Wer als Europäer in diesen Tagen in Israel ist, wird vielleicht über eine scheinbar völlig periphäre Beobachtung am meisten verblüfft sein: Bei den diversen Fußballübertragungen der Champions-League freute sich mindestens die Hälfte der zahllosen jungen Menschen vor den öffentlichen Fernsehern lautstark über die deutschen Tore (andere gab es ja kaum).
[[image1]]Das heißt zumindest: Deutschland ist für sie nicht mehr automatisch das böse Feindesland aus lauter Tätern, für das man keine Sympathien haben kann.
Das zeigt aber auch: Die Israelis leben in der Gegenwart und Zukunft. Die Katastrophe des Holocaust ist für die Jungen Vergangenheit, fast gleichweit weg wie die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die alten Römer (an die im heutigen Israel von Staat und Glauben durchaus auch oft erinnert wird). Gegenwarts- und Zukunftsorientierung aber heißen nicht nur Fußballfreude, sondern auch: Leben mit Terrorismus, mit Fanatismus und Kriegsgefahr rundum – aber auch heftiger Zwist über die eigene Zukunft Israels.
Die Summe dieser Gefahren geht auch Europa unmittelbar an – wenngleich dieses wie immer alles Unangenehme verdrängt. Ganze Bücher lassen sich mit einer Analyse der Lage des heutigen Israel füllen. Dennoch kann keines eine problemlose und für alle Seiten positive Lösung des Nahostproblems anbieten. Da tut eine total subjektive und wenn man so will anekdotische Annäherung an den Konflikt und seine Zerlegung in einige – keineswegs umfassende – Einzelbeobachtungen vielleicht gut.
Luftangriffe und Zusammenleben
Fast jede solcher Beobachtungen ist eine der Diskrepanzen. Eine davon ist in diesen Tagen die Gleichzeitigkeit heftiger israelischer Luftangriffe auf Syrien mit dem – anscheinend oder scheinbar – friedlichen Nebeneinander von Moslems und Juden in Israel wie auch auf der Westbank. Trotz der Luftangriffe vermeidet Israel zugleich erstaunlicherweise alles, um im Konflikt irgendwie Partei zu ergreifen, denn man weiß eigentlich selbst nicht, ob der Iran-Alliierte Assad oder die stark fundamentalistisch geprägten Gegner die Gefährlicheren sind.
Zu diesem Nebeneinander kommen noch die Christen, in diesen Tagen besonders zahlreich. Sie reichen von den Scharen amerikanischer Baptisten, die zur Volltaufe im Jordan Schlange stehen, bis zu den insbesondere rund um das soeben stattgefundene orthodoxe Osterfest unüberschaubaren Massen aus Osteuropa. Nirgendwo mischen sich Weltreligionen mit derartigen Intensität und Glaubenskraft und erwecken den Eindruck, den von allen propagierten Frieden zwar ernst zu meinen – aber zugleich die anderen Religionen eigentlich nicht zur Kenntnis zu nehmen (es sei denn, man ist Fremdenführer oder Souvenirverkäufer).
In den Straßen Israels mischen sich jedenfalls die sonstigen Todfeinde offenbar problemlos. Da gehen streng moslemisch gekleidete Frauen und ihre Männer ebenso wie liberale oder orthodoxe Juden, ohne dass man merken würde, dass hier die explosivste Konfliktfront der Welt auf Tuchfühlung geht. Problemlos toleriert Israel auch antiisraelische Plakate der palästinensischen Kommunisten oder großformatige islamische Warnungen an alle Ungläubigen, dass sie in die Hölle kämen. Auch wenn davon viel nur Oberfläche sein mag: In Israel findet man jedenfalls Toleranz wie nur in einer kleinen Minderheit der Staatengemeinschaft (ich würde jedenfalls niemandem empfehlen, in irgendeinem moslemischen Staat Warnungen vor dem Islam zu plakatieren).
Hinter der Mauer eine andere Welt
Und dennoch spürt man da und dort die darunterliegende Spannung. Die zeigt sich etwa an Sicherheitskontrollen am Eingang zu Kaufhäusern. Die zeigt sich etwa an der hässlichen Betonmauer, die Israel zu seinem Schutz von Nord bis Süd errichtet hat. Zwar kann man sie nach meist eher harmlosen Kontrollen passieren. Aber auf der anderen Seite dominieren plötzlich Auto-Nummernschilder, von denen man in Israel zuvor kein einziges gesehen hat. Im Westen gibt es nur „gelbe“ Tafeln, im Osten fast nur weiße. Araber dürfen aus Sicherheitsgründen nie mit Autos nach Israel kommen. Alleine dies zeigt, dass hier zwei weit voneinander entfernte Welten nebeneinanderliegen.
Unerquicklich? Gewiss. Aber zugleich muss man wissen: Seit die Mauer steht – freilich nicht entlang der früheren israelischen Grenze, sondern zum Teil tief auf dem Gebiet der Westbank –, hat es in Israel fast keinen der früher so häufigen Terroranschläge gegeben. Man fühlt sich beim Flanieren in Straßen Jerusalems oder anderer Städte heute mindestens so sicher wie bei einem Marathon in Boston. Würden da nicht bisweilen einige junge Männer mit einer automatischen Waffe am Nebentisch sitzen – Soldaten beim abendlichen Ausgang – und würde man nicht Zeitung lesen, könnte man fast vergessen, in der explosivsten Region der Welt zu sein.
Kinder kriegen als nationale Pflicht
Die nahöstlichen Realitäten zeigen sich auch an ganz anderen Stellen: etwa an den Geburtenzahlen. Aus dem altgewordenen Europa kommend, stößt man in Israel auf ein blutjunges Land. Zahlreiche Kinder zu kriegen ist für ein Volk, dessen Auslöschung vor 70 Jahren beschlossene Sache gewesen ist, eine natürliche Selbstverständlichkeit, ja eine nationale Pflicht, jedenfalls eine Strategie der Selbsterhaltung. Das zeigen auch die Zahlen: Die Österreicher sind heute im Durchschnitt 43 Jahre alt, die Israelis hingegen 29.
Alles klar? Nicht ganz, denn Jugend allein wird Israel nicht retten. Ist doch die arabische Umgebung ebenso jung wie Israel oder sogar noch viel jünger. Demographisch kann Israel im Konflikt mit seiner bedrohlichen Umgebung also nur mithalten, nicht die Überhand gewinnen.
Und noch ein Einwand: Die kinderreichste und damit am schnellsten wachsende Gruppe in Israel sind die Orthodoxen. Bei ihnen hat – im Schnitt! – jede Familie über sieben Kinder. Aber gerade die Söhne der Orthodoxen absolvieren in der Regel nicht den für israel überlebenswichtigen Militärdienst. Denn Thora-Studenten sind von diesem befreit. Streng orthodox zu sein, heißt nämlich im Grund, sich ganz dem Studium der heiligen Schriften zu widmen. Damit ist fast jeder junge Orthodoxe ein Thora-Student.
Das wird aber langsam für die Mitbürger untragbar; denn schon zehn Prozent der israelischen Jugendlichen entkommen solcherart dem Militär. Was die anderen hörbar erzürnt. Die Politik versucht zwar zunehmend intensiver, das zu ändern, hat es aber bisher nicht geschafft. Dazu ist die Parteienlandschaft zu zerstritten. Dazu sind die Stimmen der Orthodoxen an der Wahlurne schon viel zu gewichtig.
Gekommen, um zu bleiben
Ähnlich ist es mit dem Stimmgewicht der nationalistischen Siedler. Sie leben auf der palästinensischen Westbank in mit Stacheldraht umgebenen Siedlungen, meist nachdem sie das Land Arabern abgekauft haben. Sie sind wohl das härteste Problem am Weg zu einer friedlichen Lösung. Längst ist es politisch absolut undenkbar geworden, dass Israel einen Abriss der Siedlungen akzeptieren würde. Selbst ein Stopp des weiteren Ausbaus ist von Israel immer nur kurzfristig zugestanden worden.
Auch der oft vorgeschlagene Gebietstausch ist nur auf dem Papier ein tauglicher Kompromiss. Denn abgesehen davon, dass Israel auf Dauer die Jordangrenze zu Jordanien kontrollieren will, bliebe dann für die Palästinenser nur ein Fleckerlteppich, der eher die Karikatur eines Staates wäre.
Im Grund ist es völlig klar: Viele Israelis sind auf die Westbank gekommen, um zu bleiben und am Ende die ganze Westbank unter Kontrolle zu bekommen. Die dortigen Araber sind aber keinesfalls willens zu gehen.
Zu viele Hypotheken für ein kleines Land
Das ist eine unlösbare Differenz. Damit ist aber der Hypotheken auf der Zukunft des (allzu vielen Religionen) Heiligen Landes noch lange kein Ende.
• Dazu kommt etwa auch die tiefe Spaltung zwischen den Juden europäischer Herkunft, jenen orientalischer Herkunft und in den letzten Jahren insbesondere jenen osteuropäischer Herkunft (Diese Kluft ist derzeit gerade an einem heftigen israelweiten Streit ablesebar, welche Persönlichkeiten neue Schekel-Noten zieren sollen: Dieser Streit lässt im Vergleich sogar die Euro-Europäer als geradezu einträchtig erscheinen).
• Dazu kommt die verständliche Sorge der Israelis vor einer Atombombe in den Händen des Iran, eines unberechenbaren Landes, das immer wieder von fanatisierten islamistischen Emotionen dominiert wird.
• Dazu kommt das fast komplette Umschlagen der anfangs liberal wirkenden arabischen Revolutionen in totales Chaos und die Dominanz atavistischer Dogmatiker.
• Dazu kommt die Enttäuschung in Israel über die Entwicklung im Gazastreifen nach dem freiwilligen und kompletten Abzug der israelischen Armee und Siedler. Denn der Judenstaat wird von dort immer wieder so intensiv beschossen wie von sonst keiner Seite. Der Abzug ist für die Palästinenser keine Friedensgeste der Israelis, sondern ihr eigener Triumph.
• Dazu kommt die Herrschaft der von besonderer Aggressivität geprägten Hisbollah im Südlibanon. Die Verschiebung moderner Waffen aus syrischen Beständen zur Hisbollah ist ja exakt der Anlass der gegenwärtigen israelischen Luftangriffe auf Syrien.
Ist mit diesen Arabern Friede überhaupt möglich?
Aus vielen solchen Aspekten formt sich die in den letzten Jahren stark gewachsene israelische Überzeugung: Mit diesen Arabern ist ohnedies ein verlässlicher Friede undenkbar; Konzessionen bringen nichts; wir können nur mit der eigenen, also vor allem militärischer Stärke überleben.
Aus diesem Grund hat Israel auch die jüngsten arabischen Vorschläge eines Gebietstausches mit den Westbank-Palästinensern abgelehnt. Das schafft insbesondere in Europa Enttäuschung. Freilich haben die Israelis ein starkes Argument für ihre Ablehnung: solange die Gegenseite nicht den Judenstaat als solchen anerkennt, gibt es keinen Grund zu eigenen Konzessionen. Die Gegenseite ist aber emotional noch in den 40er Jahren und sieht eigentlich keinen Grund, dass in lange rein islamisch kontrollierten Gebieten nun ein Judenstaat besteht.
Für die Israelis inzwischen viel wichtiger als die Emotionen der Araber sind ihre erstaunlichen Fortschritte im Energiesektor: Denn gewaltige Gasfunde vor der israelischen Küste sind dabei, das von seiner Nachbarschaft isolierte Land energiemäßig autark zu machen. Und Energie und Wasser sind ja die beiden entscheidenden Rohstoffe für fast jedes Land.
Nie wieder Masada
Zugleich ist man immer wieder beeindruckt über die emotionale Stärke des „Nie wieder!“ unter den Israelis. Zwar ist natürlich auch der Holocaust ein Teil des „Nie wieder!“, aber für den Mitteleuropäer ist es schon sehr erstaunlich, dass ebenso auch die gesamte Geschichte der Juden emotional präsent und von diesem „Nie wieder!“ getragen ist. So werden israelische Soldaten gerne auf der (eigentlich in der Westbank liegenden) Bergfestung Masada angelobt, wo im ersten Jahrhundert rund Tausend Juden monatelang den anstürmenden römischen Legionen als letzter Rest des alten jüdischen Volkes standhielten, bis sie sich schließlich in den Freitod flüchteten, nachdem ihre militärische Lage unhaltbar geworden war. Nur wer den darauf Bezug nehmenden Ruf „Masada darf nie wieder fallen!“ versteht, versteht die heutige Identität Israels.
Insgeheim fragt man sich, wie viele europäische Politiker verstehen Israel wirklich ganz (soweit irgendein Volk überhaupt „ganz“ zu verstehen ist)? Denn auf Schritt und Tritt wird einem im Nahen Osten klar: Eigentlich zählt Europa im Nahen Osten nichts. Höchstens Deutschland, Großbritannien und Frankreich werden von Israelis und Arabern registriert, die angeblich gemeinsame EU-Außenpolitik und die restlichen EU-Länder sind ebensolche Marginalien wie etwa auch die UNO.
Mitzureden hat nur, wer auch spürbare militärische Relevanz hat. Und die haben am Ende einzig und allein die Amerikaner und der eigene Kampfeswillen. Gute oder schlechte Ezzes aus Europa hingegen haben ungefähr den Wert des Salzes aus dem Toten Meer, also vom tiefsten und daher versalzensten Punkt der Erdoberfläche, der sich bezeichnenderweise zwischen Israel und der arabischen Welt befindet.
Europa hat in dem Konflikt, der für seinen Frieden zweifellos der weitaus gefährlichste ist, praktisch nichts mitzureden. Eine ernüchternde Bilanz.
Bild: www.flickr.com/photos/sugarmeloncom/