Die Beziehungen zwischen Großbritannien und Europa, im speziellen mit der EU, sind schon lange ein Wechselbad der Gefühle. Mit dem Brexit wird kein Schlusspunkt gesetzt.
Freitag abends wird die britische Flagge vor allen EU-Gebäuden eingezogen und im Vereinigten Königreich werden die Brexit-Befürworter den EU-Austritt feiern, als würde ein neues Zeitalter anbrechen. Ob dem wirklich so ist, werden die nächsten Monate und Jahre erst zeigen. In Brüssel selbst gibt der Brexit, wiewohl man von dem politischen Hin und Her der letzten zwei Jahre schon sehr genervt war, durchaus auch Anlass für Kopfzerbrechen. Immerhin verliert man zunächst einen Nettozahler, wenngleich auch mit vielen Rabatten und Sonderregelungen. Weiters einen Eckpfeiler des europäischen Verteidigungssystems, der allerdings weiter mit der EU über die NATO eng verbunden ist. Spannend freilich wird, wie sich London ökonomisch positioniert. Lehnt man sich stärker an Donald Trump an oder sucht man ein Modell als Finanzplatz nach dem Modell Singapur, das eine besondere Herausforderung für Europa wäre.
Industrielle Entwicklung nahm von GB seinen Anfang
Wie auch immer, ein Blick in die Geschichte macht das ambivalente Verhältnis zwischen dem Inselstaat und dem Kontinent deutlich. Wenngleich vom Festland durch den sogenannten Ärmelkanal getrennt, nahm Großbritannien viel Einfluss auf die Entwicklung in Europa. So etwa im 19. Jahrhundert, als die industrielle Entwicklung hier ihren Ausgang nahm und schließlich in Europa zur bewegenden Kraft wurde, die auch die gesellschaftliche Entwicklung maßgeblich beeinflusste. Nicht zu vergessen das parlamentarische System, das lange Zeit Vorbildcharakter hatte, während der Brexit-Debatte aber auch aufmerksam machte, dass Reformbedarf angesagt ist, will man zu Entscheidungen kommen.
Churchill schlug Vereinigte Staaten von Europa vor
Die heutige EU verdankt vielen historischen Entwicklungen ihre Existenz. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg artikulierte Richard Coudenhove-Kalergi mit der Schaffung einer Paneuropa-Union die Sehnsucht nach einem Friedensmodell. Dem aber letztlich kein Gehör geschenkt wurde. Erst nach den schrecklichen Erlebnissen des Zweiten Weltkrieges setzte eine Entwicklung ein, die letztlich dazu führte, dass aus Europa, dem Kontinent der Kriege ein Kontinent des Friedens wurde, was auch zu dessen Wohlstand und Anziehungskraft führte. Es war der Brite und konservative Politiker Winston Churchill, der 1946, damals nur noch Oppositionsführer, im September 1946 eine Vision äußert: „Wir müssen so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa schaffen“. Allerdings ohne Großbritannien, das sich damals aufgrund des Commonwealth (das 53 Staaten von Australien bis Kanada umfasste) als Großmacht sah und gemeinsam mit den USA gewissermaßen als eine Schutzmacht sah.
Beim Europarat war London noch von Anfang an dabei
Konsequenterweise gehörte Großbritannien auch zu jenen 10 Staaten, die im Mai 1949 den Europarat schufen. Churchill hatte sich übrigens bereits 1946 auch für die Schaffung einer europäischen Armee ausgesprochen. Und hier beginnt ein Knackpunkt für das sich schwierig gestaltende Verhältnis zwischen London und dem Rest des westlichen Europas (der Kontinent war mittlerweile, versinnbildlicht durch den Eisernen Vorhang in zwei Welten geteilt). Die Realisierung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft scheiterte übrigens am Veto der französischen Nationalversammlung gegen das Vereinigte Königreich. Die Spannungen zwischen London und Paris führten dazu, dass 1951 der britische Premierminister Clement Attlee, ein Sozialdemokrat, zu einer Mitgliedschaft seines Landes in der Montanunion, immerhin der Wiege der Europäischen Vereinigung, Nein sagte.
Frankreichs Veto lässt London von der EWG Abstand nehmen
Auch 1957 als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG als Weiterentwicklung der Montanunion gegründet wurde, war Großbritannien nicht dabei. Sehr rasch freilich erkannten die britischen Politiker, dass die EWG dabei ist, sich zu einem starken wirtschaftlichen Faktor zu entwickeln. Und dem etwas entgegengesetzt werden müsste, um nicht an wirtschaftlicher Potenz und damit Einfluss zu verlieren. Also veranlasste der nunmehrige Premier Harold Macmillan, diesmal wieder ein Konservativer, die Schaffung einer Freihandelszone in Form der Europäischen Freihandelszone EFTA. In ihr versammelten sich insgesamt zehn europäische Staaten, die der EWG nicht beitreten wollten oder konnten. Dazu gehörte auch Österreich, das aufgrund seines neutralen Staates und dem Njet der Staatsvertragsmacht Sowjetunion nicht beitreten durfte, weil Moskau in der EWG einen politischen Kontrahenten zum eigenen kommunistischen Herrschaftsbereich sah.
EFTA war kein Gegengewicht zur EG
Die EFTA war freilich nicht imstande, der EWG auch nur das Wasser abzugraben. Also wurden schließlich Annäherungsversuche von London gestartet. Dieses Liebeswerben um einen Über- und Beitritt wurde freilich vom französischen Präsidenten Charles de Gaulle die kalte Schulter gezeigt. Erst unter dessen Nachfolger Georges Pompidou setzte ein Tauwetter ein, sodass 1973 Großbritannien Mitglied der EWG werden konnte – ein schwerer Aderlass für die EFTA. Nach all dem was da seit Beginn der 1950er Jahre vorgefallen, wurde aus der Mitgliedschaft keine Herzensbeziehung. Auch nach ihrem Beitritt zur Brüsseler Gemeinschaft blieben die Briten voller Vorbehalte. Der Labourpolitiker und Premier Harold Wilson drohte bereits nach zwei Jahren mit Neuverhandlung und veranstaltete 1975 eine erste Volksabstimmung über Englands Verbleib. Damals allerdings stimmten 67 Prozent für einen Verbleib im westeuropäischen Wirtschaftsbündnis.
Großbritannien spielte eine Sonderrolle in der EU
Wissend dass Großbritannien einen Eckpfeiler der mittlerweile von der EWG zur EG umbenannten Europäischen Gemeinschaft bildet, forderten die nachfolgenden britischen Regierungschefs einen entsprechenden Tribut. So presste die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher („I want my money back“) der EU ständig neue Sonderrabatte ab. Auch ihr konservativer Nachfolger John Major und der Sozialdemokrat Tony Blair (die politische Couleur spielte nie eine Rolle) setzten eine Reihe von egoistischen opt-outs durch. Weder bei Schengen noch beim Euro machte London mit. Und auch was die gemeinsame Außenpolitik betraf, erwies sich das Vereinigte Königreich oftmals als Hemmschuh. So als 1990 der Zerfall Jugoslawiens begann, man lange Zeit dem serbischen Präsidenten Milosevic den Rücken stärkte anstatt ihn in die Schranken zu weisen und so dem Bürgerkrieg am Balkan ein Ende zu setzen. Auch dass bis dato den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei kein Ende gesetzt wurde, ist das „Verdienst“ der auf Downing Street 10 agierenden Politiker.
Die Fehleinschätzung Camerons führte zum Brexit
Es war dann wieder der konservative Regierungschef David Cameron, der unter der Fehleinschätzung sich Rückenstärkung für seine pro-europäische Politik zu verschaffen, 2016 das Referendum veranlasste, bei dem sich 51,9 Prozent gegen und 48,1 Prozent für den Verbleib in der EU entschieden. In diesem Zusammenhang muss freilich der EU-Führung unter Jean Claude Juncker eine gewisse Schuld angelastet werden, weil sie es verabsäumt hatte, durch eine eigene Kampagne die britischen Bürger von den Vorteilen eines gemeinsamen Europas zu überzeugen. Dass sich zuletzt Labourführer Jeremy Corbyn herum lavierte und sich nicht durchringen konnte, sich klar gegen den Brexit und für ein neuerliches Referendum stark zu machen, ist nur der vorläufige Schlusspunkt eines Scheidungsprozesses. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Großbritannien wieder ein Naheverhältnis mit der EU suchen wird. Schließlich muss noch ein neues Vertragsverhältnis über geregelte Wirtschaftsbeziehungen mit Brüssel geschlossen werden.
Eine Zukunft mit vielen Fragezeichen
Es ist aber sicherlich zu einfach, wenn jetzt manche Kontinentaleuropäer motzen und meinen, „die Briten werden nicht wirklich Europäer werden. Gut, dass diese Ehe nun ein Ende hat“. Europa hat auch viel dem britischen Inselreich zu verdanken. Allerdings wird auch Boris Johnson rasch mit den Realitäten konfrontiert werden. In Handelsverträgen mit dem Commonwealth einen Rettungsanker zu sehen, steht auf schwachen Beinen. Unter den zehn größten Handelspartnern Englands befindet sich nicht ein einziger Commonwealth-Staat. Die geopolitische Relevanz des postkolonialen Staatenclubs ist minimal. Und auf die Special Relationships des Vereinigten Königreichs mit den Vereinigten Staate unter Präsident Donald Trump zu vertrauen, ist bei dessen Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit ein Risikofaktor und kein Standbein.