Wie in jeder Industrialisierungsphase hat sich auch in China die Kluft vergrößert, weil Millionen Menschen aufgestiegen sind. Im Kommunismus waren alle gleich – arm – gewesen. Eine Betrachtung abseits des Mainstreams.
[[image1]]Dass die Kluft zwischen Arm und Reich etwa in China auseinander geht, treibt Globalisierungskritikern die Zornesröte ins Gesicht. Der Aufschwung durch Kapitalismus, Profitstreben und Globalisierung käme nur einer Minderheit zugute, so die veröffentlichte Meinung.
Tatsächlich lag die Spreizung der Einkommen während des Kommunismus nur bei etwa 1:3. Allerdings lebten damals 52% in bitterster Armut, mindestens 30 Millionen Menschen waren verhungert. Und 12 Millionen wurden getötet, weil man ihnen profitorientiertes Verhalten vorwarf.
Kluft stieg mit Wohlstand
Tatsächlich ist die Kluft mit der Liberalisierung und Öffnung der chinesischen Staatswirtschaft 1979 angewachsen. Aber nur, weil ein Drittel der Gesellschaft aufgestiegen ist – aber eben noch nicht alle. Gelang es einem „ehrgeizigen“ Chinesen nach der Wende 1980, etwa mit einfachsten Nähmaschinen Stirnbänder zu produzieren und für 100.000 Dollar jährlich an Amerikaner zu verkaufen (1978 hätte man ihn noch als „kapitalistisch“ und „gierig“ verfolgt), kassierte die staatliche „Bank of China“[1] zwar die 100.000 Dollar des amerikanischen Importeurs ein (daher auch die unvorstellbaren Devisenreserven Chinas). Sie druckte dafür aber 600.000 neue, zusätzliche Renmimbi Yuan und überwies diese an den chinesischen Exporteur der Stirnbänder. Damit bezahlte der seine Lieferanten und die fünf neuen Mitarbeiter, die früher als Tagelöhner hungerten.
Eine Gesellschaft hatte nun mehr Geld, mehr Steuereinnahmen, mehr Güter. Lieferanten haben Aufträge und Arbeitslose ihre ersten Jobs. Und ohne, dass auch nur irgendwer ärmer werden musste. Der Unternehmer verdiente nun möglicherweise das 10fache seiner Arbeiter, aber fünf von ihnen das Doppelte von früher – oder überhaupt zum ersten Mal etwas.
Hätte man den fünf Tagelöhnern aber ihren Aufstieg verwehren sollen – nur um zu verhindern, dass der mutiger Erfinder/Unternehmer nun nicht das 10fache seiner neuen Mitarbeiter verdient? Marxisten sagen ja, Marktliberale nein.
Die Veränderung der chinesischen Gesellschaft
Wenn man Chinas Bürger in vier große Blöcke einteilt („clustert“), so lebten 1979 52% in „bitterster Armut“. Sie verdienten weniger als 20 Dollar im Monat – so sie überhaupt Arbeit hatten. Für sie waren Hunger und schlechte Ernährung eine reale Bedrohung. 30 Jahre später galt dies nur noch für 6%. Eine Leistung, die alle NGOs dieser Welt nicht zu vollbringen imstande gewesen wären.
„Arm“ waren 1979 33%, weil sie weniger als 35 Dollar verdienten (2009 weniger als 60 Dollar). 30 Jahre später war dieser Anteil auf 29% gesunken: Hunderten Millionen war der Sprung aus „bitterster Armut“ (eine Stufe höher) gelungen, unzähligen Millionen der Sprung von den „Armen“ in Chinas neue „Mitte“.
Zu marxistischen Zeiten war die „Mitte“ – bis auf einige Werksleiter oder Funktionär – quasi nicht vorhanden gewesen (5%), heute umfasst sie über die Hälfte der Gesellschaft. Sie lebt in menschenwürdigen Behausungen, sie verfügen über Kühlschrank und TV, können ihre Wohnungen heizen und sich gut ernähren. Sie sind mobil (Moped oder Auto) und kann sogar verreisen.
„Tüchtig“ statt „gierig“?
Am meisten profitieren beim Abbau von Markt-Schranken immer die Talentiertesten und Mutigsten. Bis zu 10% der chinesischen Bevölkerung zählen schon zu den „Neu-Reichen“.
Sie leben in der eigenen Immobilie, fahren Auto und schicken ihre Kinder auf`s „MIT“[2]. Aber jeder Yuan, den sie ihr eigen nennen, hat ihrem Land ein Vielfaches in Form von Firmen-Umsätzen, Bruttoinlandsprodukt, Steuern, Jobs und Devisen eingebracht. Sollte man ihnen vielleicht Respekt zollen, anstatt sie zu verfluchen? Manch eine Gesellschaft wäre froh, wenn sie so viele tüchtige Bürger hätte.
Spannungen gesunken
Es stimmt, der Kapitalismus hat zu Ungleichheit geführt – weil die Menschen eben auch ungleich sind. Aber die sozialen Spannungen sind heute um ein Vielfaches geringer als zu Zeiten des großen Hungers oder gar der Kulturrevolution, als ein aufgestachelter Mob alles vernichtete, was nach Eigenwohl und Ehrgeiz roch.
Tatsächliche sind mit dem Wechsel zur kapitalistischen Produktionsweise auch große Konzerne entstanden. Sie haben aber nicht zu Demokratie-Abbau geführt. Im Gegenteil: Sie konkurrieren international mit US-Firmen, was deren sinkender Anteil am Welt-Volkseinkommen beweist.
Und es ist der Wohlstand aus der Globalisierung, der Chinas Bürger 1989 erste demokratische Freiheiten fordern ließ.
Alternative Armut?
Die Globalisierung begann an den Küsten („Container-Seehäfen“). Im Hinterland gibt es aber immer noch Menschen, die wie früher von 20, 30 Dollar hausen. Somit ist die Kluft innerhalb des Landes riesengroß. Im neuen Bosch-Werk in Wuxi verdienen Facharbeiter 600 Dollar – das 30fache von Hinterland-Chinesen[3]. Sollte man aber jetzt das Werk schließen, nur damit sich die Kluft nicht weiter vergrößert? Hätte man überhaupt 600 Millionen Menschen den Aufstieg verwehren sollen, nur damit sich die anderen nicht Leid sehen?
In einem Land, in dem die Reallöhne jährlich oft um 10% und mehr steigen, haben die „Noch-nicht-Aufgestiegenen“ aber immerhin die Hoffnung, auch bald zu den Aufsteigern zu gehören. Und solange Europas Berufspessimisten ihre Ängste bloß hierzulande verbreiten, braucht es die Chinesen auch nicht weiter zu kümmern.
[1] Die „Bank of China“ ist die staatliche Nationalbank Chinas. Sie steuert Geldmenge und Devisenverkehr zwischen den inländischen und ausländischen Instituten.
[2] Massachusetts Institute of Technology
[3] 4000 Chinesen arbeiten für Bosch in Wuxi. Ungelernte Arbeiter verdienen mindestens 300 Dollar, Facharbeiter mindestens 600 Dollar. Stuttgarter Nachrichten online, 22.4. 2010
Bild: Jerzy Sawluk / pixelio.de/ © www.pixelio.de