Die EU-Wahl wird in mehrfacher Hinsicht Klarheit schaffen: Am 25. Mai steht fest, ob die beiden großen Europa-Fraktionen EVP und SPE weiterhin ihre klare Parlamentsmehrheit behalten und/oder ob die europakritischen bis – ablehnenden Gruppierungen massiv an Terrain aufholen können.
[[image1]]Die schätzungsweise 200 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die vom Wahlrecht Gebrauch machen werden, haben weiters die Entscheidung zu fällen, ob die Rechte wie bisher stärkste politische Kraft in der Union bleiben soll oder ob künftig die Linke das Kommando übernehmen darf. Schließlich geht es um die nicht unwichtige Frage, wer José Manuel Barroso als oberster Repräsentant des Alten Kontinents nachfolgen soll.
Europa steht jedenfalls eine höchst spannende Richtungswahl bevor, bei der nicht nur 751 Abgeordnete, davon 18 Österreicher, gekürt werden, sondern zugleich die oberste Spitzenfunktion in Brüssel vergeben wird. Für den Topjob auf Augenhöhe mit den Mächtigsten der Welt kommen – sofern an dem im Vertrag von Lissabon beschlossenen Prozedere nicht noch gerüttelt wird – zwei Kandidaten mit recht unterschiedlichem Profil in Frage, die eigentlich nur wenig eint: Sehr populär, besonders charismatisch und auffallend dynamisch sind beide leider nicht. Das Duell um Europa, das diesmal – erstmals – der Frontman der stärksten Europa-Fraktion automatisch gewinnen könnte, wird letztendlich von zwei eher farblosen Mittfünfzigern geführt: Der bald 60jährige Luxemburger Jean-Claude Juncker tritt gegen den nur ein Jahr jüngeren Deutschen Martin Schulz an.
Der frühere Langzeit-Regierungschef des kleinen Großherzogtums wurde von der Europäischen Volkspartei (EVP) nominiert, der alles in allem 73 konservativ-bürgerliche Parteien aus 40 Ländern angehören. Sie ist die stärkste Abordnung im EU-Parlament und stellt derzeit, abgesehen vom Präsidenten des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, den Kommissionspräsidenten sowie elf Kommissare, darunter die Vize-präsidenten Viviane Reding und Antonio Tajani. Junckers Gegenspieler Martin Schulz, Präsident des Europa-Parlaments, stand bereits im November als Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) fest. Diese ist als traditionell zweitstärkste Fraktion mit sieben Kommissaren in Brüssel vertreten, darunter die drei Barroso-Stellvertreter Catherine Ashton, Joaquin Almunia und Maros Sefkovic. Die Roten, ein übernationaler Verband aus 33 Mitgliedsparteien aus 27 EU-Staaten, verfügen damit sogar über weniger Kommissionsposten als die Allianz der Liberalen und Demokraten (ALDE), die es auf neun gebracht hat – sie wittern jedoch die Chance, diesmal die Nummer Eins zu werden.
18 Jahre Regierungschef
Für alle rechten und linken Parteien in den 28 Mitgliedsstaaten wird es in den kommenden acht Wochen nicht zuletzt darum gehen, das Profil ihres potenziellen „Mister Europa“ so gut es geht zu schärfen, den in beiden Fällen recht bescheidenen öffentlichen Bekanntheitsgrad zu erhöhen und die beiden Herren ihrer jeweiligen Klientel als erste Wahl ans Herz zu legen. Juncker und Schulz werden unermüdlich durch die Lande touren und beispielsweise bei TV-Live-Konfrontationen aufeinander treffen. So etwa planen ORF und ZDF ein Fernseh-Duell für 8. Mai, die ARD wird die Kontrahenten am 20. Mai vor die Kameras holen, und dazwischen, am 15. Mai, sollen sie in ORF III gemeinsam mit den fünf weiteren Spitzenkandidaten auftreten. Obendrein stehen zahllose Besuche in nahezu allen EU-Hauptstädten am Programm, wobei Schulz sowohl, was das bereit gestellte Budget, als auch die zur Verfügung stehende Zeit anlangt, im Vorteil zu sein scheint: Er ist bereits in Rom, Ljubljana, Wien, Madrid und Kopenhagen aufgetreten und wird demnächst etwa auch Helsinki, Prag, Luxemburg, Paris und Warschau heimsuchen. Selbst-verständlich setzt er stark auf Wahlkundgebungen in seinem Heimatland, wo er so gut wie keine namhafte Stadt auslassen will.
Während die ausgeprägte Stärke sozialdemokratischer Parteien, ihre Anhänger im Bedarfsfall vehement zu mobilisieren, eher für Schulz spricht – immerhin stellen sie in zehn EU-Staaten den Regierungschef, darunter in Frankreich, Italien, Belgien, Tschechien und Österreich – , hofft Juncker unverdrossen auf die europaweite Unterstützung der konservativen Parteien, die immerhin in elf EU-Ländern die erste Geige spielen, u.a. in Deutschland, Polen, Spanien, Portugal und Schweden. Obwohl gerade die Bürgerlichen dafür bekannt sind, im Ernstfall nicht immer einen ge- und entschlossenen Eindruck zu vermitteln, rief der Luxemburger den Delegierten nach seiner Kür pflichtbewusst zu: „Wir werden diese Wahl gewinnen – das garantiere ich Ihnen“.
Am ehesten kann sich Juncker auf persönliche Vorzüge wie viel Erfahrung und diplomatisches Geschick verlassen, womit er den Deutschen klar in den Schatten stellt: Immerhin wurde er nach dem Jusstudium schon mit 28 Jahren Staatssekretär für Arbeit, sieben Jahre später war er dann bereits Minister für Finanzen und Arbeit sowie Gouverneur Luxemburgs bei der Weltbank. Im Gegensatz zum Berufspolitiker Juncker startete Schulz nach einer Buchhändler-Lehre zunächst als Verlagsangestellter, um sodann Mitgesellschafter eines Verlags und Stadtrat in seiner Heimatgemeinde Würselen (Nordrhein-Westfalen) zu werden. 1987 stieg der Deutsche zum Bürgermeister auf, und 1994 wurde er sozialdemokratischer EU-Abgeordneter – übrigens kurz bevor Juncker sein Amt als Premier- und zugleich Finanzminister im Großherzogtum antrat. Als Chef der Christlich Sozialen Volkspartei behauptete er sich bis Dezember 2013 an der Spitze der Regierung, wurde damit Westeuropas längstgedienter Toppolitiker und avancierte obendrein im September 2004 zum Vorsitzenden der Euro-Gruppe, was er bis Jänner vorigen Jahres blieb. Schulz hingegen stieg im Jahr 2000 zum Vorsitzenden der SPD Nordrhein-Westfalen auf und wurde 2004 in Brüssel Fraktionsvorsitzender der SPE sowie etwas später Europa-Beauftragter der deutschen Sozialdemokraten.
Anders als Juncker, der jahrelang an vorderster Front für das Überleben des Euro bzw. gerne möglichst öffentlich gegen die große Krise kämpfte und sich dank wichtiger Auftritte zumindest in Fachkreisen einen Namen machen konnte, agierte der deutsche EU-Exponent in dieser Phase weitaus unspektakulärer und unauffälliger. Trotzdem schaffte er es, seinen Lebenslauf mit einem absoluten Highlight aufzupeppen: Im Jänner 2012 wurde Schulz Präsident des Europäischen Parlaments – und alsbald neigte sich die schillernde Karriere Junckers ihrem Ende zu. Im Jänner 2013 trat der Luxemburger, scheinbar bereits etwas geschlaucht, als Boss der Euro-Gruppe zurück, und nach den Parlamentswahlen in seiner Heimat musste er nach 18 Jahren auch das Regierungsamt aufgeben und sich mit der Funktion des Oppositionsführers begnügen.
Die Union als Vision
Martin Schulz hingegen verstand es, in schwierigen Zeiten karrieremäßig Vollgas zu geben: Er verfasste beispielsweise das Buch „Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance“, genoss eine Reihe von Auszeichnungen – der dreifache Ehrendoktor kann neben dem Bundesverdienstkreuz 1.Klasse etwa auch auf das Große Goldene Ehrenzeichen mit Stern für Verdienste um die Republik Österreich sowie das Offizierskreuz der französischen Ehrenlegion stolz sein – , und er empfahl sich cleverer Weise als beinahe konkurrenzloser Top-Kandidat der Sozialdemokraten für die EU-Wahl. Neben Angela Merkel will er offensichtlich als zweiter, wenn auch anders gefärbter Deutscher die Geschicke Europas maßgeblich mitbestimmen.
Sein Programm für ein besseres Europa ist auf fünf, allerdings eng beschriebenen Din A4-Seiten zusammengefasst, die Schulz-Visionen können auf zehn Punkte komprimiert werden (Text im Original):
1. Ein Europa, das wirtschaftlich dynamisch ist und in die Zukunft investiert.
2. Ein Europa, das gute Jobs schafft und faire Löhne sichert. Durch einen Pakt für Mindestlöhne. Und durch gleiche Bezahlung für Männer und Frauen.
3. Ein Europa, das die Jugendarbeitslosigkeit in den nächsten fünf Jahren deutlich reduziert.
4. Ein Europa, das unsere gemeinsame Währung stärkt. Damit wir im globalen Wettbewerb unseren Wohlstand verteidigen.
5. Ein Europa, das Steuerhinterziehung und Steuerbetrug endlich entschieden bekämpft. Und die Bürgerinnen und Bürger vor der Zockerei von Banken und Spekulanten besser schützt.
6. Ein Europa, das beim Klima- und Umweltschutz wieder Weltspitze ist. Indem es auf erneuerbare Energien setzt.
7. Ein Europa, das die Rechte der Verbraucher stärkt und unsere persönlichen Daten besser schützt.
8. Ein Europa, das mehr Demokratie wagt und die EU-Bürokratie in Schranken weist.
9. Ein Europa, das Vielfalt respektiert und nur regelt, was nicht besser auf lokaler, regionaler oder staatlicher Ebene geregelt werden kann.
10. Ein Europa, das seine Grundidee von Frieden, sozialer Sicherheit und Wohlstand erneuert. Und diese Werte gegenüber den anderen Weltregionen behauptet.
Der Top-Parlamentarier und zweifache Familienvater, der in fünf Sprachen zu parlieren vermag und rhetorisch durchaus passabel abschneidet, möchte jedenfalls signalisieren, dass der Union eine Wende bevorstehen müsse, damit sie den vielfältigen Aufgaben gerechter wird als bisher und mehr Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern schafft. Er hat es nunmehr mit einem gestandenen Krisenmanager auf Europa-Ebene zu tun, der seinen EU-Job nicht so schlecht erledigt und sich eine durchaus positive Nachred‘ gesichert hat: Allerdings gilt Juncker, der sich fließend in Englisch, Deutsch und Französisch verständlich machen kann, letztlich als ein hochdekorierter Big Player der Vergangenheit. Er erhielt für seine Leistungen ebenfalls schon eine lange Liste an Ehrungen, darunter selbstverständlich das Große Goldene Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich. Juncker fordert automatisch Dinge ein, die alles andere als neu, aber immer noch Wunschträume sind – Budgetkonsolidierung und Bürokratieabbau etwa, Kampf gegen Arbeitlosigkeit, auch mehr Wettbewerbsfähigkeit und mehr Innovationskraft etc. Und betont indes auch: „Wir sind nicht die Partei der blinden Sparmaßnahmen, Privatisierung und Deregulierung“. Der sozialpolitisch engagierte Christdemokrat hat bei unzähligen EU-Ministerratstreffen und Gipfelkonferenzen jedenfalls gelernt, wie man Kompromisse erzielt – oder verhindert. Im Gegensatz zum deutschen Rivalen würde er sich dabei, nachdem er aus einem Zwergenstaat kommt, wohl niemals dem Verdacht aussetzen, für Großmachtpolitik zu stehen.
Abgesehen von ihren Wahlprogrammen, die teilweise bloß aus mehr oder minder hübsch klingenden Stehsätzen bestehen, sind die beiden Kontrahenten an persönlichen, allerdings kaum quantifizierbaren Eigenschaften wie Führungsstärke, Kreativität, Reformfreude, Überzeugungskraft oder Durchsetzungsfähigkeit zu messen. Die große Frage wird sein, wem die Wählerinnen und Wähler diebezüglich mehr zutrauen. Hoffentlich bleibt letztlich derjenige Sieger, der künftig beispielsweise besser mit Barack Obama auf Augenhöhe reden, besser mit Chinas Staatschef Xi Jinping verhandeln oder Russlands aktuellem Minusmann Wladimir Putin besser Paroli bieten würde. Es wäre schrecklich, wenn das keiner von beiden schafft – da hätte nämlich gleich Barroso im Amt bleiben können …