Neben der Flüchtlingslawine droht EU-Europa eine weitere Lawine mit zumindest ebenso großen Schäden. Beide Lawinen zusammen könnten Europa in eine lange Periode des Chaos und der Verarmung stürzen, die scheinbar längst vergangen geglaubten Zeiten ähnelt, wie den dunklen Jahrhunderten der Völkerwanderung oder den noch dunkleren Jahrzehnten des Dreißigjährigen Krieges. Solche Schreckensperioden waren beklemmenderweise jeweils auf sehr positive historische Erfolgsepochen gefolgt, wie es ja auch die letzten 70 Jahre gewesen sind.
Die zweite Lawine dürfte durch einen britischen EU-Austritt, einen Brexit, ausgelöst werden. Denn nach einem Abgang der Briten würde auch in anderen Ländern eine ähnliche Austrittsbewegung an Dynamik gewinnen. Die EU-Länder könnten dann wie hintereinander stehende Dominosteine umfallen.
Ein Zerfall der EU würde momentan rein emotional vielen Europäern taugen. Sie sind empört ob der Fehlentwicklung der letzten zehn, zwanzig Jahre, als sich die EU von einer historischen Erfolgsstory zu einem gouvernantenhaften, von Political Correctness besessenen Überregulierungsmonster zu verwandeln begonnen hat. Ein solcher Zerfall würde aber, rational analysiert, zu schweren wirtschaftlichen Schäden mit katastrophalen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und auf das jetzt schon an der Kippe zur Unfinanzierbarkeit stehende Wohlfahrtssystem führen.
Krisenland Frankreich wackelt
Die stärksten Indizien, dass es nach einem Brexit zu einer solchen Lawine kommen dürfte, finden sich ausgerechnet in Frankreich. Dabei war dieses Land lange „das“ geistige Zentrum der europäischen Einigung. In Frankreich haben aber jetzt bei einer Umfrage 53 Prozent gesagt, dass sie ebenfalls ein Referendum nach britischer Art über die eigene EU-Mitgliedschaft haben wollen.
Noch relevanter ist dort der fast unaufhaltsam scheinende Aufstieg der Le-Pen-Partei, die programmatisch von Anfang an ein deutliches Anti-EU-Sentiment hatte. Dieses ist emotional noch dadurch vertieft worden, dass die Abgeordneten des Front National von der Mehrheit im EU-Parlament immer wieder schikaniert und gedemütigt werden. So etwas wirkt nach.
Zugleich wird die Wahrscheinlichkeit eines endgültigen Durchbruchs von Le Pen auch dadurch immer größer, dass die französische Justiz massiv gegen den gemäßigten Konservativen Nicolas Sarkozy vorgeht. Sie nimmt dazu unkorrekt verbuchte Wahlkampfspenden und ähnliche Petitessen zum Anlass. Diese Aktivitäten sind – auch im Timing – eindeutig parteipolitisch motiviert. Die linken Staatsanwälte begreifen nicht, dass sie mit Zerstörung der konservativen Wahlchancen nicht den ja jedenfalls schon total abgewirtschafteten Sozialisten, sondern eben Le Pen helfen.
Zugleich ist in Frankreich die wirtschaftliche Entwicklung sehr schlecht. Viele Franzosen wollen nicht begreifen, dass das vor allem auf eigene Fehler zurückgeht, auf einen viel zu teuren Wohlfahrtsstaat, auf die 35-Stunden-Woche, auf einen lähmenden Kündigungsschutz, auf die totale Reformblockade durch die Gewerkschaften, auf die Unfähigkeit der jetzigen und vieler früherer Regierungen. Sie revoltieren gegen jede vermeintliche Verschlechterung und schieben lieber alle Schuld auf die EU.
Zugleich hat Frankreich ein gewaltiges Immigrations- und Muslimproblem, das manche Regionen in Pariser Vorstädten oder in Südfrankreich zu No-Go-Gebieten verwandelt hat. Nicht nur die Le-Pen-Wähler sehen viel Mitschuld an dieser Entwicklung bei der gutmenschlich-weltfremden Judikatur europäischer Gerichtshöfe, aber auch bei diversen EU-Richtlinien, welche die Rechte der Einwanderer immer mehr gestärkt und die Möglichkeiten einer Abschiebung immer weiter reduziert haben.
Noch ein anderes Indiz lässt daran zweifeln, dass es niemals einen französischen Austritt aus der EU geben wird: Denn schon vor zehn Jahren haben die Franzosen in einem Referendum „Nein“ zu einer europäischen Verfassung gesagt. Diese ist dann freilich in nur wenig abgespeckter Form als „Vertrag“ durch die Hintertür gekommen.
Tschechen und Holländer
Frankreich ist aber keineswegs der einzige Kandidat, der in die britischen Fußstapfen folgen könnte. Vor allem in Tschechien und den Niederlanden sieht man eine ähnlich starke Dynamik. Auch dort wächst der Druck, ein Austritts-Referendum abzuhalten. Und auch dort ist die Massenmigration ein zentrales Thema – obwohl sich diese in den beiden Ländern ganz unterschiedlich niedergeschlagen hat: In den Niederlanden hat es sehr viel Zuwanderung aus nichteuropäischen Ländern gegeben. In Tschechien hingegen fast überhaupt keine. Dort genügen aber schon die negativen Auswirkungen in anderen Ländern als abschreckendes Beispiel.
Auch ökonomisch sind diese beiden Länder total unterschiedlich. Die Niederlande sind ein Nettozahler, Tschechien hingegen profitiert – wie alle exkommunistischen Reformländer – massiv von den Struktur- und Kohäsionstöpfen der EU. Dennoch hat sich da wie dort eine ähnliche Anti-EU-Haltung entwickelt. Deren Realisierung würde wirtschaftlich freilich gerade diesen beiden Ländern besonders schaden. Denn beide haben eine starke Industrie, für die der Freihandel lebenswichtig ist. Allerdings gibt es in jedem Land auch Betriebe, die protektionistisch abgeschirmt profitieren wollen (was einigen auf Kosten der Konsumenten auch durchaus gelingt).
Orban wird zum Hero
Diese drei skizzierten Länder sind nur die Spitze des Eisbergs einer wachsenden Anti-EU-Stimmung in fast allen europäischen Ländern. Überall findet die Haltung des ungarischen Premiers Viktor Orban, der ganz stark die nationale und christlich-abendländische Identität seines Volkes betont, der jede islamische Zuwanderung ablehnt – der aber selbst keinen EU-Austritt ansteuert –, immer mehr Bewunderer und Nachahmer.
Die nationale Identität der einzelnen EU-Länder wird auch deshalb immer relevanter, weil man einer neuen Generation nicht mehr einreden kann, dass die EU entscheidend sei, dass es zu keinen europäischen Kriegen mehr kommt. Sie sieht das Versagen Europas bei außereuropäischen Bedrohungen. Andererseits sind für die heutigen Europäer die innereuropäischen Grenzen völlig klar und im Gegensatz zur gesamten Geschichte unbestritten. Es gibt in Europa abgesehen von Russland keine relevanten Eroberungs- oder Grenzänderungspläne mehr. Lediglich der Zerfall von Zentralstaaten wie Spanien hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit, was aber in anderen Ländern niemanden wirklich tangiert.
Die Renaissance des Begriffs Heimat und der eigenen Identität ist eine logische Reaktion der Menschen einerseits auf die unerwünschte Millionenmigration aus der Dritten Welt und andererseits auf die Entwicklung der Union hin zu einer sich überall einmischenden Tugend- und Vereinheitlichungsgouvernante.
Europa hat keine gemeinsame Erzählung
Diese Renaissance hat noch eine weitere wichtige, vielerorts jedoch nicht beachtete Dimension. Die EU-Europäer haben nicht nur keine gemeinsame Sprache (das haben die Schweizer auch nicht), sondern auch keine gemeinsame Erzählung. Geschichte und damit Identität und damit Heimatbindung sind aber immer das Ergebnis aus solchen gemeinsamen Erzählungen (und davon haben die Schweizer sehr viel).
Wer etwa in Österreich weiß auch nur marginal Bescheid über die portugiesische, die griechische, die polnische oder die schwedische Geschichte? Wer kennt die großen nationalen Mythen und Helden dieser Völker? Nicht einmal in Hinblick auf die unmittelbaren Nachbarländern ist dieses Wissen sonderlich vorhanden.
Das Gemeinsame der Europäer waren vielmehr immer Kriege untereinander und nicht gemeinsame Niederlagen oder Siege.
Das Gemeinsame Europas war die Vielfalt und nicht die Einheit. Aber statt diese Vielfalt als großen Wert zu akzeptieren und sich auf die Förderung des gemeinsamen Wohlstands durch einen Binnenmarkt zu beschränken, hat die Brüsseler Bürokratie in ihrer technokratischen Regulierungsgier begonnen, die Vielfalt zu bekämpfen und die Menschen utopistisch umzuerziehen. Das Ergebnis war aber kein Homo Europaeus, sondern wachsende Ablehnung der EU durch die Europäer.
Diese Ablehnung ist jetzt durch die gewaltig angeschwollene Immigrationslawine dramatisch verstärkt worden und nun ebenfalls zu einer Lawine angewachsen. Diese zwei Lawinen drohen nun auch die eigentlich ungemein positiven Elemente des wirtschaftlichen Binnenmarkts mit sich wegzureißen.
Antideutsche Stimmung
Nicht zu unterschätzen ist auch das antideutsche Element in diesem emotionalen Zerfallsprozess. Diese in vielen früheren Kriegen wurzelnden Emotionen waren eigentlich schon abgeflaut gewesen. Aber seit Angela Merkel angesichts der Schwäche aller anderen (bis auf Orban) als der einzig stark wirkende Chef in Europa dasteht, wachsen sie wieder. Durch die von vielen Europäern abgelehnte, von Merkel aber wider alle Verträge durchgesetzte (teure und wirkungslose) Griechenland-„Rettung“ ist das Wachstum antideutscher Gefühle noch deutlich beschleunigt worden.
Und seit Merkels „Wir schaffen das“ zur Millioneneinwanderung schießen diese Gefühle geradezu in die Höhe: Denn dieser Satz wurde von ihr ohne jede demokratische Zustimmung im Alleingang ausgesprochen. Merkel versuchte aber, mit dem „Wir“ wie ein Diktator alle Europäer einzubinden.
Alles hängt an einem Erfolg Camerons
Diese Lawine des Zerfalls kann jetzt wohl nur noch gestoppt werden, wenn es dem britischen Premier gelingen sollte, das – von ihm selbst in einem riskanten Spiel ausgelöste – Austrittsreferendum zu einem Sieg für den Verbleib zu machen. Viele Indizien deuten aber darauf hin, dass ihm das nicht gelingen dürfte:
• Das Nein-zu-Europa-Übergewicht bei den meisten britischen Meinungsumfragen,
• die aggressive Anti-EU-Agitation der meisten Boulevard-Zeitungen,
• der tiefe europapolitische Spalt quer durch die regierenden Konservativen,
• die Übernahme der Macht in der einst klar proeuropäischen Labour-Party durch einen linksradikalen Europa-Skeptiker.