Auf die Entscheidung der Europäischen Kommission vom 6. März 2017, Ungarn zu erlauben, den 12,5 Mrd. teuren Ausbau seines Atomkraftwerks Paks II mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren, reagierte Österreich heftig und wies darauf hin, dass es diese staatliche Beihilfe als unzulässig erachte. [1] Regierungsamtliche Stellen denken sogar darüber nach, gegen diese Entscheidung der Kommission eine Nichtigkeitsklage beim Gerichtshof einzubringen, wie dies zuletzt ja auch im Falle des britischen Atomkraftwerks Hinkley Point C der Fall war.
1. Einführung
Wenngleich es sich in den erwähnten beiden Verfahren vordergründig um beihilfenrechtliche Probleme handelt, geht es in Wirklichkeit darum, dass Österreich bezüglich grenznaher Atomkraftwerke eine besondere Sensibilität entwickelt hat, ist es doch von einer Reihe nahegelegener atomarer Anlagen zur Energieerzeugung umgeben, deren technologische Ausstattung, vor allem in den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL), großteils auf veralteter russischer Technologie beruht, daher nicht immer dem letzten Stand der Technik entspricht und dementsprechend auch störanfällig ist. [2]
Ungarn kann sich beim Ausbau seiner Atomkraftwerke auf zwei „nuklearenergiefreundliche“ Bestimmungen in den Verträgen stützen. Auf der einen Seite stellt der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) fest, [3] dass das Recht eines Mitgliedstaates, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen, grundsätzlich unberührt bleibt. Mit anderen Worten heißt das, dass ein Mitgliedstaat seinen „Energiemix“ eigenständig so gestalten kann, wie er will. Der Rat kann allerdings in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren einstimmig Maßnahmen erlassen, die die Wahl eines Mitgliedstaats zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung erheblich berühren. [4]
Auf der anderen Seite geht der Euratom-Vertrag (EAGV) sogar von der grundsätzlichen Überlegung der Förderung der Kernenergie – als „saubere“ Energieform – aus und bestimmt, dass die Mitgliedstaaten „die Investitionen zu erleichtern und, insbesondere durch Förderung der Initiative der Unternehmen, die Schaffung der wesentlichen Anlagen sicherzustellen (haben), die für die Entwicklung der Kernenergie in der Gemeinschaft notwendig sind“. [5]
Ungarn ist allerdings nicht in der Lage, die Endlagerung seines atomaren Abfalls selbständig sicherzustellen – im Oktober 2008 wurde in Bataapati, rund 180 km südwestlich von Budapest, ein Lager für schwach- und mittelradioaktiven Abfall eröffnet, ein Endlager ist zwar bei Boda in den Mecsek-Bergen geplant, dessen Inbetriebnahme soll aber erst im Jahr 2047 erfolgen [6] – und muss daher den Atommüll in die Russländische Föderation verbringen, mit allen damit verbundenen (sicherheits-)politischen Konsequenzen.
Auch im Bereich der Haftung gibt es grundsätzliche Probleme, kommen beim Betrieb von Atomkraftwerken, als besonders gefährliche Aktivitäten („ultra hazardous activities“) – im Gegensatz zum allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz der Verschuldenshaftung – ausnahmsweise die Kriterien der Erfolgshaftung zum Tragen, sodass der Haftungsfall viel leichter und schneller entstehen kann, da der bloße Eintritt einer Schädigung genügt und kein subjektives Verschulden dafür nachgewiesen werden muss. Dass dabei, selbst bei „mittelgroßen“ atomaren Unfällen, die nicht den Umfang eines GAU wie in Tschernobyl (1986) oder Fukushima (2011) erreichen, enorme Schadensersatzleistungen anfallen können, ist offenkundig.
Bevor auf die mit dem Aufbau von Paks II entstehenden Probleme näher eingegangen werden kann, muss aber ein kurzer Blick auf die Umstände geworfen werden, die in Österreich zu einer besonderen Sensibilität gegenüber der Verwendung von Atomkraft zur Erzeugung elektrischer Energie geführt haben.
2. Österreichs besondere Sensibilität gegenüber Atomkraftwerken
Österreich ist von einer Reihe relativ grenznaher AKW in einigen MOEL – wie zB Bohunice (Slowakei), Mochovce (Slowakei), Dukovany (Tschechien), Temelín (Tschechien), Krsko (Slowenien) und Paks (Ungarn) – umgeben, die zum Teil auf veralteter sowjetischer bzw. russischer Technologie beruhen und durch die Nachrüstung durch moderne Technologien (Westinghouse etc.) zu „hybriden“ Anlagen geworden sind, was diese grundsätzlich aber nicht wesentlich sicherer gemacht hat, wie eine Reihe von Störfällen belegt. Die in der österreichischen Bevölkerung tief verwurzelte Abneigung gegen die Kernenergie zur Elektrizitätsgewinnung hat in diesem Zusammenhang nicht nur zur Erlassung einer Reihe von einschlägigen Gesetzen – wie zB dem Atomsperrgesetz (1978) [7], dem Atomhaftungsgesetz (1998) [8] und dem BVG für ein atomfreies Österreich (1999) [9] – sondern auch zum Abschluss bilateraler Abkommen mit den drei Nachbarstaaten Tschechien, [10] Slowakei [11] und Slowenien [12] über die nukleare Sicherheit und den Strahlenschutz sowie eines Abkommens mit Ungarn [13] zur Regelung von Fragen gemeinsamen Interesses in Zusammenhang mit kerntechnischen Anlagen geführt. Darüber hinaus ist Österreich mit diesen vier Nachbarstaaten über das im Schoß der IAEA am 11. November 2010 abgeschlossene multilaterale „Übereinkommen über nukleare Sicherheit“ verbunden. [14]
Aber nicht nur bei grenznahen AKW oder solchen, die in den Nachbarstaaten betrieben werden, kommt die Sensibilität Österreichs gegenüber Bau und Betrieb von Kernkraftwerken zum Tragen, sondern auch gegenüber den anderen 68 AKW in den 17 europäischen Staaten – wovon alleine 14 in neun Mitgliedstaaten der EU situiert sind – die über AKW verfügen. [15] Paradebeispiel dafür ist der Ausbau von Hinkley Point C, einem AKW in Großbritannien (Somerset), das 2023 an das Netz gehen und eine Laufzeit von 60 Jahren haben soll. Österreich brachte am 6. Juli 2015 beim Gericht eine Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 Abs. 2 AEUV gegen den Genehmigungsbeschluss der Kommission [16] in Bezug auf die vom Vereinigten Königreich geplante staatliche Beihilfe ein, die sich auf zehn Klagegründe stützte [17], über die bis jetzt aber noch nicht entschieden wurde.
Daneben versuchte Österreich aber auch durch zivilrechtliche Klagen gegen das radioaktive Gefährdungspotential grenznaher AKW vorzugehen – wie zB im Fall des AKW Temelín – die aber nicht erfolgreich waren. So scheiterte die vorbeugende Immissionsabwehrklage des Landes Oberösterreich gegen die Betreibergesellschaft (CEZ) des AKW Temelín im Jahre 2006 vor dem EuGH. [18]
3. Der jüngste Problemfall: Paks II
Im ungarischen Paks, 100 km südlich von Budapest am rechten Donauufer in Zentralungarn gelegen, wurde bereits Anfang August 1974 mit dem Bau des ersten Reaktor-Doppelblocks (Paks-1) begonnen. In der Folge ging Ende Dezember 1982 der erste und Anfang August 1984 der zweite Reaktorblock (Paks-2) in Betrieb. Anfang Oktober 1979 wurde mit den Bauarbeiten zum zweiten Doppelblock mit den Reaktoren Paks-3 und Paks-4 begonnen, die Ende September 1986 bzw. Mitte August 1987 ihren Betrieb aufnahmen. Bei allen vier Reaktorblöcken handelt es sich um Hochrisikoreaktoren ohne Containment, bei denen sowjetische Reaktoren des Typs WWER-440/V213 der zweiten Generation zum Einsatz kamen. [19] Nach einer Nachrüstung durch das russische Unternehmen Atomstroiexport wurde zum einen die Bruttoleistung der beiden Doppelblocks von Paks I auf über 500 MW erhöht, und zum anderen Ende 2012 die ursprüngliche Betriebsdauer von 30 Jahren um weitere 20 Jahre verlängert, sodass sich die Abschaltung der vier Rektoren von Paks I auf die Jahre 2032 bzw. 2034 verschob. Die enorme Bedeutung von Paks I für den ungarischen Strommarkt geht allein schon daraus hervor, dass Paks I im Jahre 2014 53,59 Prozent des ungarischen Strombedarfs abdeckte. [20]
Nachdem die 1998 begonnenen Planungen für einen Neubau von Paks II aus innenpolitischen Gründen wieder eingestellt werden mussten, erfolgte im April 2009 ein Grundsatzbeschluss des ungarischen Parlaments, [21] der den Bau von zwei 1.000 MW-Reaktoren am Standort Paks vorsah – die 2020 ans Netz gehen sollten – und in der Folge zur Anbotserstellung von einigen Unternehmen führte. Völlig überraschend trafen in der Folge der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und der russische Präsident Wladimir Putin am 14. Jänner 2014 eine Übereinkunft über die Modernisierung und Erweiterung von Paks I, die durch die Föderale Agentur für Atomenergie Russlands (RosAtom) vorgenommen werden sollte, der das ungarische Parlament am 6. Februar 2014 mit 256 zu 29 Stimmen zustimmte. Am 10. Februar 2014 stimmte auch Staatspräsident János Áder zu.
Für den Bau der vorgesehenen zusätzlichen zwei Reaktorblöcke (Druckwasserreaktoren AES 2006 mit je 1.200 MW) sicherte Russland die Finanzierung durch einen Kredit von über 3.600 Mrd. Forint (ca. 11 Mrd. Euro) zu – der rund 80 Prozent der Baukosten von 12,5 Mrd. Euro abdecken würde [22] – ebenso wie auch die Übernahme der Lieferung und den Abtransport des radioaktiven Brennmaterials. [23] Der russische Kredit soll bis 2046, mit einer Verzinsung von 4,95 Prozent, zurückgezahlt werden, wobei die Rückzahlung im Jahr 2026 beginnen soll. Auf einem weiteren Zusammentreffen zwischen Orbán und Putin am 2. Februar 2017 erklärte letzterer, dass Russland erforderlichenfalls durchaus bereit sei, auch die gesamte Finanzierung von Paks II zu übernehmen. [24]
Am 14. Jänner 2014 unterzeichneten die ungarische und die russische Regierung den Vertrag über den Neubau der beiden Reaktorblöcke Paks II, die eine Leistung von jeweils 1.200 MW besitzen und in den Jahren 2025/2026 ans Netz gehen sollen. Dabei erfolgte die Vergabe des Bauauftrags an RosAtom nicht nur ohne öffentliche Ausschreibung sondern der Leiter der Staatskanzlei der Regierung Orbán III, János Lázár, erklärte am 3. März 2015, dass bestimmte Details des Vertrages wegen „nationaler Sicherheitsinteressen“ für 30 Jahre geheim gehalten werden würden. [25]
Aufgrund der nicht erfolgten Ausschreibung der Errichtung der beiden Reaktorblöcke Paks II leitete die Kommission Mitte November 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV ein, das allerdings am 17. November 2016 wieder eingestellt wurde. [26] In einem weiteren Verfahren prüfte die Kommission aber noch den Umstand, ob die Kreditvergabe unter Umständen eine unzulässige staatliche Subvention Ungarns darstellen könnte.
4. Keine unzulässige Beihilfengewährung für Paks II
Im Mai 2015 meldete Ungarn seine geplante Investition in den Bau zweier Kernreaktoren [VVER 1200 (V491)] auf dem Gelände von Paks bei der Europäischen Kommission zwecks Prüfung nach den entsprechenden Beihilfevorschriften an, wobei es ausführte, dass das Vorhaben deswegen keine verbotene staatliche Beihilfe iSv Art. 107 AEUV darstelle, da die Bauführung von einem beliebigen privaten Unternehmen unter ähnlichen Bedingungen ebenso durchgeführt werden könnte.
Die Kommission leitete am 23. November 2015 eine eingehende beihilfenrechtliche Untersuchung ein, [27] die zunächst ergab, dass Ungarn eine geringere Rendite auf seine Investition akzeptieren würde, als dies ein privater Kapitalgeber tun würde. Dementsprechend stellt die Investition Ungarns in den Ausbau von Paks II grundsätzlich eine verbotene Beihilfe iSv Art. 107 Abs. 1 AEUV dar, die nur dann genehmigt werden kann, wenn sie auf das zur Erreichung der angestrebten Ziele erforderliche Maß beschränkt und darüber hinaus auch noch angemessen ist.
Ungarn wies in diesem Zusammenhang aus der Sicht der Kommission schlüssig nach, dass die Fördermaßnahmen keine übermäßigen Wettbewerbsverzerrungen auf dem ungarischen Energiemarkt verursachen und machte diesbezüglich eine Reihe einschlägiger Verpflichtungszusagen, wie zB dass
– alle mit Paks II erzielten Gewinne dafür eingesetzt werden, um den Investitionsbetrag an Ungarn zurückzuzahlen oder um die normalen Betriebskosten von Paks II zu decken; auch werden die Gewinne nicht für den Ausbau weiterer Kapazitäten verwendet;
– um eine Marktkonzentration zu vermeiden, wird Paks II sowohl funktionell als auch rechtlich von seinem Betreiber, der MVM-Gruppe, sowie dessen etwaigen Nachfolgern, getrennt sein;
– um die Liquidität des Strommarktes zu gewährleisten, wird Paks II mindestens 30 Prozent seiner gesamten Stromerzeugung an der offenen Strombörse verkaufen. Der verbleibende Teil wird zu objektiven, transparenten und nicht-diskriminierenden Konditionen im Wege von Auktionen verkauft. [28]
Aufgrund dieser Verwendungszusagen Ungarns zur Begrenzung von Wettbewerbsverzerrungen am Strommarkt durch Paks II sah sich die Kommission veranlasst, das Ende November 2015 eingeleitete Beihilfenprüfungsverfahren am 6. März 2017 zu beenden und die staatlichen Beihilfen für den Ausbau von Paks II zu genehmigen. Da auch, wie vorstehend erwähnt, das Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen der nicht erfolgten Ausschreibung der Bauführung von Paks II eingestellt wurde, steht der Errichtung von Paks II nichts mehr entgegen. Bereits Ende 2016 wurde das UVP-Verfahren positiv abgeschlossen, [29] sodass einer Betriebsstätten-Genehmigung nichts mehr im Wege steht.
5. Schlussbetrachtung
Da es den einzelnen Staaten unionsrechtlich frei steht, welchen „Energiemix“ sie für ihre Energieversorgung wählen wollen, kommt es hinsichtlich der Verwendung von Kernenergie zur Stromerzeugung auf den jeweiligen Staat bzw. die Einstellung von dessen Bevölkerung zur Atomkraft an. Die Bandbreite reicht hier von einer totalen Ablehnung (Österreich) über einen sukzessiven Ausstieg aus der Atomenergie, wie im Falle der Bundesrepublik Deutschland, [30] bis hin zu einem forcierten Ausbau bzw. sogar Neubau von AKW, wie zB. im Vereinigten Königreich und in Ungarn. Während die Atomenergie-Gegner die Entscheidungen der Kommission in den Fällen Hinkley Point C und Paks II als verheerendes Präjudiz im Hinblick auf den Ausbau von erneuerbaren Energieformen sowie als Anlass für die Beförderung eines negativen Subventionswettlaufs im gesamten europäischen Stromsektor qualifizieren, sehen die Befürworter der Kernenergie die Atomkraft nach wie vor als die „sauberste“ Energieform an.
Österreich steht in diesem Zusammenhang, nach seinen traumatischen Erfahrungen im Zuge der geplanten Errichtung des AKW Zwentendorf, eindeutig auf Seiten der Atomkraftgegner und hat dies auch mit dem Erlass der vorstehend erwähnten Bestimmungen des Atomsperrgesetzes (1978), des Atomhaftungsgesetzes (1998) und des BVG für ein atomfreies Österreich (1999) legistisch nachdrücklich zum Ausdruck gebracht. Da der basisdemokratische Widerstand gegen den weiteren Ausbau der Wasserkraft mehr und mehr zunimmt, setzt Österreich gegenwärtig verstärkt auf Windkraft, die 2014 erstmals die Atomkraft an errichteter Leistung im Bereich der Energieerzeugung in der EU überholt hat. [31]
Es bleibt abzuwarten, ob Österreich auch dieses Mal gegen die beihilfenrechtliche Entscheidung der Kommission zugunsten von Paks II eine Nichtigkeitsklage einbringen wird, wie es das bereits gegen den Genehmigungsbeschluss der Kommission im Falle von Hinkley Point C gemacht hat. Konsequenterweise ist eine solche Klage aber in Kürze zu erwarten, wie dies auch Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner mehr oder weniger deutlich mit folgenden Worten angekündigt hat: „Österreich hat absolut kein Verständnis, wenn die EU-Kommission Subventionen für den Bau von AKW einfach als unbedenklich einstuft“. Dies sei das „völlig falsche Signal. Daher werden wir rechtliche Schritte prüfen und gegebenenfalls den Europäischen Gerichtshof anrufen“. [32]
Sollte dies tatsächlich der Fall sein, läge es an Österreich, nachzuweisen, dass es sich bei der Subventionierung von Paks II nicht um eine (genehmigungsfähige) Investitionsbeihilfe iSv Art. 107 Abs. 3 lit. c) AEUV, sondern um eine veritable Betriebsbeihilfe handelt, die mit dem EU-Beihilfenrecht im Lichte der Judikatur des EuGH an sich unvereinbar ist.