Donnerstag, 21. November 2024
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Europa glaubt an die Verschwörung

Nur Bildung hilft gegen Aberglauben © CC pixabay DariuszSankowski (Ausschnit)

Ob Bürger oder Bauersmann – ob gebildet oder arm: Wie es Bosse und Erfinder anstellen – für viele Europäer geschieht es immer mit dem Vorsatz, sich auf Kosten der Bürger zu bereichern. Der Versuch einer Erklärung.

Reiche, Kapitalisten und Großkonzerne – sie hätten den Wettbewerb erfunden, um Nationalstaaten, Arbeiter und Rohstofflieferanten künstlich gegeneinander auszuspielen. Das sollte Sozialstandards senken und persönliche Profite steigern.

Der Klassiker aus den 1920er Jahren hat nichts von seiner dunklen Strahlkraft eingebüßt. Wer ihn glaubt, wählte vor 100 Jahren sozialistisch, und tut es heute wieder. In den 1930ern war man kurz national-sozialistisch (weil es gegen jüdische Reiche, jüdische Kapitalisten und jüdische Trusts ging). Argumente, wie dass kaum ein westliches Land in Friedenszeiten je Staatsausgaben gekürzt hätte, oder jeder Konsument froh ist, nicht mehr vom DDR-Staatsmonopolisten kaufen zu müssen, prallen ab wie Tropfen von der Fensterscheibe.

Prüfen Sie doch selber nach!

„Lebensmittelindustrie setzt Ablaufdaten künstlich nach vorne“

Damit möglichst viel weggeschmissen wird, was noch in Ordnung ist! Der Gegenbeweis ist simpel: Nehmen Sie an, die Industrie würde die Ablaufdaten etwas nach hinten verschieben und Bürger würden vereinzelt auf verschimmelte Produkte treffen. Der Aufschrei wäre groß und lautete dann: „Die Industrie wollte sogar aus ‚altem Zeugs‘ noch Profit machen!“

„Schule und Uni sind heute viel härter – und nur der Wirtschaft unterworfen“

Abgesehen davon, dass man dies schon vor 50 Jahren behauptete, bekritteln mindestens ebenso viele Bürger, dass man in Schule und Uni heute viel weniger lerne als früher. Dabei ist die Realitätsferne heimischer Gymnasien bzw. die der inflationär wachsenden Sozial-Fakultäten schon sprichwörtlich.

„EZB wird von Weltregierung Goldman Sachs beherrscht!“

In einem großangekündigten ZDF-Beitrag  sollte man die wahren Weltenlenker kennenlernen [1]. Doch bis auf den schwindsüchtigen Vorwurf eines Ex- Mitarbeiters von EZB-Chef Mario Draghi (der vorher eben bei „Goldman Sachs“ war), bei einem Immobilienverkauf hätte man sich auf Kosten des Stromkonzern ENI bereichert, war nichts Greifbares.

Auch das Interview mit Marc Roche, Autor der Arte-Dokumentation „Goldman Sachs – eine Bank lenkt die Welt“ brachte nichts. Außer dem Vorwurf, Goldman Sachs sei ein „gewinnorientiertes Unternehmen“. Da halfen auch keine Schauspieler, die Arte in dunkle Anzüge steckte, mit Golduhren und dicken Zigarren dekorierte und mit verschwommener Linse filmte.

„Computer kosten vielen Menschen ihre Jobs – es profitieren nur wenige US-Konzerne.“

Den Vorwurf gibt es, seit es Innovationen gibt. Die Eisenbahn verbilligte den Transport von Gütern um 80 Prozent – entsprechend viele Kutscher verloren ihre Jobs. Wenige Jahre später hatten sie aber schon wieder neue, denn den Bürgern blieb durch die billigeren Güter mehr vom Lohn – was sie neue Güter kaufen ließ. Neue Jobs entstanden, und das Leben war jetzt billiger.

Andrea S.: „Ärgere mich über Spritpreise, weil sich das alles jemand einsteckt!“

Ihr Gefühl täuscht sie nicht: Aber es sind nicht die bösen Konzerne – sondern ihr Staat. Dieser nimmt 65% des Benzinumsatzes für die Staatskasse, Ölfirmen wie die OMV fahren zurzeit heftige Verluste ein.

Das Gefühl, von Firmen über den Tisch gezogen zu werden, ist der ideologisch einseitigen „Information“ in Kultur, Presse und Politik zuzuschreiben. Oder können Sie sich an einen „Tatort“ erinnern, in dem der Unternehmer nicht profitsüchtig, egoistisch, kalt, grausam und materialistisch gewesen wäre [2]?

„Krebs ist Erfindung der Pharmaindustrie“

In Wahrheit hätten die längst Präparate dagegen. Der Vorwurf ist so alt wie die schmerzliche Erkenntnis, doch nicht ewig leben zu können. In Komplott-gläubigen Gesellschaften ist der Schuldige auch schnell gefunden: Pharmakonzerne. Da stört es auch nicht, wenn deren Chefs selber früh an Krebs verstarben (wie Jochen Hückmann von der Merz AG oder Bayer-Vorstand Helmut Loehr). Wer aber meint, bessere Medikamente billiger herstellen zu können – der soll es einfach tun. Wir wünschen viel Erfolg!

„Autofirma Borgward von „Großen“ in Pleite getrieben“

Angeblich wären die Autos der Konkurrenz meilenweit vorausgewesen. Das hätte einige „Große“ wohl gestört….

Tatsächlich baute Borgward gute Autos – aber viel zu wenige. Zu den besten Zeiten waren es gerade einmal 21.000 Stück im Jahr. Damit kann man nicht überleben. Im Konkursverfahren kamen auch schwere Managementfehler zutage.

Heute gehört das Werk zu Mercedes, die Mitarbeiter verdienen hervorragend. Was ihnen in einer kleinen „Hinterhof-Schrauberei“ nicht vergönnt gewesen wäre.

„0,1 Prozent“

Am prägnantesten fasst es das Paradewerk deutscher „Verschwörungskunst“ zusammen, „0,1 Prozent“. Autor Krysmanski: „Die Geldeliten verselbständigen sich, sie operieren mit Söldnerarmeen, Polizei- und Geheimdiensten. Alles Geld wird zu diesen Milliardären hingezogen. Klimawandel, Ressourcenprobleme, Arbeitslosigkeit – alles steuert auf globale Überlebenskämpfe und neue Klassenkonflikte zu. [3]

Das Werk wäre vor 100 Jahren wahrscheinlich wortgleich publiziert worden – nur hätte man statt von den Geldeliten von den „jüdischen“ Geldeliten gesprochen.

Egal, wie abenteuerlich Geschichten zusammengedichtet werden, für bestimmte Menschen werden sie dann erst so interessant. Dass etwa dem „Kommunisten im Marx´schen Sinne“, Jean Ziegler, in Gerichtsverfahren unzählige Lügen nachgewiesen wurden, scheint seine Anhänger in ihrem Glauben noch zu bestätigen: Hätten die Mächtigen doch offensichtlich sogar Zugriff auf die Rechtsprechung!

Europa braucht eine Aufklärung 2.0. Und eine tiefgreifende Diskussion seines Schul- und Universitätsbetriebes!

 


[1] „Club of 30“, in: „ZDF heute-journal“, 06.12.2012

[2] „Spritpreise treffen die Kleinen“, „auto touring“ 6/2012, S. 65

[3] Rezitation laut „Salzburger Bauer“, August 2014

 

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