Hoffentlich handelt es sich bei der Meldung, dass Brüssel Sebastian Kurz massiv unter Druck setze, nur um eine Zeitungsente.
Entweder ist es ein stockdummes Gerücht, das schleunigst aufgeklärt und sodann gleich wieder vergessen werden sollte. Oder es ist letztlich ein Riesenskandal, der in diesem Lande noch lange für Empörung sorgen müsste.
Die Rede ist von einem exklusiven „Kurier“-Artikel am Dienstag, in dem geradezu Schauerliches vermeldet wurde: Sebastian Kurz habe bei einem Brüssel-Besuch am 19. Oktober von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einen angeblich aus 16 Punkten bestehenden Forderungskatalog an die neue Bundesregierung erhalten. Der EU-Präsident könne sich freilich, war in dem Bericht zu lesen, an eine derartige To do-Liste nicht erinnern.
Die Vorgeschichte: Der aller Voraussicht nach nächste rot-weiß-rote Bundeskanzler weilte in der Tat am oben erwähnten Tag in der EU-Metropole und war dort, per Fotos reichlich dokumentiert, überraschtes Zielobjekt einer – wie es das Boulevardblatt „Österreich“ formulierte – „Knutsch-Attacke“. Weniger phantasievoll formuliert: Er wurde von Juncker in dessen ureigenstem Stil heftig abgebusselt. Das darauffolgende Gespräch dürfte zwar etwas weniger freundlich gelaufen sein, ging es doch um schwierige Brocken wie die Migrationsfrage und die künftige Regierungsbeteiligung der FPÖ in Wien. Der Jung-Kanzler in spe stellte danach jedenfalls klar, dass es keine mahnenden Worte Junckers gegeben hätte, weil er ohnedies für einen pro-europäischen Kurs stehe.
Jetzt erst sickerte durch, dass Kurz sehr wohl ein Schreiben des Kommissionspräsidenten in Empfang genommen hat. Darin stand unter anderem, dass Brüssel eine „stabile, pro-europäische Regierung“ in Österreich erwarte. Außerdem wurde auf die „große Herausforderung“ verwiesen, die der nächsten Bundesregierung bevorstehe, weil das Land im kommenden Jahr den Ratsvorsitz übernehmen und damit „eine herausragende Rolle in der Europäischen Union“ spielen werde. Diese Formulierungen deuten nicht darauf hin, dass die Kommission Kurz mit Forderungen eindecken wollte, um ihn sozusagen unter Kuratel zu stellen.
Die Angst vor der FPÖ
Kommen wir aber nun zum Punkt: Es ist durchaus einsichtig, dass die Spitzenpolitiker der Union einen Mordsbammel haben, was denn die Freiheitliche Partei Österreichs noch so alles anrichten könnte, wenn sie einmal in der Regierung sitzt. Die Blauen unter HC Strache gehören nun mal der rechtspopulistischen und rechtsextremen ENF-Fraktion im EU-Parlament an, stehen also an der Seite einer Marine Le Pen und eines Geert Wilders, von denen die Zerstörung der Europäischen Union oder des Euro regelmäßig thematisiert bzw. gefordert wird.
Wenn nun diese Partei als Mitglied der destruktivsten Fraktion im EU-Parlament dort Fundamentalopposition betreibt, in Wien jedoch mitregiert, so wäre das etwa für den ÖVP-Politiker Othmar Karas schlichtweg „unglaubwürdig“ und würde den von Sebastian Kurz eingeschlagenen Pro-EU-Kurs massiv konterkarieren. Überdies wären die Spitzenleute der Union wegen der internationalen Kontakte der FPÖ, etwa zu Russland, wo ein Kooperationsvertrag mit der Putin-Partei abgeschlossen wurde, verunsichert.
Es wird auch sehr genau beobachtet, wenn zum Beispiel zwei FP-Politiker die vom Kreml annektierte Krim besuchen, was der EU-Linie eindeutig widerspricht. Man darf jedenfalls schon gespannt sein, ob die Freiheitlichen bei einer Verlängerung der Russland-Sanktionen um weitere sechs Monate so ohne weiteres mitspielen oder sich regierungs-intern querlegen werden.
Fassen wir zusammen: Dass sich führende EU-Politiker wegen der Blauen in Österreich Sorgen machen und diese in geeigneter Form zum Ausdruck bringen, ist nur allzu verständlich und geht voll in Ordnung. Falls allerdings tatsächlich der Versuch unternommen wurde, auf Sebastian Kurz Druck auszuüben, indem man ihm eine 16 Punkte umfassende To do-Liste zukommen hat lassen, dann wäre das ein Megaskandal, der nicht unter den Teppich gekehrt werden dürfte. Brüssel hat nämlich absolut kein Recht, sich in die Regierungsbildung eines Mitgliedsstaates einzumischen. Die Entscheidung, welche Parteien eine Koalition bilden, ist ausschließlich in Österreich zu treffen und nirgendwo sonst…