Der Barista im Hafen von Otranto heißt Valerio. „Hier ist es ruhiger geworden.“ sagt er. „Sie nehmen jetzt andere Wege. Aber sie kommen. Immer noch.“
Vor der kleinen Bar steht ein modernes Kunstwerk, das viele Besucher der Kleinstadt am Absatz des italienischen Stiefels links liegen lassen. Die Touristen kommen, um die beschauliche, weiß getünchte Stadt in Apulien am Ionischen Meer zu sehen. Sie besichtigen die Kathedrale mit ihrem Mosaikfußboden aus dem 12. Jahrhundert und die Reliquien der 800 Märtyrer von Otranto. 1480 hatten Türken diese angeblich hingerichtet, weil sie nicht bereit gewesen waren ihrem Glauben abzuschwören.
Über 500 Jahre danach kamen wieder Menschen von der gegenüberliegenden Küste, aus Albanien. Bilder des Schiffes „Vlora“ sind gerade wieder um die Welt gegangen. Aber anders als oft dargestellt, war die Vlora 1991 gekommen, nicht 2015. Die 10.000 Albaner, die damals versucht hatten in Bari zu landen, waren von der Regierung Andreotti abgewiesen und „repatriiert“ worden. Damit war die Stunde der Organisierten Kriminalität gekommen: in den Jahren danach florierte der Menschenhandel, albanische Schlepper und die Mafia teilten sich einen immer größer werdenden Kuchen.
1997 ertranken vor Otranto 81 Menschen, mehrheitlich Frauen und Kinder. Costas Varotsos hat ihnen ein Denkmal errichtet: die „Kater I Rades“, ihr Todesschiff, ein völlig verrosteter Kutter, der eingezwängt wirkt in grünliche Glasscheiben, die die Wellen des Meeres darstellen. Es soll an den „täglichen Holocaust im Mittelmeer“ erinnern, dessen Zeugen wir sind.
Selektives Interesse der Öffentlichkeit
„Damals waren wir allein mit dem Problem. Jetzt kann niemand mehr wegsehen.“, drückt Valerio seine Verachtung für das selektive Interesse einer Öffentlichkeit aus, die erst aufgeschreckt wurde, als Flüchtlinge in Massen in das Innere von Mitteleuropa vorgedrungen waren, bis nach Skandinavien und auf die Britischen Inseln.
Die Berichterstattung über Flüchtlinge im Mittelmeer ist spärlicher geworden angesichts der kilometerlangen Kolonnen, die über Griechenland, über den Balkan, durch Serbien und Ungarn kommen. Die Zahl derer, die täglich ihr Leben zur See riskieren, ist es nicht. 137.000 waren es laut aktuellem UNHCR-Bericht im ersten Halbjahr 2015 – gegenüber 75.000 im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Der Zustrom an Albanern nach Italien ist inzwischen vergleichsweise vernachlässigbar, ihre Zahl bleibt seit Jahren konstant. „Sie haben Konkurrenz bekommen“ meint Valerio und seufzt. Tatsache ist, dass die apulische Küste unter Kontrolle der Küstenwacht zu sein scheint. Vielleicht sind jene Albaner, die kommen wollten, ohnehin schon da oder weitergereist. Sicher sind die 70 Kilometer bis zur Balkanküste ein größeres Problem als die näher gelegenen EU-Anlaufstellen auf Malta, auf Lampedusa und natürlich vor allem in Griechenland. Manche Gestrandete werden als billige Lohnsklaven doch noch nach Apulien gebracht, wo sie bei der Wein- und Olivenernte aushelfen, für einen Hungerlohn.
Die Toten auf den Meeren sind jedenfalls die immer zu spät Erblickten, trotz unübersehbarer Zeichen für ein Versagen nicht nur aller Verantwortlichen in ihren Herkunftsländern. Sie zeigen auch auf, dass Europa sich überfordert gibt angesichts einer der größten Krisen der Menschheit.
Think Tank sieht Lösungsszenarien
Dabei gibt es Modelle, die Lösungen für die unmittelbaren Probleme beinhalten: ESI (European Stability Initiative) ist ein Think Tank mit Sitz in Berlin, Brüssel und Istanbul, der die Entwicklung in Südosteuropa sehr genau beobachtet, kommentiert und Szenarien anbietet. Inzwischen wird ESI auch in den Kabinetten in Washington und Berlin angehört. Chairman ist Gerald Knaus, ein Österreicher, der ESI gegründet hat und leitet.
Wie einem aktuellen Vorschlagsbericht von ESI zu entnehmen ist, könnte jedenfalls eine gewisse Entspannung erreicht werden.
Menschen müssen nicht im Mittelmeer ertrinken – so lautet der ESI Plan
Deutschland verpflichtet sich, in den nächsten zwölf Monaten 500.000 Flüchtlinge aus Syrien zu übernehmen (was ohnedies Teil der Agenda ist). Diese Flüchtenden werden vorerst in der Türkei untergebracht, von wo sie Visa-Anträge stellen können.
Flüchtlinge, die auf den Inseln Griechenlands ankommen, werden in die Türkei gebracht, wofür eine Vereinbarung zwischen Ankara und der EU eine Voraussetzung wäre. Die Flüchtlingslager in der Türkei werden von dem UNHCR als vorbildlich bezeichnet.
Anerkannte Flüchtlinge werden geordnet nach Deutschland gebracht, per Flug oder in Zügen und Bussen.
Dies würde die unzähligen Opfer zur See und den Menschenschmuggel weitgehend beenden – und die Zeit drängt, denn der Winter und die dann noch viel rauere See nahen. Es würde die unakzeptable Lage in Griechenland in relativ kurzer Zeit entspannen. Darüber hinaus geht es um die Bewältigung des ohnehin Unabänderlichen – niemand hält einen Rückgang der Menschenströme für realistisch.
Bewältigung ist vor allem eine psychologische Herausforderung
All das beinhaltet große logistische Herausforderungen in Europa, vor allem in Deutschland. Diese Herausforderungen bleiben jedoch nicht geringer, wenn der ungeordnete Strom an Menschen anhält. Erdogan würde von einer solchen Entwicklung ohne Zweifel profitieren. Aber die Türkei ist nun einmal der Fokus strategischer Perspektiven, und ohne sie ist ein Fortschritt in der Bewältigung der Flüchtlingstragödie nicht vorstellbar.
Dass selbst die enormen Zahlen an Schutzsuchenden volkswirtschaftlich überschaubar sind, ja sogar eine Chance für die Zukunft unter demografischen Aspekten darstellen, ist den meisten Verantwortlichen klar. Wie sich diese Zukunft so gestalten lässt, dass die europäischen Staaten die Situation psychologisch verkraften, ist wahrscheinlich die größere Herausforderung.
Nichts zu tun ist keine Option
Apulien tat sich schwer mit den allnächtlich anlaufenden Booten, die in den Neunzigern die ersten Flüchtlinge nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa an Land spülten. „Wir haben lange versucht wegzusehen“ meint Valerio, während er eine Caffè-Tasse poliert. „Aber das geht irgendwann nicht mehr. Dann muss man handeln.“
Das Abendland ist auch dort, am Finis Terrae, an einem der Enden Europas, nicht untergegangen, weder 1480 noch danach. Apulien ist eine Traumlandschaft gerade deutschsprachiger Besucherinnen und Besucher geblieben, die dort auf den Spuren Friedrichs II. und Ingeborg Bachmanns reisen. Manche erinnert der rostige Kahn im Hafen Otrantos daran, dass es keine Option ist nichts zu tun.