Europas Gesellschaften erleben Veränderungen als tief empfundene Bedrohung. Dadurch ändern sich manche Dinge schneller als anderswo, manche allerdings aber gerade deshalb nicht. In jedem Fall bleibt der Kontinent in den eisigen Händen von Demagogen und Manipulatoren.
[[image1]]Als Zeitungsleser kennt man die Zeitungsmeldung: Der (vermeintlich ungerechtfertigte) Preisanstieg eines bestimmten Produktes wird als Spitzenmeldung lang und breit bejammert. Und es wäre nicht Europa, wenn man die Ursache dafür bei Kapitalismus, Spekulanten oder Großkonzernen suchen würde. Von der Preissenkung ein Jahr später liest man nichts mehr.
Wer das Experiment wagt und einmal ein paar Wochen keine Zeitung liest, den staatlichen Radiostationen und Fernsehkanälen entsagt, der wird eine neue Lebenslust verspüren: Denn die Mehrheit aller Meldungen sind vom depressiven Duktus Tausendfach wiederholter Abstiegsängste geprägt.
Sucht und Suche nach der Angst
„Menschen haben grundsätzlich mehr Lust an negativen als an positiven Meldungen“, so der Statistiker Gerd Bosbach[1], das sei in der Entwicklungsgeschichte des Menschen begründet. In der Steinzeit hatte ein rechtzeitig ausgelöster Alarm ein Neandertaler-Dorf vor der Ausrottung durch fremde Stämme gerettet. Das kam dann so einmal, zweimal jährlich vor. In unserer digitalen Medienwelt erschrecken uns Alarme heute aber 25 Mal am Tag. Dafür sind Menschen nicht gebaut. Sie deuten den medialen Druck an depressiven Meldungen als Untergang ihrer Art – ja, des gesamten Systems. So deuten Marxisten jedes noch so kleine „Down“ als den lange erwarteten Untergang des Kapitalismus – übersehen dabei aber drei Dutzend „Ups“ im selben Zeitraum.
„96 % NICHT von Armut bedroht!“
Besonders bei Europäer steigert sich die „Angst vor der Angst“ zum regelrechten „Untergangskult“. „Wovor müssen wir uns 2012 fürchten?“, ätzte Zukunftsforscher Matthias Horx[2] und mutmaßte: „Vor Wohlstandsverlust, Inflation, Euro-Kalypse, kollabierenden Banken, Werteverfall (der „Klassiker“ schon seit Jahrhunderten), vor Terrorismus, Killerviren, Burn-out oder Kürzeln a la EHEC, ESM oder gar EFSF?“.
Alles Fakten rund um einen wahren Kern. Mindestens genauso wahr sind aber auch Meldungen wie: „200 Millionen Inder der Armut entkommen!“, „China wird bald 25% seiner Energie aus erneuerbaren Quellen schöpfen!“, „96% der Österreicher nicht von Armut betroffen!“, „Immer weniger Menschen sterben in Kriegen!“, „Europas Mordrate seit 1450 um 95% gesunken![3]“, „China entwickelt Konzept, bis 2030 500 GW (=500 Kernkraftwerke) an Photovoltaik ans Netz zu bringen[4]!“ Nur leider interessiert das niemanden.
Die Angst vor der Kaufsucht
„28 Prozent der Österreicher kaufsuchtgefährdet!“[5], weiß die AK Wien. Was dramatisch klingt, entpuppt sich beim Studium des Originalberichts als harmlos. Demnach ist die theoretische Kaufsucht-„Gefährdung“ ein Phänomen, das vor allem junge Frauen betrifft, beschränkt auf wenige Jahre nach der Teenager-Zeit. Das heißt aber noch lange nicht, dass diese Frauen eines Tages auch tatsächlich kaufsüchtig werden. Insgesamt betrifft diese theoretische Gefahr der Gefährdung 6,2 % der Österreicher.
„Christbäume werden teurer!“
Wenn Dänen die Bäume ausgehen, frohlockt der heimische Bauer. Die Preise bei Christbäumen legen bei Grazer Einkaufszentren zu – und es gibt auch weniger Aktionsware![6]“ vermeldet die Warnung der AK Steiermark. Droht da ein Versorgungsengpass? Wird alles noch viel teurer? Die Wut der Bürger schwillt.
Warum sollen heimische Bauern für ihre Agrar-Rohstoffe aber eigentlich keine fairen Preise bekommen? Auch die Preise für die Arbeitskraft von Arbeitnehmern ist ja teurer geworden – und zwar stärker als die für Christbäume.
Die Angst vor der „Zwei-Klassen-Medizin“
Seit Jahrzehnten schürt man die Abstiegsangst der Mittelschicht, um die so Verängstigten dann mit „Gerechtigkeitsparolen“ für die eigene Sache einzufangen. Am leichtesten geht das beim Thema Gesundheit. Man suggeriert den Menschen, dass nur noch eine reiche Minderheit menschenwürdig versorgt werde, während der Rest schauen müsse, wo er bleibt. Das macht wütend.
Dabei ist Österreichs medizinische Versorgung hervorragend. Vor allem für Arme. So ist jemand, der nur halbtags arbeitet, mit seinen 1.000 Euro monatlich gleich (gut) versichert wie der Diplomingenieur, der für 5.000 Euro 60 Stunden schuftet. Selbst wer als Österreicher nie im Lande war oder (etwa als Augustin-Verkäufer) niemals in die Krankenversicherung einbezahlt hatte, bekommt die Hüftprothese für 11.500 Euro gratis aus dem Steuertopf[7]. Hausfrauen und Kinder sind „beitragsfrei“ beim Mann mitversichert – selbst wenn dieser keine Steuern zahlt. Und all dies wird durch das Geld der Reichen subventioniert (was ja auch in Ordnung ist).
Das reichste Drittel Österreichs bezahlt 59% der Krankenkassenbeiträge, nimmt aber nur 25% in Form von Leistungen heraus. Das ärmste Drittel bezahlt nur 13% ein, erhält aber 43% aller Mittel. Niemand will das ändern – aber zu behaupten, im Gesundheitssystem drohe Ungerechtigkeit und Kälte trifft nicht nur nicht zu. Es schürt grundlos die Ängste der Bevölkerung.
Demokratische Kontrolle durch Medien unwirksam
Obwohl es niemals mehr Menschen besser ging als heute – Stichwort „Lebenserwartung“-, und obwohl die Kluft im Lande schon seit 10 Jahren gleich gering geblieben ist (Gini-Koeffizient konstant bei 0,26), ist die Stimmung auf dem Nullpunkt. Dominieren Politik und Gesellschaft Verteilungsangst, Neid und Aggression. Tatsächlich funktioniert die demokratische Kontrolle durch die Medien in unserem Land nicht mehr. Der Grund: Fast alle wichtigen Akteure (AK, ORF, ÖNB, Statistik Austria, fast alle Zeitungen) im Staat werden von nur mehr einer Partei kontrolliert bzw. stehen dieser nahe.
Das ist für die friedliche Entwicklung unseres Landes – ja ganz Europa – sehr gefährlich. Denn wie in den 1920ern kann eine permanent in Abstiegsangst gehaltene Gesellschaft sehr schnell instabil und unkontrollierbar werden. Darum sollten schleunigst jene zur Räson gebracht werden, die unsere Ängste schüren, um politische Ziele zu erreichen.
[1] Gerd Bosbach, „Lügen mit Zahlen“
[2] Presse, 31.12.2011
[3] “The Long-term Dynamics of European Homicede Rates”, The British Journal of Criminology 41/2001
[4] Neue Energie, 12/2011, S. 85
[5] SN, 22.10.2011
[6] Kleine Zeitung, 19.12.2009
[7] Profil 44, 23.10.2009, S.17