Gut dreieinhalb Monate vor der Europawahl Ende Mai steht eines fest: Euroskeptische Parteien an beiden Enden des politischen Spektrums können mit einem deutlichen Zuwachs rechnen. Künftig könnten sie bis zu einem Drittel der 751 Abgeordneten des Europäischen Parlaments stellen, so Brüsseler Schätzungen Doch was bedeutet das für Europa?
[[image1]]Zunächst einmal könnte der Wahlkampf sehr viel lebhafter als bisher ausfallen. Bei der vergangenen Europawahl 2009 versuchten die Abgeordneten den wachsenden Einfluss des Europäischen Parlaments in ihren Heimatländern zu verkaufen. Als Wahlkampfthema verfing das nicht. Fünf Jahre später wird die Anti-Europa-Rhetorik der Europaskeptiker eine breitere Debatte erzwingen. Auch die Parteien des Mainstreams werden sich der Frage stellen müssen, in welcher Form Europa noch eine Zukunft hat.
In den Niederlanden plädiert Geert Wilders von der „Partei für Freiheit“ (PVV) bereits offen für einen Austritt seines Landes aus der EU. Der so genannte Nexit würde dem Land bis 2035 zu einer um 10 bis 13 Prozent höheren Wirtschaftsleistung verhelfen, behauptet der Rechtspopulist Wilders. Der niederländische Finanzminister Jeroen Dijsselbloem hat die Studie, auf die sich Wilders beruft, als „Gefälligkeitsgutachten“ bezeichnet.
Wilders Ankündigungen mögen wenig mit der Realität zu tun haben, sie kommen trotzdem gut an. Meinungsforscher geben der PVV gute Chancen, als stärkste Kraft aus der Wahl hervorzugehen. In Frankreich und Griechenland könnten mit dem rechtsgerichteten Front National von Marine Le Pen und der linken Syriza von Alexis Tsipras ebenfalls zwei europakritische Parteien die meisten Stimmen erhalten. In Großbritannien hofft Nigel Farage mit seiner Ukip auf ein ähnlich gutes Abschneiden wie schon 2009, als die Partei mit knapp 17 Prozent der Stimmen auf den zweiten Platz kam noch vor Labour.
Mehr Grillini als österreichische Abgeordnete?
Experten gehen davon aus, dass das Wahlergebnis in den acht größten EU-Staaten entscheidend sein wird. Deutschland, Frankreich, Großbritannien Italien, Spanien, Polen, Rumänien und die Niederlande stellen gemeinsam mehr als drei Viertel der Wähler und rund zwei Drittel der Sitze im Parlament. Sollte der Komiker Beppe Grillo beispielsweise 21, 5 Prozent der Stimmen erhalten, wie das die Demoskopen derzeit prognostizieren, dann würde seine Bewegung M5S in Brüssel und Straßburg 19 Abgeordnete stellen – mehr als alle österreichischen Abgeordneten (18) in der Kammer.
Ein höherer Anteil an Populisten im Europäischen Parlament wird dessen Arbeitsweise nicht unbedingt komplett verändern. Meinungsforscher sagen den beiden größten Gruppen, den Konservativen und den Sozialisten, ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Gemeinsam würden sie immer noch über eine Mehrheit im Europäischen Parlament verfügen. In der ablaufenden Legislaturperiode haben die beiden in 70 Prozent aller Fälle Entscheidungen gemeinsam getragen, oft unterstützt von den Liberalen. Mehrheiten, bei denen sich die Konservativen mit den weiter rechts verordneten Abgeordneten der ECR und den Liberalen zusammen getan haben waren seltener, kamen aber etwa bei der Entscheidung zum „Six-pack“ vor, also der schärferen Überwachung der Wirtschaft der Mitgliedsstaaten durch die Kommission. Seltener schlossen sich auch Sozialisten, Grünen, Linken und Liberalen zusammen, die beispielsweise gemeinsam für eine Ausweitung des Mutterschutzes gestimmt haben.
Die alten Kräfte werden näher aneinander rücken
Beobachter in Brüssel gehen davon aus, dass das Erstarken der populistischen Parteien an den Rändern die Kräfte der Mitte stärker zusammenschweißen wird. Die alteingesessenen Parteien weisen bisher sehr viel mehr Fraktionsdisziplin auf. Vor allem Grüne, Konservative und Sozialisten haben in der zu Ende gehenden Legislaturperiode ein sehr homogenes Abstimmungsverhalten an den Tag gelegt, zeigt eine Studie des Think Tanks Notre Europe. Bei Themen wie Landwirtschaft und Gleichberechtigung ließ die Parteidisziplin allerdings nach. Anders als in nationalen Parlamenten herrscht in der europäischen Kammer kein Fraktionszwang, was zu mehr Abweichlern führt.
Es ist unklar, ob sich die neuen Kräfte zu Fraktionen zusammenschließen sollten. Im wahrscheinlichen Fall, dass es nicht dazu kommt, dürften die Abgeordneten in der kommenden Legislaturperiode wenig Einfluss auf das Geschehen in Brüssel und Straßburg nehmen – auch wenn viel mehr von ihnen präsent sein werden.