Sensationen hat es bei den EU-Wahlen in 28 Ländern nur wenige gegeben – einen Denkzettel für die Union sehr wohl: Dass es lediglich 43 Prozent der Wahlberechtigten der Mühe Wert befunden haben, von ihrem Wahlrecht Gebrauch und bei irgendeiner Liste ihr Kreuzel zu machen, ist für die EU gewiss ebenso beschämend wie für die rund 200 Millionen Europäerinnen und Europäer, die den Urnengang aus Desinteresse einfach ignoriert haben.
[[image1]]Mit Ausnahme von Belgien und Luxemburg, wo die Wahlbeteiligung 90 Prozent betrug, gibt es über die übrigen EU-Ländern wenig Erfreuliches zu berichten: Am ehesten, dass sich die Wählerinnen und Wähler in jenen Staaten, die am stärksten von der Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen waren, diesmal überdurchschnittlich engagiert zeigten – in Irland, Griechenland und Italien sind diesmal immerhin zwischen 50 und 60 Prozent wählen gegangen.
In Österreich haben von 6,4 Millionen Wahlberechtigten laut vorläufigem Endergebnis nur 2,9 Millionen ihre Stimme abgegeben – rund 86.000 davon waren ungültig. Das bedeutet: Seit 1996, als noch zwei von drei Bürgerinnen und Bürgern am damaligen EU-Urnengang teilgenommen hatten, sackte die Wahlbeteiligung auf nunmehr 45 Prozent ab. Damit liegt die Republik zwar, knapp hinter Deutschland und knapp vor Frankreich, im statistischen Mittelfeld, aber es ist nur ein schwacher Trost, dass es in 17 Staaten noch schlechter gelaufen ist. Obzwar in diversen Ländern – etwa in Großbritannien, Spanien, der Bundesrepublik oder Frankreich – ein tendenziell stärkeres Engagement bei der Europa-Wahl zu registrieren war als im Jahr 2009, ist es letztlich eine Schande, dass die Nicht-Wähler, denen Brüssel offenbar völlig egal ist, die mit Abstand stärkste Gruppierung bilden – eine schweigende Majorität. Den Vogel schoss diesbezüglich die Slowakei ab, wo gleich 87 von 100 Stimmberechtigten nicht zur Wahl zu bewegen waren. Sehr enttäuschend war die katastrophale Wahlbeteiligung auch in Tschechien, Slowenien, Polen, Kroatien und Ungarn.
Für den Wahlsieger Jean-Claude Juncker von der Europäischen Volkspartei, dessen Fraktion mit etwa 213 Mandaten rechnen kann, heißt das folgendes: Der Luxemburger, der im Match um den Job als Kommissionspräsident noch längst nicht siegreich ist, hat lediglich 28,4 Prozent der Stimmen bzw. nur etwas mehr als 50 Millionen Menschen hinter sich, um fortan als Boss von 507 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürgern fungieren zu dürfen. Und das nennt sich Demokratie. Daraus lässt sich allerdings folgendes ableiten: Wenn so viele Europäer nicht begreifen wollen, dass der alle fünf Jahre stattfindende Urnengang von eminenter Bedeutung ist, weil 751 Abgeordnete zu wählen sind, die gemeinsam mit dem Ministerrat europäische Gesetzgeber sind, die demokratische Kontrolle über die EU-Institutionen ausüben, sowie über den EU-Haushalt entscheiden, dann muss man sich eben etwas einfallen lassen. Wenn schon die beinahe inflationären Appelle der meisten Politiker, doch zur Wahl zu gehen, nichts fruchten, wird man das Volk künftig gezielt mobilisieren müssen, was am besten mittels europaweit verordneter Wahlpflicht funktionieren könnte. So nach dem Motto: Es ist nicht nur Dein demokratiepolitisches Recht, zu wählen, sondern auch Deine bürgerliche Pflicht – vergleichbar mit der Schulpflicht, der Wehrpflicht oder der Steuerpflicht.
Sanfter Druck, aber keine Sanktionen
In Österreich gab es früher eine verpflichtende Stimmenabgabe bei der Wahl des Bundespräsidenten, in manchen Bundesländern aber auch für Nationalrats- und Landtagswahlen. Diese Spielregel wurde allerdings – offenbar weil der Gesetzgeber niemanden bevormunden wollte – schrittweise wieder abgeschafft und verschwand 1992 komplett von der Bildfläche. In deutlich mehr als 30 anderen Ländern existiert die Wahlpflicht bis heute: etwa in Belgien, Luxemburg, Liechtenstein und Italien, in nahezu allen Staaten Südamerikas, weiters in Australien, der Türkei, in Indonesien und Indien, aber auch auf den Philippinen, in Libyen, Ägypten und auf Kuba sowie – was für ein Hohn – selbst in Nordkorea. Vielfach handelt es sich dabei bloß um eine formelle Wahlpflicht, die bei Zuwiderhandeln keineswegs zu Sanktionen führt, in einigen Fällen wird Wahlmüdigkeit indes tatsächlich mit Geld- und sonstigen Strafen geahndet: In der Türkei beispielsweise müssen Nicht-Wähler umgerechnet 130 Euro blechen, in Bolivien droht ihnen der sofortige Einzug des Personalausweises, und in Australien werden bei wiederholtem Fernbleiben von Wahlen sogar Gefängnisstrafen verhängt.
Auch wenn selbst die als Edel-Demokraten abgestempelten Schweizer, die unermüdlich auch über irgendwelche nebensächlichen Detailprobleme abstimmen müssen, bei Nationalratswahlen lediglich eine relativ bescheidene Wahlbeteiligung schaffen – 2011 etwa gingen nicht einmal 50 Prozent der Eidgenossen hin – , würde eine EU-weite Wahlpflicht durchaus Sinn machen: Die allgemeine Politikverdrossenheit würde vermutlich sinken, was beispielsweise dazu führen könnte, dass es populistische, opportunistische und extremistische Gruppierungen, die primär von unzufriedenen Protestwählern leben, beim stimmenfang weitaus schwerer hätten als zur Zeit. Der nahezu überall schrumpfenden Motivation zahlloser Menschen, zur Wahl zu gehen, wäre durch den sanften Druck der Wahlpflicht Einhalt zu gebieten, wobei übrigens der Gesetzgeber erst gar keine Strafmaßnahmen vorsehen sollte. Es ginge in erster Linie darum, dass sich die bislang von Brüssel aus „unerreichbaren“ Bürgerinnen und Bürger von Irland bis Zypern mehr mit dem Thema Europäische Union und damit ihrer eigenen Zukunft zu befassen hätten.
Mehr Demokratie in Europa
Wunderdinge wären zwar von einer allgemeinen Wahlpflicht nicht unbedingt zu erwarten, aber eines ist evident: Beim nächsten Mal mehr, womöglich auch besser informierte Wählerinnen und Wähler zum Ausfüllen des Stimmzettels zu bewegen, hieße automatisch: mehr Demokratie in Europa. Und wenn es gelänge, die Wahlbeteiligung beim nächsten EU-Votum an jene von nationalen Wahlen heranzuführen – in Österreich stimmten im vergangenen Herbst immerhin drei von vier wahlberechtigten Personen ab, bei den deutschen Bundestagswahlen betrug die Wahlbeteiligung zuletzt 71,5 Prozent -, wäre das ein demokratiepolitischer Triumph ersten Ranges. Daher sollte sich auch niemand beschweren, unbedingt wählen zu müssen – Wahlpflicht darf beileibe nicht als Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen gesehen werden, sondern als eine Art moralische Verpflichtung.
Man kann zusammenfassend sagen, es gab keine Überraschungen in der EU und eine positiv zu verzeichnende Wende in der Ukraine. Insbesondere dort weckte der deutliche Sieg (fast 56%) des Schokoladen-Milliardärs Viktor Poroschenko unter den Investoren die Hoffnung auf eine baldige Stabilisierung der Lage in dem gespaltenen Land.
So war in Kiew bei guter Wahlbeteiligung die Freude groß. Auch mit Vitali Klitschko als neuem Bürgermeister wird man dort zufrieden sein. Im Osten des Landes hingegen herrscht weiter die Angst vor den Separatisten, die in Donezk gar den Zugang zu den Wahllokalen komplett versperrten. Die Wahlbeteiligung in der Ost-Ukraine von gerade einmal 30% dürfte Ausdruck des Desasters sein. Dennoch, das Land wird nun einen rechtmäßig gewählten Präsidenten bekommen und ist damit zumindest handlungsfähig, um die Wirtschaft überhaupt wieder in Gang zu bringen.