Ja, Donald Tusk und Jean-Claude Juncker haben absolut recht. Nur haben sie es viel zu spät erkannt: Der Ausstieg der Briten aus der EU ist nicht nur für die Briten ganz schlecht, er wird vielmehr auch für das verbleibende Europa „negative Konsequenzen“ haben. Deshalb haben sie jetzt begonnen, doch noch für einen Verbleib der Briten in der EU zu werben. Aber ihre Erkenntnis kommt nicht nur viel zu spät. Es gibt noch ein zweites, viel schlimmeres Defizit.
Denn hinter ihren lyrischen Worten – Ihre Herzen seien „offen“ für die Briten – stehen keine Taten. Ganz im Gegenteil. Vor allem Juncker begeistert sich gleichzeitig viel stärker für die deutsch-französische Annäherung in Richtung auf eine noch viel engere Union, in Richtung auf einen gemeinsamen Finanzminister, in Richtung auf noch mehr Leistungen der Nettozahler, in Richtung auf noch viel mehr Milliarden, die unter dem skurrilen Titel „Investivbudget“ in die Daueralimentationsländer rund ums Mittelmeer fließen sollen. Skurril deshalb, weil eine echte Investition ja immer auch einen Ertrag brächte, was aber die etwa nach Sizilien geflossenen Milliarden auch nach mehr als 70 Jahren nicht tun, ebensowenig wie das in Griechenland versenkte Geld.
Dieses von Frankreich und Deutschland anvisierte Europa, das in den Brüsseler Köpfen von Juncker bis hinunter zu einem Karas seit langem als Ziel feststeht, ist das absolute Gegenteil von dem, was die Briten wollen. Was auch Niederländer oder Dänen wollen. Jeweils Bürger samt Regierungen. Und neuerdings auch das Gegenteil von dem, was der österreichische Regierungschef will. Daher ist es wenig überraschend, dass die britische Regierungschefin May jetzt einen Schulterschluss mit Sebastian Kurz versucht, während dessen Begegnungen mit der deutschen und französischen Machtspitze ja trotz aller diplomatischen Höflichkeiten eher unterkühlt ausgefallen sind. Angela Merkel und der junge Konservative aus Wien werden nicht mehr warm miteinander.
Kurz ist hingegen auf ähnlicher Linie wie May: Konzentration der Union auf wenige wichtigen Dinge, auf die gemeinsame Sicherheit, auf die Reduktion der Migrantenströme, auf die Sicherung der Außengrenzen, auf die Abschiebung abgewiesener Asylwerber. Nichts davon steht jedoch in Brüssel mit Vorrang auf dem Fahrplan.
Die Briten haben vor allem mit dem zentralistischen Obrigkeitsdenken der Brüsseler Institutionen und der unbeschränkten Personenfreizügigkeit innerhalb der EU ein Problem. Aber auch in diesen Bereichen denkt man in Brüssel (oder Berlin) keine Sekunde an Kompromisse. Das zeigt: Juncker und Tusk haben nette Worte gefunden, aber nichts begriffen.
Das zeigt sich auch an zwei aktuellen österreichischen Beispielen.
Das eine ist die nun sich breit machende Formulierung in den großen EU-Ländern: Österreich werde „genauer beobachtet“, es werde an seinen Taten gemessen. Ja, was ist denn das für ein Ton! Österreich ist nicht der schlimme Bub in der Schule, der genauer beobachtet werden muss, sondern gleichberechtigtes Mitglied einer Union. Und Österreichs Regierung sagt ja auch nicht öffentlich, es werde die deutsche Regierung genauer „beobachten“, ob sie wieder eine so katastrophale Asylpolitik betreibt wie zuletzt (daher wird es im Übrigen auch langsam Zeit, dass sich Österreich etwas deutlicher gegen diesen Ton äußert).
Das andere ist die Absicht der schwarz-blaue Regierung, die Familienbeihilfen für nicht in Österreich lebende Kinder an die – oft viel niedrigeren – Lebenshaltungskosten in den jeweiligen Wohnländern der Kinder anpassen. Sofort wird ihr aber nicht nur von der Opposition, sondern auch von EU-Instanzen bedeutet: Njet, das geht nicht, das verstößt gegen EU-Recht.
Dieses Njet ist aber äußerst merkwürdig: Denn der Wunsch Österreichs entspricht genau dem, was Großbritannien vor dem Brexit-Referendum von der EU nicht nur verlangt, sondern auch zugesagt erhalten hatte. Ein seltsam unterschiedliches Verhalten. Für diese Diskrepanz gibt es daher genau zwei Erklärungsmöglichkeiten:
- Die EU-Exponenten haben die Briten angeschwindelt, haben ihnen etwas in Aussicht gestellt, was EU-rechtlich ohne Änderung der Primärverträge gar nicht möglich ist (und ein europaweiter Konsens unter allen 28 Mitgliedern über deren Änderung ist absolut auszuschließen).
- Oder aber: Brüssel wäre bereit, dem großen Großbritannien etwas einräumen, was sie dem kleinen Österreich nicht zu gewähren bereit ist.
Beide Varianten sind in gleicher Weise mies. Das erkennt man nun offenbar auch in Brüssel und drückt sich derzeit um eine klare Antwort auf die österreichischen Wünsche herum.
Ein ähnliches Problem ist das Insistieren Brüssels und Berlins auf dem Projekt einer zwangsweisen „Flüchtlings“-Aufteilung auf alle EU-Länder. Gewiss, dieses Projekt ist am Höhepunkt der jüngsten Völkerwanderungswelle mit Mehrheit angenommen worden, daher rechtlich gültig. Inzwischen hat es sich aber in mehrfacher Hinsicht als Schwachsinn erwiesen.
- Erstens weil gemäß diesem Beschluss von Italien und Griechenland „Flüchtlinge“ auch auf die im Verhältnis zu ihrer Größe viel stärker belasteten Länder Österreich und Deutschland umverteilt werden sollen, was schlicht absurd ist.
- Zweitens, weil man die Migranten innerhalb der EU auf Grund der Freizügigkeit ja ohnedies nicht dauerhaft an ein Land binden kann.
- Drittens, weil man solcherart an Stelle des einzig klugen Umgangs mit den illegalen Migranten – nämlich der möglichst raschen Wiederabschiebung – ein weiteres Signal schickt, dass sie letztlich wohl dauerhaft hier bleiben können.
- Und viertens, weil zumindest in diesem Punkt die osteuropäischen Visegrad-Staaten ganz genauso denken, wie es Briten und Österreicher heute tun, womit durch diesen Aufspaltungsbeschluss also eine Spaltung quer durch Europa droht.
Solange die EU-Größen weiterhin laute Signale eines solchen Insistierens auf der Flüchtlings-Umverteilung und eines Verlangens nach einer immer engeren, Einheitsstaat-ähnlichen Union ertönen lassen, können sie nicht ernstlich erwarten, dass diese in jenen Ländern, die das keinesfalls wollen, überhört werden.
Es wäre noch aus einem weiteren Grund überaus gut und wichtig, wenn die Briten drinnen blieben. Sie wären nämlich ein dringend notwendiger Gegenpol zu den Staatsintervenierern in vielen anderen Ländern (auch in Österreich). Das hat man beispielsweise jetzt wieder am konsequenten Vorgehen der britischen Regierung bei der Megapleite der großen Baufirma Carrillion gesehen. Denn London hat sich geweigert, die Firma mit Steuergeld zu „retten“. Es hat also genau das getan, was auch in anderen EU-Ländern bei großen Pleiten am Platz wäre. Aber nie ist. Was etliches an der riesigen Staatsschulden erklärt.
Die Briten haben auch zu Recht gesundes Misstrauen gegenüber dem EU-Gerichtshof. Denn dieser hat eine Rechtsauffassung entwickelt, die ihm praktisch die Einmischung in alle Fragen erlaubt. Wie der (belgische) EuGH-Präsident Koen Lenaerts dieser Tage wieder betonte, stünden über den konkreten Regeln der EU „Prinzipien“ und über diesen wieder gemeinsame „Werte“.
Wer aber die EU diffus als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes“ definiert, und wer zugleich behauptet, „das Recht“ (ohne jede nähere Definition!!) stünde über den Verträgen, nimmt in Wahrheit für sich eine allumfassende, geradezu totalitäre Kompetenz in Anspruch. Mit dieser können sich Kommission, Parlament und Gerichtshof in jedes Detail einmischen, sodass den Einzelstaaten immer mehr jeder Spielraum geraubt wird. Die Institutionen glauben einfach, alles besser zu wissen und können als die nationalstaatlichen Eigenbrötler. Sie haben nur das Pech, dass die Bürger in den Mitgliedsstaaten das immer weniger so sehen.
Diese Bürger – mit den Briten an der Spitze – wollen ein solches Europa nämlich immer weniger. Sie wollen vielmehr eines, das sich wie in seinen ersten Jahrzehnten auf vertraglich streng definierte Aufgaben beschränkt, beschränken muss. Sie wollen weiterhin die primäre Souveränität bei den Nationalstaaten. In den ersten Jahrzehnten hat das EU/EWG/EG-Europa als Binnenmarkt mit voller Freiheit für Güter, Dienstleistungen, Kapital und (arbeitenden!!) EU-Bürger genau deshalb so wunderbar funktioniert, weil es sich in allen anderen Fragen außerhalb des Binnenmarktes voll zurückgehalten hat. Und genau deswegen stößt die heutige EU auf immer mehr Ablehnung, weil sie sich viel zu viel einmischt.
Dabei zweifelt niemand, dass alle EU-Akteure ja ohnedies nur das Beste für ihre Untertanen wollen (Welcher Herrscher der Geschichte hat das nicht von sich geglaubt und gesagt?). Aber dennoch wollen halt die Polen lieber selbst über ihre Nationalparks bestimmen; wollen die Österreicher selbst entscheiden, wer an ihren Unis gratis studieren darf; wollen die Briten selbst regeln, wer sich auf den Inseln niederlassen darf. Und so weiter.
Die Menschen fühlen sich halt in ihrer großen Mehrheit primär als Polen, Österreicher, Briten und erst sekundär als Europäer. Auch wenn das von einigen linken Dummköpfen als böser Nationalismus denunziert wird. Je mehr die EU sich da überall einmischt, wo in Wahrheit der eigene Bürgermeister, Landeshauptmann oder Regierungschef als oberste Behörde genügen würde (oder noch besser die direkte Demokratie der Betroffenen), umso fremder wird die EU den Menschen. Der große Gleichmacher wird immer verhasster.
Solange die Mächtigen Europas das alles nicht begreifen, arbeiten sie am Untergang Europas. Egal, ob ihr innerster Antrieb wirklich nur guter Wille oder doch die in der Politik fast immer anzutreffende Lust an der Macht ist. Die wahre Ursache der europäischen Krise sind sie und nicht die Le Pens, die einfach den wachsenden Unmut der Bürger spüren und ausnutzen wollen.