Knapp vor der Fußball-Europameisterschaft ist der absolut ideale Zeitpunkt: Nie ist die Erpressungsmacht von Gewerkschaften größer als zu einem solchen Zeitpunkt. Nie ist es leichter, eine ohnedies schwache und schwankende Regierung unter Druck zu setzen. Das haben wir ja auch schon vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft in Brasilien gesehen.
Aber in Brasilien war und ist die Rolle des Fußballs so dominierend, dass dann zumindest während der Spiele wider alle Prophezeiungen Ruhe und Konzentration auf den Sport einkehren konnten (was freilich nichts daran geändert hat, dass die Spiele für das brasilianische Team mit einem Debakel geendet haben). Ob das in Frankreich auch so sein wird, ist hingegen eher ungewiss. Noch dazu, wo das Land angesichts des islamistischen Terrors und der in Europa besonders großen Hooligan-Massen während der Spiele ohnedies bis zum letzten angespannt sein wird.
Das alles wissen die in Frankreich ohnedies immer besonders radikalen und gewaltfreudigen Gewerkschaften. Sie werden daher bis zum letzten gegen die geplante Arbeitsmarktreform der Regierung kämpfen. Mit Streiks, mit Demonstrationen, mit Blockaden.
Dieser Kampf wird psychologisch noch dadurch intensiviert, dass die regierenden Sozialisten alles andere als wild entschlossen scheinen, die Reform auch wirklich mit Punkt und Beistrich durchzuziehen. Hat die Regierung doch schon einige Punkte zurückgezogen und sich auch bei den anderen verhandlungsbereit erklärt, obwohl der verbliebene Rest keineswegs mehr dramatisch ist. Das stachelt logischerweise die Gewerkschaften jetzt zusätzlich an. Sie werden wohl erst aufgeben, wenn sie komplett gesiegt haben – oder wenn die Regierung ihre Pläne trotz der zum Teil wilden Aktionen realisiert hat.
Umso dümmer ist es von der Regierung gewesen, sich mit der endgültigen Fixierung der Arbeitsmarktreform bis zur Periode der Fußball-Spiele Zeit zu lassen, wo sie so verwundbar ist. Diese Reform hätte nach allen Regeln der politischen Taktik längst vorher beschlossen werden müssen. In der Sache kann es freilich keine Zweifel geben, dass diese Reform und einige weitere darüber hinausgehende notwendig sind. Denn:
1. Frankreich ist ein wirtschaftlich im Europavergleich besonders kritisch dastehendes Land.
2. Es ist noch dazu nicht wie Griechenland eines der kleinen EU-Mitglieder, dessen Last Deutschland&Co gleichsam nebenbei schultern könnten. Es ist vielmehr das zweitwichtigste Land Europas (das sich selbst sogar für das wichtigste hält).
3. Alljährliche Defizite zwischen 3 und 4 Prozent widersprechen sämtlichen Pflichten und Verpflichtungen.
4. Die Staatsverschuldung schrammt ganz knapp an der Dreistelligkeit.
5. Der Außenhandel ist defizitär.
6. Die Arbeitslosigkeit über zehn Prozent.
7. Viele europäische Wirtschaftsexperten machen sich aus der Summe dieser Gründe um Frankreich mehr Sorgen als um jedes andere EU-Land.
Die Schwierigkeiten für Frankreich sind ganz ähnlich zu vielen anderen EU-Staaten. Der immer gleiche Kern: Der Sozial- und Wohlfahrtsstaat ist viel zu teuer ausgebaut worden, als dass er noch finanzierbar wäre, als dass unter seinen Rahmenbedingungen jemals wieder ausreichendes Wachstum entstehen könnte, welches die Arbeitslosigkeit und die ständige Neuverschuldung endlich wieder reduzieren könnte. Deshalb kann keine Sanierung ohne Einschnitte ins Sozial- und Wohlfahrtssystem gelingen.
Solche Einschnitte aber treffen die Gewerkschaften ins Herz. Haben diese doch lange geglaubt, jeder Ausbau dieses Sozialsystems wäre eine irreversible historische Errungenschaft und absolut gerechtfertigt. Daher kämpfen sie fast logischerweise in allen Staaten gegen eine Beschneidung der Arbeitnehmerrechte, auch wenn hohe Arbeitslosigkeit und dauerhafte Krisen die Folgen sind.
In einigen Staaten ist freilich der ökonomischen Vernunft ein Erfolg gegen das rigide Gewerkschaftssystem gelungen. Die wichtigsten Beispiele maroder Länder, denen wenigstens eine Teilsanierung und Zurückdrängung der Gewerkschaften gelungen ist:
• Am frühesten und erfolgreichsten hat das Großbritannien unter Margaret Thatcher geschafft; die damaligen Reformen wurden dann auch von der Labour-Regierung Blair voll übernommen.
• In Schweden und Finnland ist – unter Mitwirkung der Sozialdemokraten! – das am stärksten ausgebaute Wohlfahrtssystem der Welt beschnitten worden. Die Schweden gehen heute beispielsweise um vier Jahre später in Pension als die Österreicher; sie haben allerdings inzwischen durch die große Massenzuwanderung aus der Dritten Welt wieder einen Rückschlag erlitten.
• Deutschland hat mit der Agenda 2010 eine sensationelle Wiederbelebung geschafft. Das hat freilich zur Abspaltung der „Linken“ von der SPD und für diese zu einer Serie von Niederlagen geführt (dieses deutsche Beispiel wird jetzt freilich in vielen anderen Sozialdemokratien als abschreckendes Beispiel gesehen, das sie sehr zögerlich beim Reformieren sein lässt).
• In Portugal und Spanien haben konservative Regierungen eine zwar keineswegs vollständige, aber doch teilweise Sanierung aus der Krise geschafft, sodass die Zahlen in die richtige Richtung gehen. Eine neue portugiesische Linksregierung will jetzt allerdings einen Teil der Reformen wieder zurückdrehen. Und in Spanien sorgen Neuwahlserien, Korruption und Sezessions-Debatten für etliche Fragezeichen.
• In Italien sind der Linksregierung Renzi zumindest einige Reformen gelungen, die aber noch nicht ausreichen und die jetzt auch durch die Massenmigration beeinträchtigt werden.
• Die größten Erfolgsbeispiele in jüngster Zeit sind Irland und Island, die durch beinharte Sanierung einen sehr raschen Wiederaufschwung aus der Krise 2008 geschafft haben. Irland ist heute schon wieder „der“ Modellfall in Europa.
In Österreich allerdings herrscht seit zehn Jahren Stillstand. Hier war im Gegenteil die Regierung der letzten acht Jahre ein verlängerter und gehorsamer Arm der Gewerkschaften – eine in ganz Europa einmalige Situation. Wie in Frankreich deutet Vieles darauf hin, dass auch hier erst bei einem großen Crash à la Griechenland die Bereitschaft und Kraft zu Reformen und Einschnitten ins Sozial- oder Arbeitsrechtssystem wachsen werden.
Während Österreichs Hauptproblem – die hohen Pensionen und vor allem das niedrige Pensionsantrittsalter – überhaupt noch nicht ernsthaft angegangen werden, versucht Frankreich wenigstens jetzt erste zaghafte Schritte bei seinem eigenen zentralen Problem. Das ist der völlig rigide Arbeitsmarkt, der dazu geführt hat, dass Arbeitgeber immer seltener neue Arbeitskräfte einstellen, weil sie fürchten müssen, diese nie wieder loszuwerden.
Freilich ist der in Frankreich geplante Katalog zwar durchaus sinnvoll, aber noch völlig unzureichend. Er kann daher gewiss nicht einen dramatischen Boom auslösen:
• Die Unternehmen sollen direkt mit den Betriebsräten – also unter Ausschaltung der Gewerkschaften – in Arbeitszeitfragen flexiblere Vereinbarungen treffen können, die stärker auf die Auftragslage eingehen.
• Die Höhe der Zuschläge für Überstunden kann betriebsintern ausgehandelt werden (wenngleich an der von vielen Experten kritisierten 35-Stunden-Woche weiterhin nicht gerüttelt wird).
• Betriebe können etwas leichter aus wirtschaftlichen Gründen Kündigungen aussprechen, etwa wenn sie einen Rückgang des Umsatzes nachweisen können (aber sie haben eben nicht das Recht, weitgehend auch ohne Begründung zu kündigen wie etwa in Österreich).
Man sieht: Es sind in Wahrheit minimale Reformen, die dennoch eine so große Mobilisierung auslösen. Freilich: Es gibt kein europäisches Volk, das in den letzten 250 Jahren so oft und so aggressiv auf die Straße gegangen ist wie die Franzosen.