtlingslagern untergebrachten, auf eine bessere Zukunft hoffenden Syrer plötzlich resignieren und nicht mehr in das vermeintliche Paradies EU auswandern wollen. So lange der Bürgerkrieg in ihrer Heimat nicht beendet ist, werden hunderttausende Menschen – so wie zahllose Iraker und Afghanen, für die das Abkommen gar nicht gilt – eine neue Existenz im Westen anstreben. Und selbst wenn es den EU-Chefs nach der „Sperre“ der Westbalkan-Route darum geht, zu verhindern, dass sich illegale Migranten auf neuen Land- oder Seerouten – beispielsweise über Albanien oder Bulgarien bzw. Über das Mittelmeer aus Libyen – nach Europa aufmachen, wird genau das mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten.
Die Crux dabei ist und bleibt, dass sie dort vielfach einfach nicht willkommen sind. Insbesonders die aus Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen bestehende Visegrad-Gruppe zeigt sich diesbezüglich besonders unsolidarisch, aber auch andere Staaten, darunter Großbritannien und Portugal, begnügen sich lediglich mit schönen Worten, denen so gut wie keine Taten folgen. Dazu kommt das gewaltige Versagen der EU-Gewaltigen, die Flüchtlinge, die größtenteils nach Germany möchten, auf an sich bereitwillige Länder aufzuteilen: Frankreichs Francois Hollande beispielsweise hat die Aufnahme von 30.000 Asylwerbern angeboten, jedoch bislang erst kaum 1.000 ins Land geholt. Somit bleibt es einer im Moment nicht exakt zu definierenden „Koalition der Willigen“ vorbehalten, das europäische Flüchtlingsproblem im Alleingang zu stemmen – im Vorjahr wurden EU-weit immerhin 1,3 Millionen Asyl-Erstanträge gestellt, davon mehr als 470.000 in der Bundesrepublik.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die nach wie vor auf ihre Politik der offenen Grenzen schwört, wird wohl in den nächsten Monaten auch die meisten der oben erwähnten 72.000 Syrer aufnehmen, aber irgendwann klarstellen müssen, ob das Boot – und wenn ja wann – auch in Deutschland voll sein wird. Merkels idealistische Grundhaltung, dass es eines Tages doch noch eine gesamteuropäische Lösung geben werde, mag zwar voller Humanität und folglich lobenswert sein, sie ist jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit realitätsfern.
Imageschaden für Österreich ?
Dass sich Österreichs Bundesregierung bei der jüngsten Wende so stark wie selten zuvor in Brüssel eingebracht hat, ist unbestritten – unklar bleibt allerdings, was das der Republik gebracht hat. Das große Umdenken auf oberster EU-Ebene hat gewiss mit der im Jänner für heuer fixierten Obergrenze von 37.500 Asylanträgen sowie mit der im Februar getroffenen Übereinkunft mit den Balkanstaaten zu tun, die Grenzen für Einwanderer überall dicht zu machen und die bisherige Strategie des Durchwinkens zu beenden. Das brachte Österreich einerseits Sympathien und anerkennendes Lob, beispielsweise aus Bayern ein, anderseits auch massive Kritik, etwa aus dem Brüsseler EU-Headquarter und dem Berliner Kanzleramt. Seit jedoch bekannt wurde, dass zwei rot-weiß-rote Verfassungsrechtler, die im Auftrag der Regierung ein Gutachten zu erstellen hatten, die verkündete Jahresobergrenze für verfassungswidrig halten, sind Werner Faymann & Co. mit einer riesigen Peinlichkeit konfrontiert: Immerhin hat der Kanzler seiner deutschen Kollegin Angela Merkel ungefragt, aber mit Nachdruck empfohlen, eine deutsche Obergrenze in Höhe von 400.000 Asylbewerbern zu fixieren, um damit den Flüchtlingszustrom bremsen zu können.
Die Kernfrage lautet daher, wie sich die Regierung, die im Vorjahr fast 90.000 Asylanträge verzeichnet hatte, weiter verhalten wird. Stur zur eingeschlagenen Marschrichtung zu stehen, wenn diese tatsächlich nicht gesetzeskonform sein sollte, wird für Faymann & Co. nicht gut möglich sein. Und wieder einfach einen Rückzieher zu machen – so als wäre gar nichts passiert – scheint auch nicht die Ideallösung zu sein, wo sich doch u.a. die schwarzen Minister Johanna Mikl-Leitner und Sebastian Kurz oder der rote Landeshauptmann Hans Niessl seit Monaten als Hardliner in Sachen Law and Order profiliert haben. Der Kanzler, der zuletzt gerne die Rolle als Europas Problemlöser Nummer Eins interpretieren wollte, läuft jedenfalls Gefahr, massive Imagekratzer abzubekommen. Auch der Republik droht ein deutlicher Verlust an Reputation, weil sie sich in den Augen vieler Betrachter letztlich abschotten sowie die Grenzen per Maschendrahtzaun möglichst dicht machen möchte und damit ähnlich wie Ungarn und andere unwillige EU-Mitgliedsstaaten agiert.
Ein solcher Schwenk wäre zweifellos bedauerlich, weil Österreich bislang in der Flüchtlingsfrage ein Art Musterschüler gewesen ist und deshalb Spott und Hohn aus allen möglichen Richtungen wirklich nicht verdient: Im vergangenen Jahr haben hier zu Lande immerhin jeweils an die 25.000 Syrer und Afghanen sowie 14.000 Iraki Asyl beantragt. Allein in den ersten zehn Wochen dieses Jahres wurden 112.000 einreisende Flüchtlinge registriert – der Großteil all jener, die sich über das Mittelmeer nach Europa aufgemacht haben. Schon in zwei von drei österreichischen Gemeinden leben Asylwerber, 10.000 Flüchtlingskinder wurden an Schulen aufgenommen. Nach Deutschland und Schweden spielte Österreich beim jüngsten Migrationsstrom die drittwichtigste Rolle in Europa, so engagiert wie bereits mehrmals in der Vergangenheit.
Ein Blick auf die aktuelle Bevölkerungsstatistik macht deutlich, dass Ausländerfeindlichkeit kein Stigma für ein Land bedeuten kann, wo bereits jeder vierte Bürger einen Migrationshintergrund hat: Alles in allem lebten zu Jahresbeginn 1,27 Millionen AusländerInnen in Österreich, womit deren Anteil im Jahr 2015 von 13,3 auf 14,6 Prozent gestiegen ist. Fast jeder Zweite mit nicht-österreichischer Staatsangehörigkeit stammt aus einem EU-Land – die meisten davon aus Deutschland – , doch unter den jährlich rund 10.000 Asylwerbern bis 2014 befanden sich auch viele aus Nicht-EU-Ländern, zum Beispiel Serben, Türken, Ägypter, Nigerianer, Inder oder Ukrainer, die großteils eingebürgert wurden. Was die Erwerbstätigkeit von Flüchtlingen anlangt, lag Österreich im OECD-Vergleich 2014 mit rund 60 Prozent auf Platz drei, hinter Italien und der Schweiz.
Also alles paletti ? – nein, natürlich nicht. Denn die Integration all dieser Menschen ist zumeist nicht einfach und funktioniert folglich alles andere als reibungslos. Noch mehr Flüchtlinge, meinen die Bundespolitiker unisono, würden das Land einfach überfordern. Das und die Kostenfrage dahinter – laut Finanzminister Hans Jörg Schelling muss die öffentliche Hand für jeden Flüchtling 11.000 Euro pro Jahr berappen – waren auch die wichtigsten Gründe, warum die rot/schwarze Koalitionsregierung letztlich auf die Bremse gestiegen ist und den Retourgang eingelegt hat. Dass die Europäische Union mit ihrer neuen, leider nur kurzfristigen Strategie nunmehr besser fährt, ist freilich zu bezweifeln…